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Der arme und der reiche Bruder

An einem stillen, dunklen Waldsee lebte einmal ein Fischer mit seiner Frau, die waren sehr arm, aber sie hatten zwei Knaben, die wohlgeraten waren, und so waren sie mit ihrem Leben zufrieden, auch wenn sie sich manchen Tag etwas anderes wünschten als Fischsuppe am Morgen, Mittag und Abend. Und wenn die Knaben mit ihren Löffeln in der Schüssel herumrührten, als liege ein goldener Schatz auf dem Grunde, so pflegte die Mutter zu sagen: »Ich kenne Leute, die zufrieden sein würden, wenn sie mittags Fischköpfe und Gräten hätten.« Und dann lachten die Knaben, und alles war wieder gut.

Nun waren die Brüder von sehr verschiedener Art, so daß die Mutter ihnen manchmal aus der Ferne schweigend zusah und sich verwunderte, daß sie beide unter dem Herzen getragen hatte und beide ihr gleich lieb waren. Denn während der ältere sich den ganzen Tag zu schaffen machte, auf dem Wasser oder dem kleinen Gehöft, und sich einen kleinen Schatz von Dingen sammelte, Steine und Muscheln, Angelhaken und alte Schnüre, saß der jüngere still am Schilf oder am Waldrand, schnitzte sich Flöten oder flocht Kränze aus den schönsten Blumen oder fütterte Vögel und Eidechsen, die er mit leisen Tönen an sich zu locken verstand.

Am Abend aber, wenn sie vor dem kleinen Torffeuer saßen, der Vater die Netze flickte und die Mutter spann, bat der jüngere die Mutter unablässig um ein Märchen, und die alten waren ihm ebenso lieb wie die noch nie gehörten. Der ältere horchte wohl zu, indes er seine Angelhaken zurechtbog oder an seinen Pfeilen schnitzte, aber er lächelte doch über die Hingabe des Bruders, und wenn der böse Wolf erschlagen war oder die Prinzessin die verlorene Krone wiedergefunden hatte, wanderten seine Augen immer nach dem kleinen Wandschrank, und er meinte mit einem listigen Lächeln, daß jetzt ein Stück Brot nach allem Schrecken besonders gut tun würde. »Es wird wohl recht sein«, sagte der Vater dann, »wenn du ein Bäcker wirst, damit du Tag und Nacht ein Brot um den Hals gebunden tragen kannst.« Und der Knabe war mit diesem Vorschlag ganz zufrieden. Die Mutter aber sah von ihrem Spinnrad auf, strich dem anderen leise über die noch glühenden Wangen und sagte: »Märchen sind Märchen, liebes Kind, und wir müssen die Hände rühren, um satt zu werden.«

Ein Jahr später nun, am Johanniabend, durften die Brüder in den Wald laufen, um trockenes Holz zu dem Feuer zu holen, das sie nach altem Herkommen in dieser Nacht am Seeufer entzündeten. Und als sie ihren kleinen Wagen schon sehr beladen hatten und sich den Schweiß von den Stirnen wischten, hörte der jüngere aus der Dickung, die der Wolfsbruch hieß und in der der Jäger seine Wolfsgruben angelegt hatte, einen leisen Ruf wie von jemandem, der halb unter der Erde war. Da faßte er den Bruder am Arm, hieß ihn lauschen, und obwohl das Herz ihnen beiden bis zum Halse schlug, vernahmen sie beide den gleichen Ton noch einmal, und er klang noch unheimlicher als zuvor.

Da sahen sie einander an, und so verschieden sie in ihrem Gemüt waren, so wußten sie doch nun ohne ein Wort, daß sie, wenn jemand in Not war, ihm nun helfen müßten. Faßten also ihre kleinen Beile fester, bogen die ersten Äste zur Seite und drangen nebeneinander in das Gewirr von Fichten, Hainbuchen und Dornen vor, so weit, bis das leise Stöhnen ganz dicht vor ihnen war und sie ihre nackten Füße vorsichtig setzten, um nicht auf die trügerische Decke einer der Gruben zu treten.

Und dann sahen sie plötzlich die tiefe Höhlung vor sich und auf ihrem Grunde einen alten Mann in einem merkwürdig geschnittenen Kleid, der tief unten am Rande der Grube kauerte und mit angstvollen Augen zu ihnen aufblickte. »Seid gesegnet, liebe Kinder«, sagte er, »denn ich dachte schon, es sei der Wolf, der mich holen komme, oder der Jäger, der auch nicht viel Umstände mit einem alten Mann machen würde.«

»Und wie seid Ihr hineingeraten?« fragten die Brüder, »und was hattet Ihr hier zu schaffen, wo niemals ein Mensch hinkommt?«

Da lächelte der alte Mann und sagte: »Niemals ist zuviel gesagt, denn immer um diese Zeit pflege ich hier Kräuter zu sammeln, die gut sind gegen alle Gebrechen des Leibes und der Seele. Aber nun tut euch bitte um, liebe Kinder, am Rande der Grube, dort, wo ihr steht, und seht zu, ob ihr einen kleinen dunklen Stab findet, mit einem geschnitzten Schlangenkopf am Ende, den werft mir herunter, und alles wird wieder gut sein.«

Den Knaben war es ein bißchen unheimlich, denn vor Schlangen fürchteten sie sich, und sie hatten niemals von einem alten Mann gehört, der im Walde lebte, aber dann bogen sie doch die Äste und Gräser auseinander, und gleich darauf fand der jüngere den Stab, faßte ihn vorsichtig mit einer Hand und trat zur Grube zurück. »Laß dir etwas versprechen dafür, vorher«, flüsterte der andere ihm heimlich zu, aber der Knabe schüttelte den Kopf, beugte sich über die Grube und rief dem Manne zu, die Hände aufzuhalten.

Der alte Mann tat, als sei das Himmelreich zu ihm herabgefallen, drückte den Stab an seine Lippen, küßte ihn, und als er ihn dann in die Höhe hielt, stand plötzlich eine Leiter an der Grubenwand, auf der stieg er langsam herauf, und als er den Fuß auf den festen Grasboden setzte, war die Leiter verschwunden, als hätte der Abendwind sie fortgetragen, und die Brüder faßten einander bei der Hand und sahen mit erschreckten Augen auf den alten Mann.

Aber der strich ihnen freundlich über das Haar und sagte: »Fürchtet euch nicht, liebe Kinder, denn ihr habt mir Gutes getan aus gutem Herzen, auch wenn der kluge von euch es sich nachher bezahlen lassen wollte.« Und er sah den älteren der Brüder ein bißchen verschmitzt von der Seite an. »Dafür dürft ihr euch nun etwas wünschen, und wenn es nichts Unrechtes oder Gefährliches ist, so will ich es euch erfüllen, wenn die Zeit gekommen sein wird.«

Da bedachte sich der ältere nicht lange, hielt das Ganze auch schon wieder für einen Scherz, wie ihn alte Leute gern mit Kindern treiben, und da ihn nach der Arbeit schon wieder hungerte, so wünschte er sich, sein Leben lang jeden Tag und jede Stunde ein frisches, goldgelbes, rundes Brot zu haben, damit er doch niemals mehr zu hungern brauche.

Da sah der alte Mann ihn nachdenklich an, nickte dann und sagte, das werde sich wohl machen lassen, wenn auch nicht gleich, so doch zu der Zeit, da er es brauchen werde.

Der jüngere aber hatte die ganze Zeit über auf den dunklen Stab geblickt, von dessen Ende die roten Schlangenaugen ihn geheimnisvoll anblickten, und als der Mann sich nun zu ihm wandte, sagte er leise, daß er wohl gern bis zu seiner letzten Stunde neben den Märchen, die er kannte und noch lernen würde, immer noch ein neues wissen möchte, so daß es ihm niemals an Vorrat mangeln möchte, den Kindern etwas zu erzählen, was sie noch nicht wüßten.

Da sah auch ihn der Mann eine Weile nachdenklich an, lächelte dann freundlich und meinte, daß sich das zu seiner Zeit wohl werde machen lassen.

Und dann brachte er die beiden Knaben bis zu ihrem Wagen zurück, führte sie bis an den Rand des Waldes, und ehe er Abschied nahm, war plötzlich das kleine Gefährt so hoch wie ein Haus mit trockenem Holz beladen, schwankte aber nicht und war auch so leicht, als trüge es nur ein paar Äste zwischen seinen dünnen Leitern. »Damit ihr ein ordentliches Feuer machen könnt heute nacht«, sagte der Mann lächelnd, »und es auch noch für den Winter reicht.«

Und damit war er verschwunden, als hätte die Erde ihn verschluckt, und die beiden Brüder zogen mit ihrer Last nach Hause, wo die Eltern ihnen entgegenkamen und nicht wußten, was sie sagen sollten. Da erzählte der ältere mit aufgeregten Worten, was ihnen widerfahren war, und Vater und Mutter sahen einander bedeutungsvoll an, bekreuzigten sich und meinten leise, so habe doch also eines von ihnen einmal den Alten vom Walde getroffen, von dem ihre Ureltern schon bisweilen flüsternd erzählt hätten.

Doch geschah nichts weiter daraufhin, kein Wunder des Brotes oder der Märchen, und der ältere der Brüder fing bald an, sich über das Erlebnis und das Versprechen des alten Mannes lustig zu machen, da ja doch nichts davon eingetroffen sei, was er so großartig zugesagt habe.

Aber der jüngere tadelte ihn und bat ihn, nicht leichtfertig davon zu sprechen. »Erinnere dich, lieber Bruder«, sagte er, »daß er versprochen hat, daß es nicht gleich geschehen werde, sondern zu der Zeit, da wir es brauchen würden.«

Der ältere aber zuckte mit den Schultern und meinte lachend, das hätte der alte Mann doch wenigstens wissen können, daß es für ein rundes Brot für ihn immer an der Zeit sei.

So gingen die Jahre dahin, ohne Krankheit und besondere Not, und da die Knaben herangewachsen waren, wollte der Vater nicht, daß sie nichts anderes erlernten als sein kümmerliches Gewerbe, schlug ihnen also vor, in die Königsstadt zu wandern, sich ordentlich umzutun und, wenn sie wollten, nach ein paar Jahren wieder heimzukehren oder auch da zu bleiben, wenn Vorteil oder Gewinn es ihnen rieten. Für ihn und die Mutter werde die Fischsuppe schon ausreichen bis zum Tode.

Da machten die beiden sich denn eines Morgens auf, der jüngere mit Tränen in den Augen, der ältere lächelnd und seines kommenden Lebens froh, und die Eltern sahen ihnen lange nach, wie sie einträchtig nebeneinander im Walde verschwanden, und kehrten dann still zu ihrem Tagewerk zurück.

Indessen wanderten die beiden viele Tage lang durch Wälder und Heiden, und während der eine von Gold und Schätzen redete und wie er jeden Tag ein frisches Brot essen wollte, träumte der andere still vor sich hin, dachte an sein Elternhaus zurück und wie er nun ganz verloren sein würde in der großen, fremden Stadt. Und als sie nun dort angekommen waren und auf dem lärmenden Marktplatz standen, so recht wie zwei verflogene Vögel, verabredeten sie, daß sie einander dort jeden Monat treffen wollten, um zu sehen, wie weit sie vorangekommen wären, und auch, falls einer des anderen Hilfe brauchen sollte.

Darnach fragte der ältere gleich nach der größten Bäckerei der Stadt, fand mühsam den Weg dorthin und bat so dringlich um einen Platz, daß der reiche Bäcker ihn ohne Lohn bei sich aufnahm. Der andere aber wanderte ziellos durch die Straßen, sah mit großen Augen auf alle Pracht und Herrlichkeit, verwunderte sich, daß die Welt so bunt sein könne wie ein Märchen, und betrat am Abend endlich müde einen stillen Garten, wo viele Kinder um einen Sandhaufen saßen, aus dem sie Burgen bauten oder kleine Kuchen buken. Und da sie ihn zutraulich teilnehmen ließen an ihrem Spiel, wurde es ihm wieder fröhlich zumute wie am elterlichen Torffeuer, und ehe er es sich versah, war er schon mitten im Märchenerzählen, und die Kinder hingen atemlos an seinem Munde, und erst als die Sonne gesunken war, sahen sie, daß Mütter und ältere Geschwister herumstanden und ebenso lauschten wie die Kinder.

Da wollte er sich beschämt davonmachen, aber eine alte Frau nahm ihn bei der Hand, führte ihn in ihr kleines Haus, fragte ihn nach seiner Herkunft und behielt ihn bei sich. »Wer zu den Kindern kommt, kommt von Gott«, sagte sie, und da war er nun wohl aufgehoben, half ihr in Haus und Garten, saß mit ihren Blumen und Früchten auf dem Markt, und nicht lange, so sammelten sich am Abend, wenn er seine Körbe aufeinanderstellte, alle Kinder der Umgegend um ihn und baten flehentlich um ein einziges Märchen, denn die Kunde von seiner Kunst hatte sich weit verbreitet. Und manchmal saßen sie noch da, wenn der Mond schon über den Giebeln stand, und der Wächter mußte sie mit freundlichen Worten ermahnen heimzugehen, wenn er nicht selbst, auf seinen Spieß gestützt, stehen blieb und lauschte, bis der Knabe aufsprang und erklärte, heute gebe es nun nichts mehr, und morgen wollten sie weitersehen, wie es mit der Schlange und dem Waisenkind zugehen werde.

Auch dem älteren Bruder erging es wohl bei seinem Meister, und durch Fleiß und Anstelligkeit stieg er schnell auf, so daß er bald der erste in der großen Handlung war und nach drei Jahren schon ein eigenes Haus erbaute, in dem er seine eigenen Brote nun verkaufte.

In jedem Monat aber, wie sie es verabredet hatten, trafen die beiden Brüder einander auf dem Marktplatz, und bald war es nun so, daß der ältere stolz von seinem Fortkommen erzählen konnte und den anderen lächelnd fragte, ob ihm nun das Märchenerzählen einen Schatz eingetragen habe. Ja, das habe es wohl, erwiderte der jüngere ebenso lächelnd, und er möchte ihn gegen keinen anderen auf der Welt vertauschen.

Auch ging in jedem Jahr einer von ihnen nach dem kleinen Haus am Waldsee, sah nach den Eltern und sorgte nach Kräften für sie.

Von dem alten Mann war nicht mehr die Rede.

Nun aber geschah es einmal, daß zwei schwere Mißernten nacheinander über das Land fielen und eine große Hungersnot über das Volk kam. Und da man in guten Jahren keine Vorräte gesammelt hatte, so begannen die alten Leute und die Kinder bittere Not zu leiden, und die beiden Brüder sahen in hohle und flehende Augen. Denn so voll die Straße vor dem Bäckerhaus vom Morgen bis zum Abend stand, so voll war der Marktplatz, wenn die Sonne untergegangen war, und es waren nun nicht nur Kinder, die zu den Füßen des Märchenerzählers lagen. Auch den Großen schienen Not und Herzeleid leichter zu werden, wenn vor ihren Augen die goldenen Paläste und die schimmernden Höhlen sich auftaten, die Gärten mit den hängenden Früchten und die Becher mit goldenem Wein, und wenn sie sahen, wie Wahrheit und Recht, Demut und Barmherzigkeit die bunte Welt regierten.

Aber eines Tages war es doch so weit, daß der ältere der Brüder die letzte Handvoll Mehl aus den Kästen kratzte und der jüngere sein letztes Märchen begann, das ihm in der hungrigen Nacht eingefallen war, und daß sie mit Sorgen die nächste Sonne erwarteten. Aber wie sie sich nun gerade anschickten, mit leeren Händen vor ihre Wartenden zu treten, der eine ohne Brot und der andere ohne Märchen, sahen sie in der schweigenden Menge einen alten Mann, der trug ein seltsam geschnittenes Kleid und hatte einen kleinen Stab in der Hand, und ehe sie sich noch erinnern konnten, hatte er ihnen schon zugelächelt wie ein alter Bekannter und war in der Menge verschwunden.

Und im selben Augenblick sah der ältere der Brüder ein rundes, goldgelbes Brot auf dem leeren Ladentisch liegen und der jüngere ein neues Märchen vor seinen inneren Augen aufsteigen, und als der eine das Brot dem vordersten der Kinder gereicht hatte, sah er ein neues auf dem Tisch liegen, und so immer weiter, so daß er nur zuzugreifen und es zu reichen brauchte. Und der andere, als er sein Märchen beendet und den tiefen Seufzer der Lauschenden vernommen hatte, brauchte nur den Mund zu öffnen, und sogleich fügte eine neue Erzählung sich an die vorige an, und er sah die kommenden wie eine Perlenschnur vor sich aufgereiht, die bis in die Unendlichkeit reichte.

Zunächst verkaufte der ältere der Brüder seine Brote gegen Geld, und da der Preis für jede Nahrung rasch und wie im Schwindel stieg, so wußte er bald nicht, wo er Gold und Edelsteine in seinem Hause bergen sollte, so daß er in kurzer Zeit der reichste Mann des Landes war. Der jüngere aber blieb arm, wie er gewesen war, und er war es zufrieden, in jeder Nacht am Hause seines Bruders vorbeizugehen, wo auf der abgetretenen Schwelle immer ein rundes, goldfarbenes Brot für ihn lag. Auch begann der ältere nun ohne Bedenken seine Brote umsonst zu verteilen, so daß der Ruhm der beiden Brüder die Paläste wie die Hütten erfüllte und kein Name so geliebt und geehrt war im ganzen Land wie der ihrige.

»Wer ist nun der größere von uns?« fragte eines Abends der reiche Bruder den armen lächelnd, als sie einander wieder auf dem Markt getroffen hatten. Der weite Platz war nun leer, denn die Mitternacht war schon da, und der volle Mond schien bläulich auf die dunklen Giebel.

»Lieber Bruder«, erwiderte der jüngere in seiner stillen Weise, »ich denke nicht, daß einer von uns groß ist, weil wir nur Diener am Rechten sind. Aber wenn du ein wenig Zeit hast, so komme mit mir, denn ich habe noch einen Gang zu tun, weil um diese Zeit die meisten der Kinder sterben, zu denen dein Brot wie meine Märchen zu spät gekommen sind.«

Und er führte ihn in die ärmsten Bezirke der Stadt, wo baufällige Hütten sich aneinanderlehnten und die hungrigen Hunde vor den Türen winselten. Dort trat er in eine der Hütten ein, wo auf einem Lager von modrigem Laub ein Mädchen am Sterben war; dessen Gesicht war ganz durchsichtig vor Elend, und nur die großen, fiebrigen Augen leuchteten auf, als sie den jüngeren Bruder erblickten.

Da erschrak der ältere, schob die weinenden Eltern und Geschwister rasch zur Seite und nahm aus seinem Kleide eines der goldfarbenen Brote, die ihm niemals ausgingen. »Iß nun, liebes Kind«, sagte er mit erstickter Stimme, »und vergib, daß ich deiner vergessen habe.«

Aber das Kind schob mit seiner durchsichtigen Hand das Brot sanft zur Seite, blickte den jüngeren Bruder zärtlich an und sagte: »Bitte, erzähle mir, wie das Findelkind ins Paradies kam oder wie die armen Geschwister Weihnachten feierten. Bitte, erzähle es so schön, wie du es auf dem Marktplatz tatest.«

Und der Angeredete nahm die schmale Hand des Kindes zwischen seine Hände und begann von dem Mädchen zu erzählen, das auf Erden nur Hunger, Not und Arbeit gekannt hatte, und wie der Engel mit den großen silbernen Flügeln es durch den dunklen Weltenraum vor die Tore der goldenen Stadt geleitete. Wie die Tore sich auftaten und der Glanz der goldenen Säle und Gärten in das eisige Dunkel hinausstrahlte; wie der Klang der Zimbeln und Harfen die Sterne erzittern ließ, und wie die heilige Jungfrau von ihrem Throne stieg und die weißen Arme für das arme Kind öffnete.

»Und lächelte sie, oder war sie traurig?« flüsterte das Mädchen mit vergehender Stimme.

»Sie lächelte«, sagte der Jüngling zärtlich. »Sie lächelte so, daß alle Knospen in den Gärten aufsprangen und die silbernen Springbrunnen einen Herzschlag lang zu fließen aufhörten und das Wasser wie ein Silberschein einen Augenblick lang in der blauen Luft stand. Und sie lächelte so, daß das Findelkind wie in einer goldenen Wolke stand, und alle Tränen, die es im Leben geweint hatte, waren als Perlen in die goldene Wolke gestickt.«

»Oh, und dann?« flüsterte das Kind.

»Dann nahm die heilige Jungfrau es an ihre Brust und küßte es, und wie ihre Lippen es berührten, breiteten zwei silberne Flügel sich von den Schultern des Kindes aus, und es sah aus, als würde es sich sogleich aufheben und wie ein schimmernder Paradiesvogel zu den Sternen aufsteigen, die wie Sonnen über der goldenen Stadt standen.«

»Und küßte es ,...«, wiederholte das Mädchen, und dann streckten seine schmächtigen Glieder sich aus, und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen entschlief es.

Da weinten die Eltern und Geschwister des Kindes laut auf, aber der Jüngling legte die Hand auf die erstorbenen Augen und drückte die Lider sanft herunter, und dann winkte er seinem Bruder. »Ach«, sagte dieser, als sie auf der verlassenen Straße standen, und trocknete seine Augen, »was ist denn mein ganzer Vorrat an duftenden Broten gegen diese Stunde?«

Aber der jüngere legte ihm liebreich den Arm um die Schultern und führte ihn der Stadt zu. »Wolltest du denn, daß ein Baum ohne Samen und Wurzel wüchse?« sagte er. »Oder daß ein Herz ohne Blut wäre? Oder unsere Heimat ohne ein Weizenfeld?« Und er sprach ihm trostreich zu und brachte ihn bis zu seinem prächtigen Haus.

Als nun die Hungersnot vorüber war und Felder und Menschen wieder in Blüte standen, lebten die beiden Brüder wieder, wie sie vorher gelebt hatten, so daß der ältere immer reicher und der andere immer ärmer wurde, da er sich nun aufgemacht hatte, im Lande von Haus zu Haus und von Hütte zu Hütte zu ziehen, und da er an jenem Abend erfahren hatte, wie er selbst dem Tode ein Lächeln abgewinnen konnte, so starben wenige Kinder in der Landschaft, in der er gerade war, denen er nicht den Weg in das dunkle Reich mit einem sanften Licht erhellt hätte. Und da der Zauber bei ihm blieb, so wurden seine Märchen immer schöner, und es war niemand in des Königs weiten Landen, der so in Liebe eingehüllt gewesen wäre wie er. Und wiewohl auch sein Bruder das Erworbene mit vollen Händen an die Bedürftigen ausschüttete, war der Duft der Märchen doch den meisten süßer als der Duft des Brotes, und so blieb es auch ihr Leben lang.

Sie wurden hochbetagt, und die Hand des Todes berührte sie an demselben Tage. Und während der ältere in der Königsstadt mit prächtigen Rossen zu seinem Grabe geführt wurde und selbst der König es sich nicht nehmen ließ, den gewaltigen Trauerzug anzuführen, lag der schmale Fichtensarg des anderen auf den schwachen Schultern vieler Kinder, und auf die tausend Blumen aus Wald und Feld fielen viele tausend Tränen wie Tau auf das geschnittene Gras.

Und als der Tag des Monats wieder gekommen war, an dem die beiden Brüder einander wie immer hätten treffen sollen, begegneten sie einander im dunklen Weltenraum auf der ausgetretenen Straße, die zum goldenen Tore führte, und sie begrüßten einander so fröhlich, wie sie es auf Erden getan hatten. »Nun werden wir sehen«, sagte der ältere mit dem leisen Spott seiner Kinderzeit, »wie unsere Bücher geführt worden sind und was der liebe Gott für eine Endsumme ausgerechnet hat.«

Und als sie nach ihrer langen Wanderung vor den Thron geführt wurden, auf dem Gottvater in seinem blauen Mantel saß, sahen sie, wie er das schwere Haupt in die mächtige Hand stützte und sie lange ansah. »Lege nun das deinige hinein«, sagte er endlich zu dem reichen Bruder, und dieser zog das letzte seiner runden, goldfarbenen Brote aus dem Pilgerkleid und tat es in die goldene Waage, und wie er es hineingelegt hatte, sank die Schale tief, und der wägende Engel neigte sein Haupt.

Als nun an den armen Bruder die Aufforderung erging, steckte er die Hand in sein Pilgerkleid, aber er zog sie leer zurück und blickte mit traurigen Augen auf sie nieder. Aber Gottvater stützte den Kopf noch tiefer in seine Hand, sah ihn freundlich an und sagte: »Erzähle nur!« Und da begann der arme Bruder sein letztes Märchen zu erzählen, das in seiner Perlenkette aufgereiht war, und wie er erzählte und ja selbst nicht wußte, wie es ausgehen würde, sah er, daß immer mehr und mehr der kleinen Engel aus den unendlichen Himmelssälen herbeigeschlichen kamen und sich zu den Füßen Gottvaters und in den Falten seines blauen Mantels niederkauerten. Und schließlich waren es wohl Tausende und Zehntausende, so daß der Himmel nur von ihnen bewohnt schien, und als der arme Bruder ihre leuchtenden Augen sah und ihre halb geöffneten Lippen, war es ihm, als hätte er noch nie so schön erzählen können, und die Worte kamen ihm wie in einen Zauber getaucht aus dem Munde, je tiefer die großen goldenen Wachskerzen herabbrannten, die an den Wänden wie Säulen standen. Und Gottvater schloß die Augen und setzte sich tiefer in seinem Throne zurecht, und es war so still in dem großen Sternenraum, daß man nur die Worte des Erzählenden vernahm und die tiefen Seufzer der zehntausend Engel, wenn die böse Frau das fliehende Kind verfehlte oder das Tor der Hütte sich vor dem Wolf noch rechtzeitig geschlossen hatte.

Und als nun endlich der letzte Satz gesprochen und das letzte Wort verklungen war, atmete der ganze Himmelssaal tief auf, und Gottvater öffnete die großen, wissenden Augen und sah den armen Bruder an. »Weißt du auch«, sagte er langsam, »daß es wie der Beginn der Ewigkeit war?«

Und dann blickte er auf die beiden Schalen der goldenen Waage, und alle Augen sahen, daß sie zitternd auf und ab stiegen, die des reichen und die des armen Bruders, und zuletzt blieben sie mit einem leisen Beben im Gleichgewicht stehen. Und während in der einen Schale das goldfarbene Brot lag, schimmerte in der anderen eine kleine, runde Perle, die war dunkelrot wie ein Tropfen Herzblut.

Da kam etwas von der alten Leichtfertigkeit über den älteren Bruder, und während er sich das Haar über dem rechten Ohr wie ein sorgenvoller oder betrogener Kaufherr kratzte, sah er Gottvater an und sagte, auf die tausend kleinen Engel deutend: »Aber siehst du denn nicht, wie ihre Augen leuchten, wenn sie auf mein Brot blicken?«

Da lächelte Gottvater, wie nur ein alter Mann lächeln kann, deutete auf die tausend kleinen Engel, die auf die Perle blickten, und erwiderte: »Und siehst du denn nicht, wie ihre Herzen leuchten?«

Und dann nahm der Engel des Gerichts die Brüder bei der Hand und führte sie die letzten Stufen in den himmlischen Saal empor.

* * *


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