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Die Weizenähre

Einmal lebte am Rande eines großen Waldes ein armer Kätner, der hatte ein kleines, ein bißchen schiefes Haus und einen kleinen Acker, und beides hieß beim Volk »in der Einöde«. Der Kätner hatte eine Frau, die hatte einmal bessere Tage gesehen, und es war ihr wenig recht in ihrem jetzigen armseligen Leben. Und da sie dachte, daß der Mann nicht alles so zusammenhielt, wie er sollte, so sammelte sie jeden Holzspan und jeden rostigen Nagel, um es wieder zu etwas zu bringen in der Welt, und war rasch mit ihren Worten und Händen und ging wenig Freude aus von ihrem Mund und Herzen, da sie an nichts anderes dachte, als wieder reich zu werden wie in ihren Kindertagen.

Der Mann und die Frau hatten einen Knaben, der war stillen Sinnes und liebte von Kind an alle hilflose Kreatur, die ihm auf dem Felde und im Walde vor die Füße kam, so daß der Vater ihn recht von Herzen lieb hatte, die Mutter aber vom Morgen bis zum Abend etwas an ihm zu schelten fand, weil es ihm gleich war, wieviel der Scheffel Weizen kostete und ob die Grütze am Abend mit Speck oder mit Wasser angerichtet war.

Hatte es dann wieder ein Gewitter im Hause gegeben, weil der Knabe den Hühnern eine Handvoll Korn ausgeschüttet hatte oder weil er heimlich eine Maus aus der Falle genommen und sie wieder aufs Feld getragen hatte, so winkte der Vater ihm heimlich zu, nahm ihn mit aufs Feld, unterwies ihn geduldig in aller Arbeit und lehrte ihn, daß von der Erde, vom Himmel und allen Geschöpfen nur der Segen empfange, der seinen Schweiß und seine Liebe dafür hingebe. Und daß, wenn wir den Lohn dafür auch nicht kennten oder nicht auf der Waage wiegen könnten, wir ihn doch einmal empfingen und sei es auch nur durch den Besitz eines fröhlichen Herzens. Und wenn sie um die Abendzeit das Pferd vom Pflug gespannt hatten und noch eine kleine Weile am Ackerrain unter den Schlehenbüschen saßen, zeigte er ihm, wie jeder Vogel, den er lockte, sich zutraulich auf seine Hand setzte und das Korn aus seinen Fingern nahm, »Brüder und Schwestern sind dir nicht geboren«, sagte er dann, »aber die stumme Kreatur wartet auf uns, daß sie unsere Liebe erwidere, so gut, als ob sie uns Geschwister wäre.«

Alles dies bewahrte der Knabe tief in seinem Herzen, denn der Vater war ihm wie der liebe Herrgott, und als er eines Abends nicht heimkam und sie ihn tot neben dem Pfluge fanden, weil sein Herz bei der Arbeit zu schlagen aufgehört hatte, jammerte die Mutter laut über das leere Feld und vergaß nicht, den Staub von seinem Rock zu bürsten. Der Knabe aber stand wie verloren in der unbeendeten Furche, sah ein Rotkehlchen auf dem verlassenen Pfluge sitzen und meinte zuerst, daß alles Leben nun zu Ende für ihn sei und daß er ebensogut unter dem ungepflügten Acker liegen könnte.

Aber dann, als ein paar Tage dahingegangen waren, erkannte er, daß nun die meiste Last und Sorge auf seinen jungen Schultern liege, und nahm sich vor, zu werden wie der Vater gewesen war und keiner Liebe zu vergessen, die dieser ihn gelehrt hatte.

Zwar hatte die Mutter noch mehr als sonst den ganzen Tag zu mäkeln und zu schelten, und an keinem Abend versäumte sie, eine Handvoll Heu von dem wieder aus der Krippe zu ziehen, das er dem Pferde vorgeworfen hatte, aber als er die kleine Ernte ordentlich eingebracht hatte und das Feld vor dem ersten Schnee wieder so sauber dalag, wie es zu des Vaters Zeiten, fügte sie sich seufzend darein, daß er nun zu sorgen und zu planen hatte und daß ihr nur oblag, das zu verhüten, was sie in ihrer Sprache »Verschwendung« nannte.

Der Knabe aber tat das Seinige ohne eine rechte Freude, und noch länger als früher saß er um die Abendzeit unter der Schlehdornhecke, lockte die Vögel bis auf seine Hand und meinte dann, daß der Vater mit seinem stillen Lächeln hinter ihm stehe und ihm zuwinke wie in vergangener Zeit. Auch vergaß er nicht, nach der Ernte eine Weizengarbe für die Vögel auf dem Felde zu lassen, und als die Mutter es ihm mit harten Worten untersagte, blickte er sie eine Weile an und sagte dann: »Es ist des Vaters Hand, die das tut, und nicht die meinige.«

So gingen ein paar Jahre dahin, und darnach kam ein Frühling, in dem späte Fröste die Felder im ganzen Lande verwüsteten, und da auch die Sommerregen ausblieben, so war eine schwere Mißernte zu erwarten, und die Beamten des Königs bereisten das ganze Land, um aufzuschreiben, wieviel Korn für die Speicher gesammelt werden könnte. Nur auf das kleine Feld des Knaben war Sonnenschein und Regen wie sonst gefallen, der Weizen stand so hoch, daß er sich einer ähnlichen Pracht nicht erinnern konnte, und die Mutter stand oft mit glänzenden Augen vor dem Feld, rieb sich heimlich die Hände und berechnete, was der Scheffel Weizen bei der großen Mißernte bringen würde.

In der Nacht nun, bevor der Knabe das Feld mähen wollte, erwachte er um die Mitternacht von einem fernen Vogelzwitschern, das leise war, aber so, als ob wohl tausend kleine Kehlen einander etwas zuriefen. Eine Weile lag er lauschend und sah, wie der volle Mond hoch über dem Birnbaum im kleinen Garten stand. Dann warf er schnell seine Kleider über, weil das Herz ihm auf eine besondere Weise schlug, und trat leise aus der Hütte. Die schöne Welt lag weiß beglänzt vor seinen Augen, Garten, Feld und die fernen Wälder, ganz regungslos, als hätte eine Meisterhand sie gemalt. Aber wie er nun auf sein Weizenfeld blickte, schien ihm, als streife ein leiser Wind darüber hin, so daß jeder Halm sich beuge und wieder aufrichte, und da kein Blatt am Baum sich rührte, verwunderte er sich und ging schnell über die taubedeckte Wiese hinüber.

Aber wie er nun am Rande des Feldes stand, fuhr er sich mit der Hand einmal über die Augen, weil er zu träumen meinte. Denn es war das Feld so von Vögeln bedeckt, die auf den Halmen saßen, daß es wie ein graubuntes Meer aussah, dessen Wellen sich hoben und senkten. Er sah Rotkehlchen und Stieglitze, Goldammern und Heidelerchen, und jedes war eifrig beschäftigt, die reifen Körner aus den vollen Ähren zu brechen, sie nach dem Walde zu tragen und schnell wieder zurückzukehren.

Da rief der Knabe, ohne sich recht zu bedenken: »Was tut ihr denn, liebe Vögel, mit meinem Feld?«

Und er verwunderte sich nicht einmal sehr in dieser seltsamen Nacht, als eine hohe, helle Stimme ihm Antwort gab. »Menschen und Tiere werden leiden«, sagte die Stimme, »aber die Tiere am meisten. So gib uns nun von deinem Reichtum um deines Vaters willen, und einmal wird es dir tausendfältig vergolten werden.«

Da zauderte der Knabe ein bißchen, aber dann sagte er doch: »So nehmt es in Gottes Namen hin.«

Da zwitscherten alle Vögel auf wie eine helle Orgel, und dieselbe Stimme sagte: »In der Mitte des Feldes wird eine Ähre übrig bleiben, die trage heim und säe sie im Herbst auf dasselbe Feld.«

»Das ist nun zwar nicht viel«, dachte der Knabe, »aber es wird schon seine Bedeutung haben.« Und er kehrte sich um und ging wieder über die Wiese zurück, denn das Herz tat ihm doch ein bißchen weh, als er sein Brot so dahingehen sah.

Er schlief wieder ein, und am Morgen war es ihm wie nach einem schweren Traum zumute. Aber als er schnell an das Kammerfenster trat, sah er, daß er nicht geträumt hatte, und dann nahm er seine Mutter schweigend bei der Hand und führte sie an das geerntete Feld. Da hallte nun der ganze Morgen wider von ihrem Jammergeschrei, und als er erzählt hatte, was ihm widerfahren war, entstellte sich ihr Gesicht vor Zorn, und es fehlte wenig daran, daß sie ihn geschlagen hätte.

»Laß es nun gut sein, Mutter«, sagte er endlich. »Es ist mir, als sei der Vater zufrieden, und so wollen auch wir es sein.« Und damit ging er in das leere Feld bis zur Mitte, wo die volle Weizenähre auf einem hohen Halm sich neigte, pflückte sie behutsam und trug sie in die Hütte zurück, wo er sie in seiner Truhe verwahrte.

Den ganzen Herbst über sammelte er Pilze, Beeren, Bucheckern und Eicheln, vergaß auch Rinde und trockenes Laub nicht, und als die Saatzeit gekommen war, pflügte er das Feld wie sonst und streute die Körner der Ähre über das Feld, nur daß er kein Sälaken brauchte wie in früherer Zeit. Und als der erste Schnee fiel, meinte er, daß das Herz ihm so ruhig schlage, als ob die Scheune bis unter das Dach gefüllt wäre.

Als aber die Beamten des Königs kamen, führte er sie auf die leere Tenne, und alles, was sie von ihm erfuhren, war, daß die Ernte ihm entwendet worden sei. Da drohten sie ihm und trugen ihm auf, das nächste Jahr sorgsamer zu sein, sonst werde er es zu bereuen haben.

Sie kamen mit Mühe durch den Winter und die nächste Zeit, aber sie blieben gesund, und der Knabe meinte oft, daß ein fröhliches Herz mehr sei als ein voller Magen. Die Mutter meinte es anders, und sie wurde nicht müde, diese Meinung auszusprechen, bis der Knabe einmal lächelnd sagte, ihrem Munde habe die Hungersnot anscheinend keinen Abbruch getan. Da schwieg sie zornig, und es wäre nun noch weniger Fröhlichkeit in der Hütte gewesen als sonst, wenn das Weizenfeld nicht wie ein Wunder dagestanden hätte, hoch und dicht wie nie zuvor, so daß die Mutter ein paarmal am Tage hinlief, um mit der Hand über die dunklen Halme zu fahren.

Zum zweitenmal aber fiel eine schwere Mißernte über das übrige Land. Die Kinder schlichen mit hohlen Augen umher, das Vieh verdarb, und Ungeziefer verwüstete den Rest der Felder. Die Mutter aber rieb sich wieder heimlich die Hände und rechnete aus, daß dieses Jahr das Doppelte von dem einbringen würde, was das vorige durch die Schuld ihres Sohnes versäumt hatte.

Der Knabe aber saß still unter dem Holunderbusch, dengelte seine Sense und dachte, wie gut es sei, der unschuldigen Kreatur zu vertrauen, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte.

In der Nacht aber, bevor er das Feld mähen wollte, schlief er doch unruhig, hatte schwere Träume und erwachte um die Mitternacht von einem fernen Pfeifen, das leise war, aber so, als ob wohl tausend junge Mäuse im Spiel einander jagten. Wieder stand der volle Mond über dem Birnbaum, und wieder warf er schnell seine Kleider über und ging zu seinem Feld. Dort fuhr er sich mit der Hand zweimal über die Augen, denn alle Halme des Weizens lagen am Boden, und tausend und mehr Mäuse saßen an den Ähren, brachen die Körner aus, trugen sie zu ihren Höhlen und kamen schnell wieder.

Da rief der Knabe voller Schrecken: »Was tut ihr denn, liebe Tiere, mit meinem Feld?«

Und er verwunderte sich kaum, als eine feine Stimme ihm Antwort gab: »Die Not wird über die Zäune steigen, und die Tränen werden salziger sein als zuvor. So gib uns nun von deinem Reichtum um deines Vaters willen, und einmal wird es dir tausendfältig vergolten werden.«

Da zauderte der Knabe und dachte an seine Mutter, aber dann sagte er doch: »So nehmt es in Gottes und Jesu Christi Namen hin.«

Und wieder wurde er angewiesen, die übrigbleibende Ähre in der Mitte des Feldes zu bewahren und sie wieder auszusäen über das Feld. Und darnach ging er wieder heim und schlief ruhig bis zum Morgenrot.

Er hatte nun eine schlechte Zeit, denn die Mutter drohte, zum König zu gehen, damit er wie alle Besessenen in einem besonderen Hause untergebracht werde. Und als die Beamten des Königs kamen, entging er nur mit Mühe der Gefangennahme, und das nächste Mal, sagten sie, werde es ihm übel ergehen.

Aber der Knabe meinte, daß es nun genug sei mit solchem Zauberwerk, und als der Weizen wieder aufging, als hätte er zehn Laken voll gesät, statt eine einzigen Ähre, stand er grübelnd davor und versuchte zu erkennen, was das Schicksal wohl mit ihm im Sinne habe.

Und er war tief erschrocken in seinem Herzen, als die dritte Mißernte kam, schwerer noch als die vorigen. Als die Kinder landauf und landab starben und sie in der Hütte Brot aus Birkenrinde buken.

Und als er seine Sense wieder dengelte, meinte er im Echo aus dem Walde die Sense des Todes zu hören, und er legte sich in Kleidern auf sein Lager, weil er gewiß war, daß man ihn wieder rufen würde zur Mitternacht.

Auch erwachte er um die gleiche Stunde, und es war ihm, als vernähme er einen fernen, leisen Gesang von Kinderstimmen, aber so zart, als käme er nicht mehr aus Menschenmund. Da ging er schnell zu seinem Feld, und als der Mond aus einer weißen Wolke trat, fröstelte es ihn zwischen den Schultern, denn er sah wohl tausend Kinder zwischen den Weizenhalmen, und alle waren sie blaß wie das Mondlicht selbst und trugen lange, weiße Hemden, und in sie sammelten sie die Weizenkörner.

Aber das Schrecklichste für den Knaben war, daß er einige unter ihnen sah, die das letzte Jahr gestorben waren, und er wußte nicht, weshalb Gott ihn so prüfe. Sagte also ganz leise, um sie nicht zu erschrecken: »Was tut ihr denn, liebe Kinder, mit meinem Feld?«

Da verstummte der leise, helle Gesang, und eine Stimme rief zur Antwort: »Es ist das letzte Jahr, daß Gott die Erde schlägt, und so wie du Vögeln und Mäusen gegeben hast, so gib auch uns von deinem Reichtum, daß unser nicht mehr werden in diesem Winter, und gib es uns um deines Vaters willen, damit es dir tausendfältig vergolten werde.«

Da bedachte sich der Knabe keinen Augenblick und rief mit heller Stimme über das Feld: »So nehmt es in Gottes und Jesu Christi und der Heiligen Jungfrau Namen hin!«

Am nächsten Tage holte er die übriggebliebene Ähre, und eine Woche später, als die Beamten des Königs kamen, banden sie ihn und führten ihn in die Königsstadt, damit er sich verantworte als ein ungetreuer Knecht.

Die Ähre aber hatte er in seinem Kleide verborgen.

Er wurde in einen Kerker geworfen, aus dem er nur durch ein vergittertes Fenster den blauen Himmel erblicken konnte, und am Abend vor den König geführt.

»Erzähle, was du zu erzählen hast«, sagte der König ohne Freundlichkeit.

Der Knabe berichtete, wie es ihm ergangen war, ließ nichts aus und setzte nichts hinzu.

»Einen guten Märchenerzähler hättest du abgegeben«, sagte der König, »aber nun brauchen die Kinder Brot und keine Märchen.«

»Ich weiß nicht«, sagte der Knabe bescheiden, »ob nicht, wenn die Not über die Zäune steigt, die Seelen der Speise mehr bedürfen als die Körper. Und anders ist es auch mit dem Himmelreich nicht. Ich denke, daß mein Vater, als er hinter dem Pfluge starb, den Himmel offen sah und nicht seine Weizenscheune.«

»Die Worte gehen dir geschickt vom Munde«, sagte der König, »aber du wirst solange im Kerker bleiben, bist du bekennst, wo deine Ernten geblieben sind. Und wenn dich hungert, so nähre dich von deinen Märchen.«

Da wurde der Knabe wieder in den Kerker geführt und mit Stricken gefesselt. Von seinem Lager aus konnte er die Sterne an dem kleinen Fenster vorüberziehen sehen, und er dachte an seinen Vater und wie gut es sei, daß keine Stricke ihn mehr bänden.

Aber wie er nun so dalag und an die Kinder dachte, die sein Feld geerntet hatten, hörte er es sich mit einem Male in seinem dunklen Verließ rühren, als ob viele winzige Füße behutsam über die Steine schlichen. Da hob er den Kopf, so weit er es vermochte, und sah im schwachen Sternenlicht wohl hundert oder tausend kleine Mäuse, die kamen durch das offene Fenster und die Löcher im Fußboden, und es waren ihrer soviele, daß sie wie ein kleines Heer waren.

»Ihr lieben Tiere«, sagte der Knabe leise, »was wollt ihr an diesem traurigen Ort?«

Aber diesmal antwortete keine helle Stimme, sondern sie machten sich nur lautlos über die Stricke her, mit denen er gefesselt war, und ehe eine halbe Stunde vergangen war, lag sein Körper ledig und frei da, und so still, wie sie gekommen waren, hatten die Tiere den Raum wieder verlassen.

Da atmete der Knabe tief auf, erkannte, wie alles vergolten wurde, was man an Barmherzigkeit tat, und schlief so ruhig ein wie in seiner Kammer unter dem Birnbaum.

Am nächsten Morgen aber verwunderten die Wächter sich, schüttelten den Kopf zu seiner Erzählung und hinterbrachten sie dem König. Dieser dachte lange nach und sagte dann: »Wenn Hanf nicht bindet, so wird Seide ihn binden.« Und er befahl, daß Stricke aus Seide geflochten wurden, mit denen wurde der Knabe gefesselt, und die Wächter wurden ermahnt, in seiner Zelle zu wachen und die Augen bei Todesstrafe offen zu halten.

Der Knabe aber lag still auf seinem harten Lager und sah den goldenen Sternen zu, bis er einschlief.

Um die Mitternacht aber erwachte er von einem so süßen Gesang, wie er ihn noch niemals im Wachen oder Träumen vernommen hatte. Und da saß im offenen Fenster eine Nachtigall, und aus ihrer bebenden Kehle strömte eine solche Woge von Wohllaut, daß der Knabe erzitterte und nicht wußte, ob er nicht schon gestorben und im Paradiese sei. Die Wächter aber saßen wie verzaubert, und sie konnten kein Glied rühren, so sehr sie sich auch Mühe gaben.

Und während die Nachtigall fortfuhr, das dunkle Haus der Schmerzen und den ganzen Raum der Nacht mit ihrem süßen Liede zu erfüllen, schlüpften hundert oder gar tausend Vögel durch das offene Fenster, machten sich mit ihren Schnäbeln über die seidenen Fesseln her, und ehe eine Stunde vergangen war, lag der Knabe wieder frei und ledig da, die Nachtigall verstummte, und die Wächter rührten bestürzt ihre Arme mit den schimmernden Waffen.

Da liefen sie in der Frühe zum König, berichteten ihm, was sie gesehen und gehört hatten, und warteten auf ihr Urteil.

»So hat es mit diesem Knaben wohl seine besondere Bewandtnis«, sagte der König endlich, »aber wenn Hanf und Seide ihn nicht binden, so wird Eisen ihn wohl binden.«

Und am Abend wurde der Knabe in eiserne Fesseln gelegt und sah mit schmerzenden Gliedern zu, wie die Sterne am Fenster vorüberzogen. Die Wächter aber hatten ihre Waffen fest umklammert, als gehe es gegen einen übermächtigen Feind.

Um die Mitternacht aber sprang die verriegelte Tür aus ihren schweren Schlössern, und eine Schar von kleinen Kindern, wohl an die hundert, trat lautlos eines nach dem andern in den kleinen Raum. Sie trugen lange, weiße Hemden, die bis auf ihre blassen Füße reichten, und ihre Augen waren geschlossen wie bei Schlafenden. Und während die Wächter regungslos saßen vor Angst und Grauen, glitten die Kinder mit ihren weißen Händen still über die Eisenbänder hin, die zerbrachen klirrend und fielen auf den steinernen Boden, als wären sie von Glas.

Und darnach zog die blasse Schar lautlos wieder aus der Tür, und die Tür fiel zu, und alles war, wie es gewesen war.

Die Wächter aber liefen noch in der Nacht zum König, und der König blieb in Gedanken versunken sitzen bis zum Morgenrot.

Der Knabe aber schlief so friedlich ein wie in seiner Kammer, und bevor er erwachte, hatte er einen Traum. Er sah nämlich einen Hügel mit drei alten Eichen, und neben den Eichen stand eine alte Mühle, deren Flügel gingen so schnell, daß er sie gar nicht unterscheiden konnte. Am Fuß der Mühle aber tat sich ein goldenes Tor auf, und ein breiter Strom von weißem Mehl floß aus dem Tore heraus und den Hügel herunter. Und von allen Seiten kamen Kinder und Vögel zu dem Hügel, und ein Gesang wie von vielen tausend Stimmen hob sich über die Eichen in den blauen Himmelsraum empor.

Da erwachte der Knabe mit klopfendem Herzen, und als der König schon am frühen Morgen in die Zelle trat, fragte er ihn, ob er in seinem Reiche eine alte Mühle auf einem Hügel mit drei Eichen kenne.

Die kenne er wohl, erwiderte der König verwundert, aber sie mahle schon lange nicht mehr, und nur ein alter Mann lebe dort, und er wisse nicht einmal, ob er noch lebe oder schon gestorben sei.

Da bat der Knabe, ihm eine große Gunst zu gewähren und ihn zu dieser Mühle führen zu lassen, und der König war es zufrieden.

Als sie auf dem Hügel ankamen, und eine große Menge Volkes war mit ihm gegangen, sahen sie, daß die Mühle still stand, und der alte Müller, auf einen Stock gestützt, verneigte sich vor dem König und wies mit seiner zitternden Hand auf die Mahlsteine, die standen still und waren von Spinnweben überzogen.

Da zog der Knabe die volle Weizenähre aus seinem Kleid, legte sie zwischen die Mahlsteine, faltete seine Hände und sagte leise: »Mahle, Mühle!«

Der Müller schüttelte den Kopf, der König lachte, und das ganze Volk lachte, aber dann begannen die Flügel sich langsam zu drehen und drehten sich immer schneller und schneller, und in den ersten Sack stürzte das weiße Mehl sich wie aus vollen Weizenscheffeln. Da schrien alle auf, der König wie der Müller wie das ganze Volk, und sie hatten nicht genug Säcke, um den Segen zu bergen. Und immer noch mahlten die Steine, immer noch sausten die Flügel, und das Mehl floß langsam aus der Mühle heraus, den Hügel hinunter, und die Leute breiteten ihre Röcke und Schürzen aus, um es aufzufangen und nach Hause zu tragen.

Bis zum Abend blieb der König vor der Mühle stehen, und noch als sie auf dem Heimweg waren, sahen sie die Flügel sich vor dem Abendrot drehen, und es war, als mahle die Mühle reines Gold und werde nicht aufhören, es zu mahlen.

»Ich will dich zum obersten meiner Kämmerer machen«, sagte der König in der großen Halle zu dem Knaben, »denn du bist mächtiger als wir alle, und ich will nicht in dich dringen, mir dein Geheimnis zu verraten.«

Aber der Knabe verneigte sich dankend und sagte: »Ich bin nicht dazu geboren, Herr König, ein Oberster der Großen zu sein, sondern ein Helfer der armen Kreatur. So hat es mich mein Vater gelehrt, und so will ich es bleiben. Entlasse mich also in Gnaden zu meinem Feld und zu meiner Mutter, und achte hinfort die Märchen nicht mehr gering, die ich dir erzählt habe. Denn ich denke, daß ein Volk ohne Märchen sterben wird und daß Gott sie den Völkern und den Kindern gegeben hat, die kein Brot haben, damit sie doch wissen, daß er ihrer nicht vergessen wird.«

Und er kehrte zu seinem Felde zurück und bestellte es wie ehemals.

Und als er alt und in Ehren gestorben war, ließ der König einen Stein über seinem Felde aufrichten, in den war nichts eingemeißelt als eine einzige Weizenähre. Und die Kinder, die dort geboren wurden, pflegten am Abend vor dem Stein zu sitzen, wenn das Abendrot ihn vergoldete, und von der Zeit zu sprechen, als die alte Mühle Tag und Nacht mahlte, und die Vögel eine menschliche Stimme hatten, und der Tote, der unter dem Steine lag, seine Ernten hingab, damit die Kinder und die arme Kreatur ihr Brot hatten.

* * *


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