Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Fünftes Kapitel

Agathon wird der Günstling des Dionysius

Agathon erfuhr die hauptsächlichsten Begebenheiten, welche den Inhalt des vorhergehenden Kapitels ausmachen, bei einem großen Gastmahl, welches sein Freund der Kaufmann, des folgenden Tages gab, um Agathons Ankunft in Syracus, und seine eigene Wiederkunft feirlich zu begehen. Der Name eines Gastes, der eine Zeit lang den Griechen so viel von sich zu reden gegeben hatte, zog unter andern Neugierigen auch den Philosophen Aristippus herbei, der sowohl wegen der Annehmlichkeiten seines Umgangs, als wegen der Gnade, worin er bei dem Tyrannen stund, in den besten Häusern zu Syracus sehr willkommen war. Dieser Philosoph hatte sich, bei jener großen Migration der schönen Geister aus Griechenland nach Syracus, auch dahin begeben, mehr um einen beobachtenden Zuschauer abzugeben, als in der Absicht, durch parasitische Künste die Eitelkeit des Dionys seinen Bedürfnissen zinsbar zu machen. Agathon und Aristippus hatten einander zu Athen gekannt; aber damals kontrastierte der Enthusiasmus des Ersten mit dem kalten Blut, und der Humoristischen Art zu philosophieren des Andern zu stark, als daß sie einander wahrhaftig hätten hochschätzen können, obgleich Aristipp sich öfters bei den Versammlungen einfand, welche damals aus Agathons Haus einen Tempel der Musen, und eine Akademie der besten Köpfe von Athen machten. Die Wahrheit war, daß Agathon mit allen seinen schimmernden Eigenschaften in Aristipps Augen ein Phantast, dessen Unglück er seinen Vertrauten öfters vorhersagte – und Aristipp mit allem seinem Witz nach Agathons Begriffen ein bloßer Sophist war, den seine Grundsätze geschickter machten, weibische Sybariten noch sybaritischer, als junge Republikaner zu tugendhaften Männern zu machen. Der Eindruck, welcher beiden von dieser ehmals von einander gefaßten Meinung geblieben war, machte sie stutzen, da sie sich nach einer Trennung von drei oder vier Jahren so unvermutet wieder sahen. Es ging ihnen in den ersten Augenblicken, wie es uns zu gehen pflegt, wenn uns deucht, als ob wir eine Person kennen sollten, ohne uns gleich deutlich erinnern zu können, wer sie ist, oder wo und in welchen Umständen wir sie gesehen haben. Das sollte Agathon – das sollte Aristipp sein, dachte jeder bei sich selbst, war überzeugt, daß es so sei, und hatte doch Mühe, seiner eigenen Überzeugung zu glauben. Aristipp suchte im Agathon den Enthusiasten, welcher nicht mehr war; und Agathon glaubte im Aristipp den Sybariten nicht mehr zu finden; vielleicht allein, weil seine Art, Personen und Sachen ins Auge zu fassen, seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung erlitten hatte. Ein Umgang von etlichen Stunden lösete beiden das Rätsel ihres anfänglichen Irrtums auf, zerstreute den Rest des alten Vorurteils, und flößte ihnen Dispositionen ein, bessere Freunde zu werden. Unvermerkt erinnerten sie sich nicht mehr, daß sie einander ehmals weniger gefallen hatten; und ihr Herz liebte den kleinen Selbstbetrug, dasjenige was sie itzt für einander empfanden, für die bloße Erneuerung einer alten Freundschaft zu halten. Aristipp fand bei unserm Helden, eine Gefälligkeit, eine Politesse, eine Mäßigung, welche ihm zu beweisen schien, daß Erfahrungen von mehr als einer Art eine starke Revolution in seinem Gemüte gewürkt haben mußten. Agathon fand bei dem Philosophen von Cyrene etwas mehr als Witz, einen Beobachtungs-Geist, eine gesunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtigkeit der Beurteilung, welche den Schüler des weisen Socrates in ihm erkennen ließen. Diese Entdeckungen flößeten ihnen natürlicher Weise ein gegenseitiges Zutrauen ein, welches sie geneigt machte, sich weniger vor einander zu verbergen, als man bei einer ersten Zusammenkunft zu tun gewohnt ist. Agathon ließ seinem neuen Freunde sein Erstaunen darüber sehen, daß die Hoffnungen, welche man sich zum Vorteil Siciliens von Platons Ansehen bei dem Dionys gemacht, so plötzlich, und auf eine so unbegreifliche Art, vernichtet worden. In der Tat bestund alles was man in der Stadt davon wußte, in bloßen Mutmaßungen, die sich zum Teil auf allerlei unzuverlässige Anekdoten gründeten, welche in Städten, wo ein Hof ist von müßigen Leuten, die sich das Ansehen geben wollen, als ob sie von den Geheimnissen und Intriguen des Hofes vollkommene Wissenschaft hätten, von Gesellschaft zu Gesellschaft herumgetragen zu werden pflegen. Aristipp hatte in der kurzen Zeit, seit dem er sich an Dionysens Hofe aufhielt, die schwache Seite dieses Prinzen, den Charakter seiner Günstlinge, der Vornehmsten der Stadt, und der Sicilianer überhaupt so gut ausstudiert, daß er, ohne sich in die Entwicklung der geheimern Triebfedern (womit wir unsre Leser schon bekannt gemacht haben) einzulassen, den Agathon leicht überzeugen konnte, daß ein gleichgültiger Zuseher von den Anschlägen, Dions und Platons, den Dionys zu einer freiwilligen Niederlegung der monarchischen Gewalt zu vermögen, sich keinen glücklichern Ausgang habe versprechen können. Er malte den Tyrannen von seiner besten Seite als einen Prinzen ab, bei dem die unglücklichste Erziehung ein vortreffliches Naturell nicht habe verderben können; der von Natur leutselig, edel, freigebig, und dabei so bildsam und leicht zu regieren sei, daß alles bloß darauf ankomme, in was für Händen er sich befinde. Seiner Meinung nach war, eben diese allzubewegliche Gemütsart und der Hang für die Vergnügungen der Sinnen die fehlerhafteste Seite dieses Prinzen. Plato hätte die Kunst verstehen sollen, sich dieser Schwachheiten selbst auf eine feine Art zu seinen Absichten zu bedienen; aber das hätte eine Geschmeidigkeit, eine kluge Mischung von Nachgiebigkeit und Zurückhaltung erfordert, wozu der Verfasser des ›Cratylus‹ und ›Timäus‹ niemals fähig sein werde. Überdem hätte er sich zu deutlich merken lassen, daß er gekommen sei, den Hofmeister des Prinzen zu machen; ein Umstand, der schon für sich allein alles habe verderben müssen. Denn die schwächsten Fürsten seien allemal diejenigen, vor denen man am sorgfältigsten verbergen müsse, daß man weiter sehe als sie; sie würden sich's zur Schande rechnen, sich von dem größesten Geist in der Welt regieren zu lassen, so bald sie glauben, daß er eine solche Absicht im Schilde führe; und daher komme es, daß sie sich oft lieber der schimpflichen Herrschaft eines Kammerdieners oder einer Maitresse unterwerfen, welche die Kunstgriffe besitzen, ihre Gewalt über das Gemüt des Herrn unter sklavischen Schmeicheleien oder schlauen Liebkosungen zu verbergen. Plato sei zu einem Minister eines so jungen Prinzen zu spitzfündig, und zu einem Günstling zu alt gewesen; zudem habe ihm seine vertraute Freundschaft mit dem Dion geschadet, da sie seinen heimlichen Feinden beständige Gelegenheit gegeben, ihn dem Prinzen verdächtig zu machen. Endlich habe der Einfall, aus Sicilien eine platonische Republik zu machen, an sich selbst nichts getaugt. Der National-Geist der Sicilianer sei eine Zusammensetzung von so schlimmen Eigenschaften, daß es, seiner Meinung nach, dem weisesten Gesetzgeber unmöglich bleiben würde, sie zur republikanischen Tugend umzubilden; und Dionys, welcher unter gewissen Umständen fähig sei ein guter Fürst zu werden, würde, wenn er sich auch in einem Anstoß von eingebildeter Großmut hätte bereden lassen, die Tyrannie aufzuheben, allezeit ein sehr schlimmer Bürger gewesen sein. Diese allgemeine Ursachen seien, was auch die nähern Veranlassungen der Verbannung des Dion und der Ungnade oder wenigstens der Entfernung des Platon gewesen sein mögen, hinlänglich begreiflich zu machen, daß es nicht anders habe gehen können; sie bewiesen aber auch (setzte Aristipp mit einer anscheinenden Gleichgültigkeit hinzu) daß ein Anderer, der sich die Fehler dieser Vorgänger zu Nutzen zu machen wißte, wenig Mühe haben würde, die unwürdigen Leute zu verdrängen, welche sich wieder in den Besitz des Zutrauens und der Autorität des Tyrannen geschwungen hätten.

Agathon fand diese Gedanken seines neuen Freundes so wahrscheinlich, daß er sich überreden ließ, sie für wahr anzunehmen. Und hier spielte ihm die Eigenliebe einen kleinen Streich, dessen er sich nicht zu ihr vermutete. Sie flüsterte ihm so leise, daß er ihren Einhauch vielleicht für die Stimme seines Genius, oder der Tugend selbsten hielt, den Gedanken zu – wie schön es wäre, wenn Agathon dasjenige zu Stande bringen könnte, was Plato vergebens unternommen hatte. Wenigstens deuchte es ihn schön, den Versuch zu machen; und er fühlte eine Art von ahnendem Bewußtsein, daß eine solche Unternehmung nicht über seine Kräfte gehen würde. Diese Empfindungen (denn Gedanken waren es noch nicht) stiegen, während daß Aristippus sprach, in ihm auf; aber er nahm sich wohl in Acht, ihn das geringste davon merken zu lassen; und lenkte, aus Besorgnis von einem so schlauen Höflinge unvermerkt ausgekundschaftet zu werden, das Gespräch auf andre Gegenstände. Überhaupt vermied er alles, was die Aufmerksamkeit der Anwesenden vorzüglich auf ihn hätte richten können, desto sorgfältiger, da er wahrnahm, daß man einen außerordentlichen Mann in ihm zu sehen erwartete. Er sprach sehr bescheiden, und nur so viel als die Gelegenheit unumgänglich erfoderte, von dem Anteil, den er an der Staats-Verwaltung von Athen gehabt hatte; ließ die Anlässe entschlüpfen, die ihm von einigen mit guter Art (wie sie wenigstens glaubten) gemacht wurden, um seine Gedanken von Regierungs-Sachen, und von den Syracusanischen Angelegenheiten auszuholen; sprach von allem wie ein gewöhnlicher Mensch, der sich auf das was er spricht versteht, und begnügte sich bei Gelegenheit sehen zu lassen, daß er ein Kenner aller schönen Sachen sei, ob er sich gleich nur für einen Liebhaber gab. Dieses Betragen, wodurch er allen Verdacht, als ob er aus besondern Absichten nach Syracus gekommen sei, von sich entfernen wollte, hatte die Würkung, daß die Meisten, welche mit einem Erwartungsvollen Vorurteil für ihn gekommen waren, sich für betrogen hielten, und mit der Meinung weggingen, Agathon halte in der Nähe nicht, was sein Ruhm verspreche: Ja, um sich dafür zu rächen, daß er nicht so war, wie er ihrer Einbildung zu lieb hätte sein sollen, liehen sie ihm noch einige Fehler, die er nicht hatte, und verringerten den Wert der schönen Eigenschaften, welche er entweder nicht verbergen konnte, oder nicht verbergen wollte; gewöhnliches Verfahren der kleinen Geister, wodurch sie sich unter einander in der tröstlichen Beredung zu stärken suchen, daß kein so großer Unterscheid, oder vielleicht gar keiner, zwischen ihnen und den Agathonen sei – und wer wird so unbillig sein, und ihnen das übel nehmen?

Sobald sich unser Mann allein sah, überließ er sich den Betrachtungen, die in seiner gegenwärtigen Stellung die natürlichsten waren. Sein erster Gedanke, sobald er gehört hatte, daß Plato entfernt, und Dionys wieder in der Gewalt seiner ehemaligen Günstlinge und einer neuangekommenen Tänzerin sei, war gewesen, sich nur wenige Tage bei seinem Freunde verborgen zu halten, und sodann nach Italien überzufahren, wo er verschiedne Ursachen hatte zu hoffen, daß er in dem Hause des berühmten Archytas zu Tarent willkommen sein würde. Allein die Unterredung mit dem Aristippus hatte ihn auf andre Gedanken gebracht. Je mehr er dasjenige, was ihm dieser Philosoph von den Ursachen der vorgegangenen Veränderungen gesagt hatte, überlegte; je mehr fand er sich ermuntert, das Werk, welches Plato aufgegeben hatte, auf einer andern Seite, und, wie er hoffte, mit besserm Erfolg, anzugreifen. Von tausend manchfaltigen Gedanken hin und her gezogen, brachte er den größesten Teil der Nacht in einem Mittelstand zwischen Entschließung und Ungewißheit zu, bis er endlich mit sich selbst einig wurde, es darauf ankommen zu lassen, wozu ihn die Umstände bestimmen würden. Inzwischen machte er sich auf den Fall, wenn ihn Dionys an seinen Hof zu ziehen suchen sollte, einen Verhaltungs-Plan; er stellte sich eine Menge Zufälle vor, welche begegnen konnten, und setzte die Maßregeln bei sich selbst feste, nach welchen er in allen diesen Umständen handeln wollte. Die genaueste Verbindung der Klugheit mit der Rechtschaffenheit war die Seele davon. Sein eigner Vorteil kam dabei in gar keine Betrachtung; dieser Punkt lag durch aus zum Grunde seines ganzen Systems; er wollte sich durch keine Art von Banden fesseln lassen, sondern immer die Freiheit behalten, sich so bald er sehen würde, daß er vergeblich arbeite, mit Ehre zurückzuziehen. Das war die einzige Rücksicht, die er dabei auf sich selbst machte. Die lebhafte Abneigung, die er, aus eigener Erfahrung gegen alle populare Regierungs-Arten gefaßt hatte, ließ ihn nicht daran denken, den Sicilianern zu einer Freiheit behülflich zu sein, welche er für einen bloßen Namen hielt, unter dessen Schutz die Edeln eines Volkes und der Pöbel einander wechselweise ärger Tyrannisieren als es irgend ein Tyrann zu tun fähig ist; der so arg er immer sein mag, doch durch seinen eigenen Vorteil abgehalten wird, seine Sklaven gänzlich aufzureiben; – da hingegen der Pöbel, wenn er die Gewalt einmal an sich gerissen hat, seinen wilden Bewegungen keine Grenzen zu setzen fähig ist. Diese Reflexion traf zwar nur die Demokratie; aber Agathon hatte von der Aristokratie keine bessere Meinung. Eine endlose Reihe von schlimmen Monarchen schien ihm etwas, das nicht in der Natur ist; und ein einziger guter Fürst, war, nach seiner Voraussetzung, vermögend, das Glück seines Volkes auf ganze Jahrhunderte zu befestigen; da hingegen (seiner Meinung nach) die Aristokratie anders nicht als durch die gänzliche Unterdrückung des Volks auf einen dauerhaften Grund gesetzt werden könne, und also schon aus dieser einzigen Ursache die schlimmste unter allen möglichen Verfassungen sei. So sehr gegen diese beide Regierungs-Arten eingenommen als er war, konnte er nicht darauf verfallen, sie mit einander vermischen, und durch eine Art von politischer Chemie aus so widerwärtigen Dingen eine gute Komposition herausbringen zu wollen. Eine solche Verfassung deuchte ihn allzuverwickelt, und aus zu vielerlei Gewichtern und Rädern zusammengesetzt, um nicht alle Augenblicke in Unordnung zu geraten, und sich nach und nach selbst aufzureiben. Die Monarchie schien ihm also, von allen Seiten betrachtet, die einfacheste, edelste, und der Analogie des großen Systems der Natur gemäßeste Art die Menschen zu regieren; und dieses vorausgesetzt, glaubte er alles getan zu haben, wenn er einen zwischen Tugend und Laster hin und her wankenden Prinzen aus den Händen schlimmer Ratgeber ziehen; durch einen klugen Gebrauch der Gewalt, die er über sein Gemüt zu bekommen hoffte, seine Denkungs-Art verbessern; und ihn nach und nach durch die eigentümlichen Reizungen der Tugend endlich vollkommen gewinnen könnte. Und gesetzt auch, daß es ihm nur auf eine unvollkommene Art gelingen würde; so hoffte er, wofern er sich nur einmal seines Herzens bemeistert haben würde, doch immer im Stande zu sein, viel gutes zu tun, und viel Böses zu verhindern, und auch dieses schien ihm genug zu sein, um beim Schluß der Aktion mit dem belohnenden Gedanken, eine schöne Rolle wohl gespielt zu haben, vom Theater abzutreten. In diesen sanfteinwiegenden Gedanken schlummerte Agathon endlich ein, und schlief noch, als Aristippus des folgenden Morgens wiederkam, um ihn im Namen des Dionys einzuladen, und bei diesem Prinzen aufzuführen.


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