Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Aber – o! wie wohl läßt sich jener Solonische Ausspruch, daß man niemand vor seinem Ende glücklich preisen solle, auch auf die Tugend der Heldinnen anwenden! Cleonissa sah den Agathon, und – hörte in diesem Augenblick auf Cleonissa zu sein – Nein, das eben nicht; ob es gleich nach dem Platonischen Sprachgebrauch richtig gesprochen wäre; aber sie bewies, daß die Prinzessinnen, und sie selbst, und ihr Gemahl, und der Hof, und die ganze Welt, den göttlichen Plato mit eingeschlossen, sich sehr geirret hatten, sie für etwas anders zu halten als sie war, und als sie einem jeden mit Vorurteilen unbefangenen Beobachter, einem Aristipp zum Exempel, in der ersten Stunde zu sein scheinen mußte.

Sich über einen so natürlichen Zufall zu verwundern, würde unserm Bedünken nach, eine große Sünde gegen das nie genug anzupreisende Nil admirari sein, in welchem (nach der Meinung erfahrner Kenner der menschlichen Dinge) das eigentliche große Geheimnis der Weisheit, dasjenige was einen wahren Adepten macht, verborgen liegt. Die schöne Cleonissa war ein Frauenzimmer, und hatte also ihren Anteil an den Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geschlecht eigen gemacht hat, und ohne welche diese Hälfte der menschlichen Gattung weder zu ihrer Bestimmung in dieser sublunarischen Welt so geschickt, noch in der Tat, so liebenswürdig sein würde als sie ist. Ja wie wenig Verdienst würde selbst ihrer Tugend übrig bleiben, wenn sie nicht durch eben diese Schwachheiten auf die Probe gesetzt würde?

Dem sei nun wie ihm wolle, die Dame fühlte, so bald sie unsern Helden erblickte, etwas, das die Tugend einer gewöhnlichen Sterblichen hätte beunruhigen können. Aber es gibt Tugenden von einer so starken Komplexion, daß sie durch nichts beunruhiget werden; und die ihrige war von dieser Art. Sie überließ sich den Eindrücken, welche ohne Zutun ihres Willens auf sie gemacht wurden, mit aller Unerschrockenheit, welche ihr das Bewußtsein ihrer Stärke geben konnte. Die Vollkommenheit des Gegenstandes rechtfertigte die außerordentliche Hochachtung, welche sie für ihn bezeugte. Große Seelen sind am geschicktesten, einander Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; und ihre Eigenliebe ist so sehr dabei interessiert, daß sie die Parteilichkeit für einander sehr weit treiben können, ohne sich dadurch besonderer Absichten verdächtig zu machen. Ein so unedler Verdacht konnte ohnehin nicht auf die erhabene Cleonissa fallen; indessen war doch nichts natürlicher, als die Erwartung, daß sie in unserm Helden eben diesen, wo nicht einen noch höhern Grad der Bewunderung erwecken werde, als sie für ihn empfand. Diese Erwartung verwandelte sich eben so natürlich in ein mit Unmut vermischtes Erstaunen, da sie sich darin betrogen sah; und was konnte aus diesem Erstaunen anders werden, als eine heftige Begierde, ihrer durch seine Gleichgültigkeit äußerst beleidigten Eigenliebe eine vollständige Genugtuung zu verschaffen? Auch wenn sie selbst gleichgültig gewesen wäre, hätte sie mit Recht erwarten können, daß ein so feiner Kenner ihren Wert zu empfinden, und eine Cleonissa von den kleinern Sternen, welchen nur in ihrer Abwesenheit zu glänzen erlaubt war, zu unterscheiden wissen werde. Wie sehr mußte sie sich also beleidiget halten, da sie mit diesem edeln Enthusiasmus, womit die privilegierte Seelen sich über die kleinen Bedenklichkeiten gewöhnlicher Leute hinwegsetzen, ihm entgegengeflogen war, und die Beweise ihrer sympathetischen Hochachtung nicht so lange zurückzuhalten gewürdiget hatte, bis sie von der seinigen überzeugt worden wäre? Da es nur von ihrer Eigenliebe abhing, die Größe des Unrechts nach der Empfindung ihres eignen Werts zu bestimmen; so war die Rache, welche sie sich an unserm Helden zu nehmen vorsetzte, die grausamste, welche nur immer in das Herz einer beleidigten Schönen kommen kann. Sie wollte die ganze vereinigte Macht aller ihrer intellektualischen und körperlichen Reizungen, verstärkt durch alle Kunstgriffe der schlauesten Koketterie (wovon ein so allgemeines Genie als das ihrige wenigstens die Theorie besitzen mußte) dazu anwenden, ihren Undankbaren zu ihren Füßen zu legen; und wenn sie ihn durch die gehörige Abwechslungen von Furcht und Hoffnung endlich in den kläglichen Zustand eines von Liebe und Sehnsucht verzehrten Seladons gebracht, und sich an dem Schauspiel seiner Seufzer, Tränen, Klagen, Ausrufungen und aller andern Ausbrüche der verliebten Torheit lange genug ergötzt haben würde – ihn endlich auf einmal die ganze Schwere der kaltsinnigsten Verachtung fühlen lassen. So wohlausgesonnen diese Rache war; so eifrig und mit so vieler Geschicklichkeit wurden die Anstalten dazu ins Werk gesetzt; und wir müssen gestehen, daß wenn der Erfolg eines Projekts allein von der guten Ausführung abhinge, die schöne Cleonissa den vollständigsten Triumph hätte erhalten müssen, der jemals über den Trotz eines widerspenstigen Herzens erhalten worden wäre. Ob diese Dame, wenn Agathon sich in ihrem Netze gefangen hätte, fähig gewesen wäre, die Rache so weit zu treiben als sie sich selbst versprochen hatte? – ist eine problematische Frage, deren Entscheidung vielleicht sie selbst, wenn der Fall sich ereignet hätte, in keine kleine Verlegenheit gesetzt haben würde. Aber Agathon ließ es nicht so weit kommen. Er legte eine neue Probe ab, daß es nur einer Danae gegeben war, die schwache Seite von seinem Herzen ausfündig zu machen. Cleonissa hatte bereits die Hälfte ihrer Künste erschöpft, ehe er nur gewahr wurde, daß ein Anschlag gegen ihn im Werke sei; und von dem Augenblick, da er es gewahr wurde, stieg sein Kaltsinn, nach dem Verhältnis wie ihre Bemühungen sich verdoppelten, auf einen solchen Grad; oder deutlicher zu reden, der Absatz, den ihre zuletzt bis zur Unanständigkeit getriebene Nachstellungen mit der affektierten Erhabenheit ihrer Denkungs-Art, und mit der Majestät ihrer Tugend machten, tat eine so schlimme Würkung bei ihm, daß die schöne Cleonissa sich genötiget sah, die Hoffnung des Triumphs, womit sich ihre Eitelkeit geschmeichelt hatte, gänzlich aufzugeben. Die Wut, in welche sie dadurch gesetzt wurde, verwandelte sich nach und nach in den vollständigsten Haß, der jemals (mit Shakespear zu reden) die Milch einer weiblichen Brust in Galle verwandelt hat. Alles was sie ihrer Tugend in diesen Umständen zu tun gab, war, die Bewegungen dieser Leidenschaft so geschickt zu verbergen, daß weder der Hof noch Agathon selbst gewahr wurde, mit welcher Ungeduld sie sich nach einer Gelegenheit sehnte, ihn die Würkungen davon empfinden zu lassen.

In dieser Situation befanden sich die Sachen, als Dionys, des ruhigen Besitzes der immer gefälligen Bacchidion, und ihrer Tänze überdrüssig, sich zum ersten mal einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleonissa schön sei. Er hatte sie noch nicht lange mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet, so deuchte ihn, daß er noch nie keine so schöne Kreatur gesehen habe; und nun fing er an sich zu verwundern, daß er diese Beobachtung nicht eher gemacht habe. Endlich erinnerte er sich, daß die Dame sich jederzeit durch eine sehr spröde Tugend und einen erklärten Hang für die Metaphysik unterschieden hatte; und nun zweifelte er nicht mehr, daß es dieser Umstand gewesen sein müsse, was ihn verhindert habe, ihrer Schönheit eher Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Eine Art von maschinalischer Ehrfurcht vor der Tugend, die von seiner Indolenz und der furchtbaren Vorstellung herkam, welche er sich von den Schwierigkeiten sie zu besiegen in den Kopf gesetzt hatte, würde ihn vielleicht auch diesesmal in den Grenzen einer untätigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht einer von diesen kleinen Zufällen, welche so oft die Ursachen der größesten Begebenheiten werden, seine natürliche Trägheit auf einmal in die ungeduldigste Leidenschaft verwandelt hätte. Da dieser Zufall jederzeit eine Anekdote geblieben ist, so können wir nicht gewiß sagen, ob es (wie einige Sicilianische Geschichtschreiber vorgeben) der nämliche gewesen, wodurch in neuern Zeiten die Schwester des berühmten Herzogs von Marlborough den ersten Grund zu dem außerordentlichen Glück ihrer Familie gelegt haben soll; oder ob er sie vielleicht von ungefähr in dem Zustand überrascht haben mochte, worin der Actäon der Poeten das Unglück hatte, die schöne Diana zu erblicken. Das ist indessen ausgemacht, daß von dieser geheimen Begebenheit an, die Leidenschaft und die Absichten des Dionys einen Schwung nahmen, wodurch sich die Tugend der allzuschönen Cleonissa in keine geringe Verlegenheit gesetzt befand, wie sie in einer so schlüpfrigen Situation dasjenige, was sie sich selbst schuldig war, mit den Pflichten gegen ihren Prinzen vereinigen wollte. Dionys war so dringend, so unvorsichtig – und sie hatte so viele Personen in Acht zu nehmen – sie, die in jedem andern Frauenzimmer eine Nebenbuhlerin hatte, und bei jedem Schritt von hundert eifersüchtigen Augen belauret wurde, welche nicht ermangelt haben würden, den kleinsten Fehltritt, den sie gemacht hätte, durch eben so viele Zungen der ganzen Welt in die Ohren flüstern zu lassen. Auf der einen Seite, ein von Liebe brennender König zu ihren Füßen, bereit eine unbegrenzte Gewalt über ihn selbst und über alles was er hatte, um die kleinste ihrer Gunstbezeugungen hinzugeben – auf der andern, der glänzende Ruhm einer Tugend, welche noch kein Sterblicher für fehlbar zu halten sich unterstanden hatte, das Vertrauen der Prinzessinnen, die Hochachtung ihres Gemahls – Man muß gestehen, tausend andre würden sich zwischen zweien auf so verschiedene Seiten ziehenden Kräften nicht zu helfen gewußt haben. Aber Cleonissa wußte es, ob sie sich gleich zum ersten mal in dieser Schwierigkeit befand, so gut, daß der ganze Plan ihres Betragens sie schwerlich eine einzige schlaflose Nacht kostete. Sie sah beim ersten Blick, wie wichtig die Vorteile waren, welche sie in diesen Umständen von ihrer Tugend ziehen konnte. Das nämliche Mittel, wodurch sie ihren Ruhm sicher stellen, und die Freundschaft der Prinzessinnen erhalten konnte, war unstreitig auch dasjenige, was den unbeständigen Dionys, bei dem vorsichtigen Gebrauch der erforderlichen Aufmunterungen, auf immer in ihren Fesseln behalten würde. Sie setzte also seinen Erklärungen, Verheißungen, Bitten, Drohungen, (zu den feinern Nachstellungen war er weder zärtlich noch schlau genug) eine Tugend entgegen, welche ihn durch ihre Hartnäckigkeit notwendig hätte ermüden müssen, wenn das Mitleiden mit dem Zustand, worein sie ihn zu setzen gezwungen war, sie nicht zu gleicher Zeit vermocht hätte, seine Pein durch alle die kleinen Palliative zu lindern, welche im Grunde für eine Art von Gunstbezeugungen angesehen werden können, ohne daß gleichwohl die Tugend, bei einem Liebhaber wie Dionys war, dadurch zuviel von ihrer Würde zu vergeben scheint. Die zärtliche Empfindlichkeit ihres Herzens – die Gewalt welche sie sich antun mußte, einem so liebenswürdigen Prinzen zu widerstehen – die stillschweigenden Geständnisse ihrer Schwachheit, welche zu eben der Zeit, da sie ihm den entschlossensten Widerstand tat, ihrem schönen Busen wider ihren Willen entflohen – o! tugendhafte Cleonissa! Was für eine gute Aktrice warest du! – Was hätte Dionys sein müssen, wenn er bei solchen Anscheinungen die Hoffnung aufgegeben hätte, endlich noch glücklich zu werden?

Inzwischen war, ungeachtet aller Behutsamkeit, welche Cleonissa, und Dionys selbst gebrauchte, die Leidenschaft dieses Prinzen, und die unüberwindliche Tugend seiner Göttin, ein Geheimnis, welches der ganze Hof wußte, wenn man schon nicht dergleichen tat, als ob man Augen oder Ohren hätte. Cleonissa hatte die Vorsicht gebraucht, die Schwestern des Prinzen, von dem Augenblicke, da sie an seiner Leidenschaft nicht mehr zweifeln konnte, zu ihren Vertrauten zu machen; diese hatten wieder im Vertrauen alles seiner Gemahlin entdeckt, und die Gemahlin seiner Mutter. Die Prinzessinnen, welche seine bisherigen Ausschweifungen immer vergebens beseufzet, und besonders gegen die arme Bacchidion einen Widerwillen gefaßt hatten, wovon sich kein andrer Grund, als die launische Denkungs-Art dieser Damen angeben läßt, waren erfreut, daß seine Neigung endlich einmal auf einen tugendhaften Gegenstand gefallen war. Die ausnehmende Klugheit der schönen Cleonissa machte ihnen Hoffnung, daß es ihr gelingen würde, ihn unvermerkt auf den rechten Weg zu bringen. Cleonissa erstattete ihnen jedes mal getreuen Bericht von allem was zwischen ihr und ihrem Liebhaber vorgegangen war – oder doch von allem, was die Prinzessinnen davon zu wissen nötig hatten; alle Maßregeln, wie sie sich gegen ihn betragen sollte, wurden in dem Cabinet der Königin abgeredet; und diese gute Dame, welche das Unglück hatte, die Kaltsinnigkeit ihres Gemahls gegen sie lebhafter zu empfinden, als es für ihre Ruhe gut war, gab sich alle mögliche Bewegungen, die Bemühungen zu befördern, welche von der tugendhaften Cleonissa angewandt wurden, den Prinzen in die Schranken der Gebühr zurückzubringen. Alles dieses machte eine Art von Intrigue aus, bei welcher, ungeachtet der anscheinenden Ruhe, der ganze Hof in innerlicher Bewegung war. Der einzige Philistus, derjenige der am meisten Ursache hatte, aufmerksam zu sein, wußte nichts von allem was jedermann wußte; oder bewies doch wenigstens in seinem ganzen Betragen eine so seltsame Sicherheit, daß wir, wenn uns das außerordentliche Vertrauen nicht bekannt wäre, welches er in die Tugend seiner Gemahlin zu setzen Ursache hatte, fast notwendig auf den Argwohn geraten müßten, als ob er gewisse Absichten bei dieser Aufführung gehabt haben könnte, welche seinem Charakter keine sonderliche Ehre machen würden.

Alles ging wie es gehen sollte; Dionys setzte die Belagerung mit der äußersten Hartnäckigkeit und mit Hoffnungen fort, welche der tapfre Widerstand der weisen Cleonissa ziemlich zweideutig machte – die Liebe schien noch wenig über ihre Tugend erhalten zu haben, obgleich diese allmählich anfing, von ihrer Majestät nachzulassen, und zu erkennen zu geben, daß sie nicht ganz ungeneigt wäre, unter hinlänglicher Sicherheit sich in ein geheimes Verständnis, in so fern es eine bloße Liebe der Seele zur Absicht hätte, einzulassen – Die Prinzessinnen sahen mit dem vollkommensten Vertrauen auf die keuschen Reizungen ihrer Freundin, der Entwicklung des Stücks entgegen – und Philistus war von einer Gefälligkeit, von einer Indolenz, wie man niemals gesehen hat: Als Agathon, zum Unglück für ihn und für Sicilien, durch einen Eifer, der an einem Staats-Mann von so vieler Einsicht kaum zu entschuldigen war, sich verleiten ließ, den glücklichen Fortgang der verschiedenen Absichten, welchen Dionys – Cleonissa – die Prinzessinnen – und vielleicht auch Philistus – schon so nahe zu sein glaubten, durch seine unzeitige Dazwischenkunft zu unterbrechen.


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