Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Sechstes Kapitel

Geheime Nachrichten

Wir haben von unserm Freunde Plutarch gelernt, daß sehr kleine Begebenheiten öfters durch große Folgen merkwürdig werden, und sehr kleine Handlungen uns nicht selten tiefere Blicke in das Inwendige der Menschen tun lassen, als die feierlichen Handlungen, wozu man, weil sie dem öffentlichen Urteil ausgesetzt sind, sich ordentlicher Weise in eine gewisse mit sich selbst abgeredete Verfassung zu setzen pflegt. Die Gründlichkeit dieser Beobachtung hat uns bewogen, in der Geschichte der Pantomime, welche das vorige Kapitel ausfüllt, so umständlich zu sein; und wir hoffen uns deshalb vollkommen zu rechtfertigen, wenn wir diese Erzählung durch dasjenige ergänzen, was die liebenswürdige Psyche betrifft, mit welcher der Leser schon im ersten Buche, wiewohl nur im Vorbeigehen, bekannt zu werden angefangen hat. Diese Psyche, so wie sie war, hatte bisher unter allen Wesen, welche in die Sinne fallen, (wir setzen diese Einschränkung nicht ohne Ursach hinzu, so seltsam sie auch in anti-platonischen Ohren klingen mag) den ersten Platz in seinem Herzen eingenommen, und er hatte, seitdem sie von ihm entfernt war, kein Frauenzimmer gesehen, die nicht durch die bloße Erinnerung an Psyche alle Macht über sein Herz und selbst über seine Sinnen verloren hätte; deren Bewegungen, wie man weiß, sonst nicht immer mit den erstern so parallel laufen, als gewisse Romanenschreiber vorauszusetzen scheinen. Die Wahrheit zu gestehen, so war dieses nicht die Würkung derjenigen heroischen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in besagten Romanen zu einer Tugend von der ersten Klasse gemacht wird; Psyche erhielt sich im Besitz seines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr hatte, angenehmer waren, als die Empfindungen, die ihm irgend eine andre Schöne einzuflößen vermocht, oder weil er bisher keine andre gesehen hatte, die so sehr nach seinem Herzen gewesen wäre. Eine Erfahrung von etlichen Jahren beredete ihn, daß es allezeit so sein würde, und daher kam vielleicht die Bestürzung, wovon er befallen wurde, als der erste Anblick der schönen Danae ihm eine Vollkommenheit darstellte, die seiner Einbildung nach allein jenseits des Mondes anzutreffen sein sollte. Er müßte nicht Agathon gewesen sein, wenn diese Erscheinung sich nicht seiner ganzen Seele so sehr bemeistert hätte, wie wir gesehen haben. Niemals, deuchte ihn, hatte er in einem so hohen Grad und in einer so seltnen Harmonie alle diese feinern Schönheiten, von denen gemeine Seelen nicht gerührt zu werden fähig sind, vereiniget gesehen. Ihre Gestalt, ihre Blicke, ihr Lächeln, ihre Gebärden, ihr Gang, alles hatte diese Vollkommenheit, welche die Dichter den Göttinnen zuzuschreiben pflegen. Was Wunder also, daß er in den ersten Stunden nichts als anschauen und bewundern konnte, und daß seine entzückte Seele noch keine Zeit hatte auf dasjenige acht zu geben, was in ihr vorging. In der Tat waren alle ihre übrigen Kräfte so gebunden, daß er wider seine Gewohnheit in dieser ganzen Zeit sich seiner Psyche eben so wenig erinnerte, als ob sie nie gewesen wäre. Allein als die junge Tänzerin zum Vorschein kam, welche die Person der Daphne spielte, so stellte einige Ähnlichkeit, die sie würklich in der Gesichtsbildung und Figur mit Psyche hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne daß er sich dessen deutlich bewußt war, das Bild seiner abwesenden Geliebten vor die Augen; seine Einbildungskraft setzte durch eine gewöhnliche mechanische Würkung Psyche an die Stelle dieser Daphne, und wenn er so vieles an der Tänzerin auszusetzen fand, so war es im Grunde nur darum, weil die Vergleichung den Betrug des ersten Anblicks entdeckte, oder weil sie nicht Psyche war. So gewöhnlich dergleichen Spiele der Einbildung sind, so selten ist es, daß man den Einfluß deutlich unterscheidet, den sie auf unsre Urteile oder Neigungen zu haben pflegen. Agathon selbst, der sich von seiner ersten Jugend an eine Beschäftigung daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern seiner innerlichen Bewegungen nachzuspüren, merkte dennoch nicht eher, was bei diesem Anlaß in seiner Phantasie vorging, bis der Name Psyche, dieser Name, dessen bloßer Ton sonst Musik in seinen Ohren gewesen war, ihn erschütterte, und in eine Verwirrung von Empfindungen setzte, die er selbst zu beschreiben Mühe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die in unsrer Urkunde über diese Stelle liegt, urteilen dürfen. Was auch die Ursache dieser Bestürzung gewesen sein mag, so ist gewiß, daß er weit davon entfernt war nur zu argwohnen, der Genius seiner ersten Liebe stutze vielleicht darüber, eine Nebenbuhlerin in einem Herzen zu finden, welches er von Psyche allein ausgefüllt zu sehen gewohnt war. Sein Selbstbetrug, wofern es anders einer war, scheint desto mehr Entschuldigung zu verdienen, weil dieser geliebte Name würklich in wenig Augenblicken seine ganze Zärtlichkeit rege machte. Er bemerkte nun erst deutlich die Ähnlichkeiten, welche die beiden Psychen mit einander hatten; er verglich sie mit einem Vorurteile, welches der Abwesenden so günstig war, daß die Gegenwärtige ihr nur zum Schatten dienen mußte; ja wir wissen nicht, ob eine so lebhafte Erinnerung nicht endlich der schönen Danae selbst Abbruch getan hätte, wenn diese, gleich als ob sie durch eine Art von Divination erraten hätte was in seiner Seele vorging, nicht auf den glücklichen Einfall gekommen wäre, sich an den Platz der kleinen Tänzerin zu setzen, um die Vorstellung auszuführen, welche sich Agathon von einer idealischen Daphne gemacht, und deren die Geschmeidigkeit ihres Geistes sich so schnell und so glücklich zu bemächtigen gewußt hatte. Einen schlimmern Streich konnte sie in der Tat der einen und der andern Psyche nicht spielen. Beide wurden von ihrem blendenden Glanze, wie benachbarte Sterne von dem vollen Mond, ausgelöscht. Und wie hätte ihn auch das Bild seiner abwesenden Geliebten noch länger beschäftigen können, da alle Anschauungskräfte seiner Seele, auf diesen einzigen bezaubernden Gegenstand geheftet, ihm kaum zureichend schienen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Grazien würklich vor sich sah, zu deren bloßen Schattenbild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte?

Wir wissen nicht, ob man eben ein Hippias sein müßte, um zu glauben, daß gewisse Schönheiten von einer nicht so unkörperlichen, wiewohl in ihrer Art eben so vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon selbst gewahr wurde, zu dieser Verzückung in die idealischen Welten beigetragen haben könnten, worin er während dem pantomimischen Tanz der Danae sich befand. Die Nymphen-mäßige Kleidung, welche dieser Tanz erforderte, war nur allzugeschickt diese Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem mannigfaltigsten Lichte zu entwickeln; und wir müssen gestehen, die Göttin der Liebe selbst hätte sich nicht zuversichtlicher als die untadeliche Danae dem Auge der schärfsten Kenner, ja selbst den Augen einer Nebenbuhlerin, in diesem Aufzug überlassen dürfen. Der Charakter der ungeschminkten Unschuld, welchen sie so unverbesserlich nachahmte, schien dadurch einen noch lebhaftern Ausdruck zu erhalten; aber einen so lebhaften, daß ein jeder andrer als ein Agathon dabei in Gefahr gewesen wäre, die seinige zu verlieren. Freilich hatten die übrigen Zuschauer Mühe genug, sich zu enthalten, die Rolle des Apollo in ganzem Ernste zu machen; aber von unsern Helden hatte Danae nichts zu besorgen; und sie fand, daß Hippias nicht zuviel von ihm versprochen hatte. Diese materiellen Schönheiten, die er nicht einmal deutlich unterschied, weil sie in seinen Augen mit den geistigen in Eins zusammengeflossen waren, mochten den Grad der Lebhaftigkeit seiner Empfindungen noch so sehr erhöhen, so konnten sie doch die Natur derselben nicht verändern; niemals in seinem Leben waren sie reiner, Begierden-freier, unkörperlicher gewesen. Kurz, so widersinnisch es jenen aus gröberm Stoff gebildeten Erdensöhnen, welche in dem vollkommensten Weibe nur ein Weib sehen, scheinen mag, so gewiß war es, daß Danae mit einer Gestalt und in einem Aufzug, welcher (mit dem weisen Hippias zu reden) einen Geist hätte verkörpern mögen, diesen seltsamen Jüngling in einen so völligen Geist verwandelte, als man jemals diesseits und vielleicht auch jenseits des Mondes gesehen hat.


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