Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Zweites Kapitel

Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben. Eine Digression

Die Syracusaner waren des Jochs schon zu wohl gewohnt, um einen Versuch zu machen, es nach dem Tode des alten Dionysius abzuschütteln. Es war nicht einmal soviel Tugend unter ihnen übrig, daß einige von denen, welche besser dachten als der große Haufen, und die verächtliche Brut der Parasiten, den Mut gehabt hätten, sich durch diese letztern hindurch bis zu dem Ohre des jungen Prinzen zu drängen, um ihm Wahrheiten zu sagen, von denen seine eigene Glückseligkeit eben so wohl abhing, als die Wohlfahrt von Sicilien. Ganz Syracus hatte nur einen Mann, dessen Herz groß genug hiezu war; und auch dieser würde sich vermutlich in eben diese sichere aber unrühmliche Dunkelheit eingehüllet haben, worein ehrliche Leute unter einer unglückweissagenden Regierung sich zu verbergen pflegen; wenn ihn seine Geburt nicht berechtiget, und sein Interesse genötiget hätte, sich um die Staats-Verwaltung zu bekümmern.

Dieser Mann war Dion, ein Bruder der Stiefmutter des Dionys, und der Gemahl seiner Schwester; der Nächste nach ihm im Staat, und der Einzige, der sich durch seine große Fähigkeiten, durch sein Ansehen bei dem Volke, und durch die unermeßliche Reichtümer, die er besaß, furchtbar und des Projekts verdächtig machen konnte, sich entweder an seine Stelle zu setzen, oder die republikanische Verfassung wiederherzustellen. Wenn wir den Geschichtschreibern, insonderheit dem tugendhaften und gutherzigen Plutarch einen unumschränkten Glauben schuldig wären, so würden wir den Dion unter die wenigen Helden und Champions der Tugend zählen müssen, welche sich, (um dem Plato einen Ausdruck abzuborgen) zu der Würde und Größe guter Dämonen, oder Beschützender Genien und Wohltäter des Menschen-Geschlechts emporgeschwungen haben – welche fähig sind, aus dem erhabenen Beweggrunde einer reinen Liebe der sittlichen Ordnung und des allgemeinen Besten zu handeln, und über dem Bestreben, andere glücklich zu machen, sich selbst aufzuopfern, weil sie unter dieser in die Sinne fallenden sterblichen Hülle ein edleres Selbst tragen, welches seine angeborne Vollkommenheit desto herrlicher entfaltet, je mehr jenes animalische Selbst unterdrückt wird – welche im Glück und im Unglück gleich groß, durch dieses nicht verdunkelt werden, und von jenem keinen Glanz entlehnen, sondern immer sich selbst genugsam, Herren ihrer Leidenschaften, und über die Bedürfnisse gemeiner Seelen erhaben, eine Art von sublunarischen Göttern sind. Ein solcher Charakter fällt allerdings gut in die Augen, ergötzt den moralischen Sinn (wenn wir anders dieses Wort gebrauchen dürfen, ohne mit Hutchinson zu glauben, daß die Seele ein besonderes geistiges Werkzeug, die moralische Dinge zu empfinden habe) und erweckt den Wunsch, daß er mehr als eine schöne Schimäre sein möchte. Aber wir gestehen, daß wir, aus erheblichen Gründen, mit zunehmender Erfahrung, immer mißtrauischer gegen die menschlichen – und warum also nicht gegen die übermenschlichen Tugenden werden.

Es ist wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweise großer Fähigkeiten, und vorzüglich einer gewissen Erhabenheit und Stärke des Gemüts, die man gemeiniglich mit gröbern, weniger reizbaren Fibern und derjenigen Art von Temperament verbunden sieht, welches ungesellig, ernsthaft, stolz und spröde zu machen pflegt. An jede Art von Temperament grenzen wie man weiß, gewisse Tugenden; und wenn es sich noch fügt, daß die Entwicklung dieser Anlage zu demselben durch günstige Umstände befördert wird, so ist nichts natürlichers, als daß sich daraus ein Charakter bildet, der durch gewisse hervorstechende Tugenden blendet, die eben darum zu einer völligern Schönheit gelangen, weil kein innerlicher Widerstand sich ihrem Wachstum entgegensetzt. Diese Art von Tugenden finden wir bei dem Dion in großem Grade: Aber ihm, oder irgend einem andern ein Verdienst daraus machen, wäre eben so viel, als einem Athleten die Elastizität seiner Sehnen, oder einem gesunden blühenden Mädchen ihre gute Farbe und die Wölbung ihres Busens als Verdienste anrechnen, welche ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben sollten. Ja, wenn Dion sich durch diejenige Tugenden vorzüglich unterschieden hätte, zu denen er von Natur nicht aufgelegt war; und wenn er es so weit gebracht hätte, sie mit eben der Leichtigkeit und Grazie auszuüben, als ob sie ihm angeboren wären – aber wie viel daran fehlte, daß er der Philosophie seines Lehrers und Freundes Platon soviel Ehre gemacht hätte, davon finden wir in den eigenen Briefen dieses Weisen, und in dem Betragen Dions in den wichtigsten Auftritten seines Lebens die zuverlässigsten Beweise: Niemals konnte er es dahin bringen, oder vielleicht gefiel es ihm nicht, den Versuch zu machen, und beides läuft auf Eines hinaus, diese Austerität, diese Unbiegsamkeit, diese wenige Gefälligkeit im Umgang, welche die Herzen von sich zurückstieß, zu überwinden. Vergebens ermahnte ihn Plato den Huldgöttinnen zu opfern, und erinnerte ihn, daß Sprödigkeit sich nur für Einsiedler schicke; Dion bewies durch seine Ungelehrigkeit über diesen Punkt, daß die Philosophie ordentlicher Weise uns nur die Fehler vermeiden macht, zu denen wir keine Anlage haben, und uns nur in solchen Tugenden befestiget, zu denen wir ohnehin geneigt sind.

Indessen war er nichts desto weniger derjenige, auf welchen ganz Sicilien die Augen gerichtet hatte. Die Weisheit seines Betragens, seine Abneigung von allen Arten der sinnlichen Ergötzungen, seine Mäßigung, Nüchternheit und Frugalität, erwarben ihm desto mehr Hochachtung, je stärker sie mit der zügellosen Schwelgerei und Verschwendung des Tyrannen kontrastierte. Man sah, daß er allein im Stande war, ihm das Gleichgewicht zu halten, und man erwartete das Beste von ihm, es sei nun daß er sich der Regierung für sich selbst, oder die jungen Söhne seiner Schwester bemächtigen, oder sich begnügen würde, der Mentor des Dionysius zu sein.

Die natürliche Unempfindlichkeit Dions gegen die Reizungen der Wollust, welche den Syracusanern soviel Vertrauen zu ihm gab, blendete in der Folge auch die Griechen des festen Landes, zu denen er sich vor dem Tyrannen zu flüchten genötiget wurde. Selbst die Akademie, diese damals so berühmte Schule der Weisheit, scheint stolz darauf gewesen zu sein, einen so nahen Verwandten des wiewohl unrechtmäßigen Beherrschers von Sicilien, unter ihre Pflegsöhne zählen zu können. Die königliche Pracht, welche er in seiner Lebensart affektierte, war in ihren Augen (so gewiß ist es, daß auch weise Augen manchmal durch die Eitelkeit verfälscht werden) der Ausdruck der innern Majestät seiner Seele; sie schlossen ungefähr nach eben der Logik, welche einen Verliebten von den Reizungen seiner Dame auf die Güte ihres Herzens schließen macht; und sahen nicht, oder wollten nicht sehen, daß eben dieser von den republikanischen Sitten so weit entfernte Pomp ein sehr deutliches Zeichen war, daß es weniger einer Erhabenheit über die gewöhnlichen Schwachheiten der Großen und Reichen, als dem Mangel der Begierden zu zuschreiben sei, wenn derjenige gegen die Vergnügungen der Sinne gleichgültig war, der sich von der Eitelkeit dahinreißen ließ, durch ein Gepränge mit Reichtümern, deren er sich als der Früchte seiner Verhältnisse mit der Familie des Tyrannen vielmehr hätte schämen sollen, unter einem freien Volke sich unterscheiden zu wollen.

Doch, indem ich diese Gelegenheit ergreife, die übertriebene Lobsprüche zu mäßigen, welche an die Günstlinge des Glückes verschwendet zu werden pflegen, sobald sie einigen Schimmer der Tugend von sich werfen; begehre ich nicht in Abrede zu sein, daß Dion, so wie er war, einen Thron eben so würdig erfüllt haben würde, als wenig er sich schickte, mit einem durch die lange Gewohnheit der Fesseln entnervten Volke, in dem Mittelstand zwischen Sklaverei und Freiheit, worein er dasselbe in der Folge durch die Vertreibung des Dionysius setzte, so sanft und behutsam umzugehen, als es hätte geschehen müssen, wenn seine Unternehmung für die Syracusaner und ihn selbst glücklich hätte ausschlagen sollen. Plutarch vergleicht dieses Volk, in dem Zeitpunkt, da es das Joch der Tyrannie abzuschütteln anfing, sehr glücklich mit Leuten, die von einer langwierigen Krankheit wieder aufstehen, und, ungeduldig sich der Vorschrift eines klugen Arztes in Absicht ihrer Diät zu unterwerfen, sich zu früh wie gesunde Leute betragen wollen. Aber darin können wir nicht mit ihm einstimmen, daß Dion dieser geschickte Arzt für sie gewesen sei. Sehr wahrscheinlich hat die platonische Philosophie selbst, von deren idealischer Sitten- und Staats-Lehre er ein so großer Bewunderer war, sehr vieles dazu beigetragen, daß er weniger als ein Andrer, der nicht nach so sehr abgezogenen Grundsätzen gehandelt hätte, zum Arzt eines äußerst verdorbenen Volkes geeigenschaftet war. Vielfältige Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Völkern haben es gewiesen, daß die Dion, die Caton, die Brutus, die Algernon Sidney allemal unglücklich sein werden, wenn sie einen von alten bösartigen Schaden entkräfteten und zerfressenen Staats-Körper in den Stand der Gesundheit wieder herzustellen versuchen. Zu einer solchen Operation gehören viele Gehülfen; und Männer von einer so außerordentlichen Art sind unter einer Million Menschen allein: Es ist genug, wenn das Ziel, wie Solon von seinen Gesetzen sagte, das Beste ist, das in den vorliegenden Umständen zu erreichen sein mag; und Sie wollen immer das Beste, das sich denken läßt: Alle Mittel welche zugleich am gewissesten und bäldesten zu diesem Ziel führen, sind die Besten; und sie wollen keine andre gebrauchen, als welche nach den strengesten Regeln einer oft allzuspitzfündigen Gerechtigkeit und Güte, rechtmäßig und gut sind. »Löblich, vortrefflich, göttlich!« – rufen die schwärmerischen Bewunderer der heroischen Tugend – wir wollten gerne mitrufen, wenn man uns nur erst zeigen wollte, was diese hochgetriebene Tugend dem menschlichen Geschlecht jemals geholfen habe – Dion zum Exempel, von den erhabenen Ideen seines Lehrmeisters eingenommen, wollte dem befreiten Syracus eine Regierungs-Form geben, welche so nah als möglich an die Platonische Republik grenzte – und verfehlte darüber, zu seinem eignen Untergang, die Mittel, ihr diejenige zu geben, deren sie fähig war. Brutus half den Größesten der Sterblichen, den Fähigsten, eine ganze Welt zu regieren, der jemals geboren worden ist, ermorden; weil ihm, in Rücksicht auf die Mittel wodurch er zur höchsten Gewalt gelanget war, die Definition eines Tyrannen zukam. Brutus wollte die Republik wiederherstellen. Noch einen Dolch für den Marcus Antonius, (wie es der nicht so erhaben aber richtiger denkende Cassius verlangte) so wären Ströme von Blut, so wäre das edelste Blut von Rom, das kostbare Leben der besten Bürger gesparet worden, und der glückliche Ausgang der ganzen Unternehmung versichert gewesen. Hätte sich derjenige, der dem vermeinten allgemeinen Besten seines Vaterlandes ein so großes Opfer gebracht hatte als Cäsar war, ein Bedenken machen sollen, seinem majestätischen Schatten einen Antonius nachzuschicken? – Um eine Tat, welche, ohne Sukzeß wie sie blieb, in den Augen seiner Zeitgenossen ein verabscheuungswürdiger Meuchelmord war, und der unparteiischern Nachwelt im gelindesten Lichte betrachtet, wahnsinniger Enthusiasmus scheinen muß, zu einer so glorreichen Unternehmung zu machen, als jemals die große Seele eines Römers geschwellt hatte. Aber Brutus hatte Bedenklichkeiten, welche ihm eine unzeitige Güte eingab; sein Ansehen entschied; Antonius bedankte sich für sein Leben, und begrub den Platonischen Brutus unter den Trümmern, der auf ewig umgestürzten Republik. Was half also sein Platonismus dem Vaterlande? Wir haben uns vielleicht zu lange bei dieser Betrachtung aufgehalten; aber die Beobachtung, die uns dazu verleitet hat, so alt sie ist, scheint uns wichtig und an praktischen Folgerungen fruchtbar, deren Nutzbarkeit sich über alle Stände ausbreiten, und besonders bei denjenigen welche mit der Regierung und moralischen Disziplinierung der Menschen beschäftiget sind, sich vorzüglich äußern würde, wenn sie besser eingesehen und mit eben so viel Redlichkeit als Klugheit angewendet würden. Vielleicht würden die Augen derjenigen, welche weder durch einen Nebel noch durch gefärbte Gläser sehen, mit dem weinerlichlächerlichen Schauspiel von so vielen ehrlichen Leuten verschont bleiben, die aus allen Kräften und mit der feirlichsten Ernsthaftigkeit leeres Stroh dreschen, und wenn sie das ganze Jahr durch gedreschet haben, sich sehr verwundern, daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt – der Patriotische Phlegon würde sich durch den allzuhitzigen Eifer, seine in allen Teilen verdorbene Republik auf einmal durch eben so hitzige Mittel wieder gesund zu machen, nicht so viel Verdruß zuziehen, und durch diesen Verdruß und die Vergeblichkeit seiner undankbaren Bemühungen nicht veranlasset werden, sich zu Tode – zu trinken – Der redliche Macrin würde sich nicht auf Unkosten seiner Freiheit und vielleicht seines Lebens in den Kopf setzen, aus einem Caligula einen Marc Aurel zu machen – Der wohlmeinende Diophant würde einsehen, wie wenig Hoffnung er sich zu machen habe, Leute, welche noch sehr weit entfernt sind erträgliche Menschen zu sein, in eine Engelähnliche Vollkommenheit hinein zu deklamieren – Doch genug von einer Materie, welche um gehörig ausgeführt zu werden, eine eigene Abhandlung erfoderte.

Wie leicht es doch ist, seine nichts übels besorgende Leser in einen Labyrinth von Parenthesen und Digressionen hineinzuführen, wenn man sich einmal über eine abergläubische Regelmäßigkeit hinausgesetzt hat! Zwar haben wir die Unsrigen schon lange benachrichtiget, daß wir uns bei Gelegenheit dergleichen Freiheiten erlauben würden – Und doch wollen wir so ehrlich sein und gestehen, daß wir uns weder in diesem Stück, noch, die Wahrheit zu sagen, in irgend einem andern, Nachahmer zu bekommen wünschen. Nicht als ob uns bange davor sei, man werde Ordnung und Zusammenhang in dieser unsrer pragmatisch-kritischen Geschichte vermissen; sondern weil es in der Tat unendlich mal leichter ist Miszellanien zu schreiben, als ein ordentliches Werk, und es daher leicht geschehen könnte, daß ein junger Skribent, der sich seiner bessern Bequemlichkeit wegen unsrer Methode bedienen wollte, sich die Horazische Frage zuziehen könnte: Currente rotâ cur urceus exit? Und wenn auch dieses nicht zu besorgen wäre, so gibt es sehr wackere Leute, denen es schwer fällt, sich aus dergleichen mäandrischen Abschweifungen wieder herauszuhelfen, und sobald es dem Verfasser beliebt, wieder auf dem Punkt zu stehen, wo er mit ihm ausgegangen ist. »Was hat man uns«, werden solche Leser, zum Exempel fragen, »in diesem ganzen Kapitel denn eigentlich sagen wollen?« – »Merken sie auf, meine Herren, das war es – daß dieser Dion von dem die Rede war, und um den Sie Sich übrigens, wie ich vermute, sehr wenig bekümmern, eine ganz gute Art von Prinzen, aber doch nicht ganz so sehr ein Held von Tugend gewesen sei, wie ihn ein gewisser ehrlicher Ober-Priester zu Chäronea sich eingebildet – oder wenn man ihm auch eingestehen wollte, daß er's gewesen sei, eben dadurch an seinem Platz nicht soviel getaugt habe, als Sie, meine Herren, indem Sie ihrem Hauswesen wohl vorstehen, sich wohl mit ihrer Gemahlin betragen, ihr Rechnungs-Buch in guter Ordnung halten, und was dergleichen mehr ist – Nun verstehen wir einander doch?«


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