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Die blaue Blume

Eine Frau hatte drei Söhne, mit denen lebte sie in Frieden und Eintracht, und als ihr Mann früh gestorben war, hielt sie alle drei dazu an, ihr in der kleinen Wirtschaft zu helfen. Der älteste war am liebsten auf dem Strom und wurde ein geschickter Fischer wie sein Vater. Der zweite ging schon in der Morgenfrühe aufs Feld, rodete, pflügte und säte und hielt den Acker so in Ordnung, daß sie immer ihr tägliches Brot hatten. Nur der jüngste war ein stilles und scheues Kind, zu keinem Handwerk recht geschickt, und so kam es bald, daß die beiden Brüder ihn mit spottenden Worten wegschickten, wenn er auf dem Strom oder Acker seine Hilfe antrug. Dann ging er traurig zur Hütte zurück, machte sich im Garten zu tun oder setzte sich auch an den Webstuhl der Mutter, wo unter seinen Händen die kunstvollsten Gewebe entstanden.

»Du hättest doch ein Mädchen werden sollen«, sagte die Mutter dann zwischen Scherz und Ernst, strich ihm über das schlichte Haar und wußte nicht recht, ob sein Wesen ihr nun lieb oder leid war.

Die beiden Brüder aber begannen bald, Kreuzer auf Kreuzer zusammenzulegen, und je besser es mit ihrer Arbeit voranging, desto unermüdlicher wurden sie in ihrem Tagewerk, und sie blickten mit scheelen Augen auf den Jüngsten, der, wie sie meinten, sein Brot umsonst aß und den sie am liebsten aus dem Hause gehabt hätten, damit er als Hütejunge oder Knecht für sein Eigenes sorge.

Aber die Mutter ließ es nicht zu und sagte: »Jeder muß nun sein, wie Gott ihn geschaffen hat, und wer weiß, ob nicht noch etwas Rechtes aus ihm wird.«

Da lachten die beiden und sagten: »Ja, ein rechtes Kuckucksjunges wird aus ihm werden, das sehen wir jetzt schon.«

Da machte die Mutter sich Sorgen, wie es wohl werden sollte, wenn sie einmal sterben mußte, aber sie fand keinen Ausweg und ließ es also so gehen, wie es ging. Und wenn sie ihren Jüngsten fragte, ob er vielleicht in die Königsstadt möchte, wo es kunstvolle Handwerke gab und wo er vielleicht einen eigenen Webstuhl aufstellen könnte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich muß wohl bei dir bleiben, denn es hat mich sonst niemand lieb in der Welt.«

Dann küßte sie ihn, sprach ihm gut zu und meinte, es werde sich schon alles fügen.

Bald darnach aber, im nächsten Frühjahr, kam ein großes Unglück über sie alle. Ein großer Regen fiel, fast vierzig Tage lang, und der stille Strom wurde ein wildes Meer, bis er eines Tages über die Ufer stieg, die Saat auf dem Acker fortriß und immer höher anschwoll, bis er das Herdfeuer verlöschte.

Da mußten sie die ganze Nacht bis zu den Hüften im kalten Wasser stehen, damit sie das Vieh und ihre Habe retteten, und als das Wasser sich verlaufen hatte, war die Mutter gelähmt und lag Tag und Nacht auf ihrem Lager, ohne ihre Füße rühren zu können, und weinte still vor sich hin und wäre am liebsten gestorben, um ihren Söhnen nicht zur Last zu fallen.

Da war nun der Jüngste eine rechte Gnade für sie, denn während die beiden anderen fluchend den Acker vom Schlamm säuberten oder die zerrissenen Netze zusammensuchten, saß er am Bett der Mutter, oder kochte das Essen für sie alle, oder brachte ihr die ersten Frühlingsblumen, oder erzählte ihr von den wunderbaren Heilungen, die ein ferner Schäfer oder eine alte Kräuterfrau zuwege gebracht hatten.

Dann sah die Mutter ihn manchmal unter Tränen an und sagte: »Mein liebes Kind, wie haben wir dir doch unrecht getan, und was sollte wohl aus mir werden, wenn du nicht wärest?«

Aber dann wurde der Knabe verlegen, bat sie, nicht so zu sprechen, und sagte wohl auch manchmal kummervoll: »Wenn du wieder gesund bist und die Brüder haben wieder das Ihrige, dann bin ich doch wieder zu nichts nütze, und so soll es wohl sein.«

Als nun aber Woche auf Woche dahinging und kein Schäfer und keine Kräuterfrau etwas helfen konnten, war die Mutter sehr unglücklich, und wenn sie den Knaben nicht gehabt hätte, würde sie sich wohl den Tod gewünscht haben. Auch begannen die beiden Brüder nun leise zu murren, daß keiner so recht für sie sorge und daß alles Ersparte für Narren dahinginge, die mit Salben und Kräutern den Verdienst aus dem Hause trügen.

Da bat die Mutter sie, doch noch einen Monat Geduld zu haben, es sei ihr so, als werde sich dann alles zum Besseren wenden. Und die Brüder schämten sich und sagten, es sei gar nicht so gemeint gewesen, und sie würden natürlich alles tun, um der Mutter wieder zur Gesundheit zu verhelfen.

Als der Monat aber zu Ende ging, hatte die Mutter einen seltsamen Traum, und am Morgen lag sie eine Weile mit geschlossenen Augen da und lächelte so glückselig, daß die Söhne sie fragten, was ihr sei.

Da schlug sie die Augen auf, sah sich in der Stube um und sagte: »Hört mir nun gut zu, liebe Kinder, denn ich denke, daß unser Unglück ein Ende haben wird. Mir träumte nämlich dieses: ich ging einen langen, langen Weg, und er war dunkel und mühsam und voller Gefahr. Da waren Berge und Schluchten und Ströme und Moore, und überall lagen böse Tiere, die wollten mich nicht vorbei lassen. Aber vor mir ging jemand her, der blies ganz leise auf einer silbernen Flöte, und da schlossen sich die Abgründe, und der Strom bekam Brücken und das Moor eine Furt, und die wilden Tiere wichen still zurück. Und endlich kamen wir an eine Waldwiese, die war so still und schön, wie ich es noch niemals gesehen habe, und mitten auf ihr wuchs eine einzige blaue Blume, die war größer als alle Blumen, die wir kennen, und sie leuchtete so herrlich, daß uns die Augen übergingen. Und an dieser Blume führte ein schmaler Pfad durch das Gras vorbei, und auf ihm kamen alle Kranken und Siechen und Elenden dieser Welt gegangen, Greise und Kinder, Frauen und Mädchen, und sie neigten sich einmal zu der Blume nieder und atmeten ihren Duft ein, und darnach richteten sie sich auf und alle Krankheit fiel von ihnen ab, und sie gingen davon, als hätten sie niemals ein Leid getragen.«

Die Mutter schwieg eine Weile, und ihre Augen leuchteten noch immer wie im Traum. Und erst nach einer Weile sagte sie: »Meint ihr nicht, liebe Kinder, daß es ein schöner Traum war?«

Da meinte der zweite der Söhne, daß er gewiß schön sei, aber doch eben nur ein Traum, und von Träumen sei noch niemand gesund geworden.

Der älteste aber fragte, wer denn eigentlich vor ihr hergegangen sei und die Flöte gespielt habe.

Da sagte die Mutter: »Ich kann mich nicht mehr erinnern, es war alles im Halbdunkel und verschwommen, aber es ist mir so, lieber Sohn, als ob du es gewesen wärest.«

Da erschrak der Knabe, denn er dachte schon längst wieder an seine Netze und wie er seinen Verlust einholen könnte. Und er sagte: »Da wirst du dich wohl täuschen, liebe Mutter, denn es liegt ja nicht in meiner Art, eine Flöte zu spielen und wilde Tiere zu beschwören.«

Aber die Mutter sah ihn eindringlich an und sagte: »Es kann sein, lieber Sohn, es kann auch nicht sein. Aber wenn ich dich nun von Herzen bitte, mir auf der Schubkarre ein Lager zu machen und mich zu der Wiese der Genesung zu fahren, würdest du es mir denn verweigern?«

Da wußte er nicht, wohin er blicken sollte, und schließlich sagte er in seiner Not: »Aber wo ist sie denn, diese Wiese der Genesung?«

»Das weiß ich nicht«, sagte die Mutter leise. »Auch als ich dich gebar, wußte ich nicht, ob es mein Tod oder Leben sein würde. Und wir müssen wohl fahren, bis wir sie finden.«

Da murmelte er noch etwas von seinen Netzen und daß die beste Zeit für die Fische jetzt komme, aber als die Mutter traurig sagte, so habe sie sich doch vielleicht getäuscht und es sei ein anderer im Traum gewesen, da schämte er sich doch und sagte, morgen mit dem frühesten könnten sie aufbrechen, und er kenne weder Abgrund noch Strom noch wildes Tier, vor denen er sich fürchte.

Der zweite Sohn konnte seine Freude kaum verbergen, daß dies harte Werk an ihm vorübergegangen sei, aber der jüngste schlich sich still aus der Stube, versteckte sich im Schilf und saß dort traurig, bis es dunkelte.

Am Morgen nahm die Mutter Abschied, und sie sahen ihr lange nach, wie der älteste mit seinen starken Schultern die Karre durch die Heide schob und endlich im Walde verschwand.

So fuhren sie Tag um Tag, und nachts ruhten sie bei mitleidigen Leuten. Am achten Tage aber wurde der Sohn ungeduldig, und seine Arme schmerzten ihn, und er fragte, wohin sie denn nun eigentlich führen.

»Fahre nur zu«, sagte die Mutter bittend, »Gott weiß alle Wege.«

Und am Abend kehrten sie bei einer Hütte ein, die gehörte einer alten Frau, und sie ließ sie am Feuer sitzen und fragte, weshalb sie so über Land führen.

Da erzählte die Mutter ihren Traum, und die Frau sah lange vor sich hin, bis sie endlich zu dem Knaben sagte: »Es könnte wohl sein, daß ich euch ein bißchen helfen kann. Nach drei Tagen werdet ihr an einen großen Strom kommen, und am anderen Ufer werdet ihr ein Schloß sehen. Dann mußt du deine Mutter in den Schatten bringen und um die Abendzeit durch den Strom schwimmen. Am anderen Ufer wird man dir sagen, was du zu tun hast, und du mußt es gern tun, mit fröhlichem Herzen. Und wenn du es getan hast, mußt du deine Hand aufhalten und wirst deinen Lohn empfangen. Aber du darfst dich nicht verweilen, so verlockend es auch sein mag für dich, und du darfst keine Frage stellen. Hast du mich gut verstanden?«

Da versprach der Knabe alles und war froh, daß die Reise nun bald zu Ende sein würde und er wieder an seine Netze gehen könnte.

Am dritten Tage fanden sie alles, wie die Frau gesagt hatte, und der Knabe schob die Karre in den Schatten einer Weide. »Hast du auch alles behalten?« fragte die Mutter.

Da lächelte er überlegen und sagte: »Ich bin doch nicht dein Jüngster.« Und darauf legte er seine Kleider ab und schwamm in den Strom hinaus.

Am anderen Ufer ging er langsam bis an das große Tor in der Schloßmauer und blickte in den Garten. Aber da erschrak er, denn auf der großen Rasenfläche lagen wohl hundert Kranke, Sieche und Sterbende, die waren vom Aussatz befallen, und ihr Leib war von Geschwüren zerfressen. Sie lagen ganz still, ohne zu klagen, aber ihre fiebermatten Augen waren alle nach ihm hingewendet, so voller Inbrunst und Hoffnung, als wäre er der Engel der Erlösung. Er aber blickte voller Grauen auf sie, und er meinte, daß die Frau ihn betrogen habe, nur um ihre Freude daran zu haben.

Aber als er noch so unschlüssig dastand, kam ein Mädchen zwischen den Kranken hindurch auf ihn zugegangen, grüßte ihn freundlich und sagte: »Sei willkommen und sage, ob du tun willst, was ich dich heiße.«

Das wollte der Knabe tun.

»So nimm diese Kranken«, sagte das Mädchen, »einen nach dem anderen in deine Arme, trage sie zum Strom hinunter und wasche sie, denn ich bin zu schwach dazu.«

Da graute es dem Knaben, aber er erinnerte sich an sein Versprechen und begann mit seinem Werk. Die Kranken waren so leicht wie eine Feder, aber ihre Wunden rochen nach Verwesung, und es war ihm so zumute, als müßte er tote Fische über Bord werfen.

Doch blieb er standhaft dabei, und nur bei dem letzten, einem armen, gelähmten Knaben, übermannte es ihn so, daß er nur so tat, als ob er ihn wasche, und ihn dann wieder zurücktrug.

Während der ganzen Zeit stand das Mädchen still auf dem Rasen und sah ihm zu.

Als er nun fertig war, dachte er an nichts anderes, als so schnell wie möglich fortzukommen, und streckte schweigend seine geöffnete rechte Hand aus.

Das Mädchen sah ihn lange an und hob dann eine silberne Flöte an die Lippen, und als sie leise zu spielen begann, standen die Kranken von ihrem Schmerzenslager auf und begannen mit seligem Lächeln einen langsamen Tanz. Nur der arme Knabe, der nicht gewaschen worden war, blieb liegen und sah mit Tränen in den Augen zu.

Da ließ das Mädchen die Flöte sinken und wies den Wartenden aus dem Garten. »Gehe hinaus«, sagte sie streng, »und trage dein unreines Herz zu den Fischen zurück! Deiner Mutter aber sage, daß sie umkehren soll, denn du bist nicht derjenige, der sie erlösen wird.«

Da wurde der Knabe zornig, und er sagte laut: »Und wer bist du, daß du mir Befehle zu geben hast?«

Aber wie er es gesagt hatte, versanken das Schloß und der Garten, das Mädchen und die Kranken, eine öde Heide lag um ihn, und in der Ferne saß eine alte Frau auf einem Stein, die hob einen Stock und drohte ihm.

Da machte er sich schnell davon, schwamm wieder durch den Strom und sagte böse zu seiner Mutter: »Es war alles Lug und Trug, und ich bin es nun müde, deinen Träumen nachzujagen.« Und damit nahm er die Schubkarre und fuhr denselben Weg zurück.

Als sie wieder zu Hause angekommen waren, lief der älteste gleich nach seinen Netzen, und seine beiden Brüder hoben die Mutter auf und betteten sie wieder auf ihr Lager. Dort sah sie ihre beiden Söhne an und sagte: »Es wäre umsonst, aber ich habe mich getäuscht.«

»Worin hast du dich getäuscht?« fragte der zweite.

»Daß ich dachte, es sei dein Bruder. Aber nun, wo ich mich recht erinnere, ist es mir doch fast gewiß, daß du es warst, der im Traume vor mir herging.«

Da erschrak der zweite ein wenig und sagte, daß es nun auf dem Felde heiße Arbeit gebe und er vom Flötenspielen nichts verstehe.

Aber die Mutter sah ihn traurig an und sagte: »Wenn ich dich nun recht von Herzen bitte, würdest du es mir dann verweigern?«

Da schämte sich der zweite und sagte, daß sie morgen mit dem frühesten aufbrechen könnten, und was dem ältesten nicht gelungen sei, werde ihm sicherlich gelingen, denn er sei stiller und geduldiger als der andere.

Der jüngste aber schlich sich wieder leise aus der Stube, verbarg sich im Schilf und saß dort traurig, bis es dunkelte.

Am nächsten Morgen fuhr der zweite Sohn die Mutter über die Heide, und es ging ihnen wie bei der ersten Fahrt. Und als sie nach acht Tagen wieder zu der alten Frau kamen, nahm diese sie wieder freundlich auf, ließ sie sich am Feuer wärmen und sagte dann zu dem Knaben: »Nach drei Tagen werdet ihr an ein großes Moor kommen, und weit hinten, zwischen Schilf und Binsen, werdet ihr eine Hütte sehen. Dann mußt du deine Mutter in den Schatten bringen und am Abend auf die Hütte zugehen. Und du darfst dich nicht fürchten, ob auch die Erde unter dir weicht. Und an der Hütte mußt du tun, was man dir aufträgt, und darfst dich nicht verweilen und keine Frage stellen. Und denke immer an deinen Bruder, dem es mißlungen ist, weil er nicht gehorsam war.«

»Daran soll es nicht fehlen«, sagte der Knabe zuversichtlich, und am dritten Abend tat er, wie es ihm befohlen war. Zwar graute es ihn schon, als er noch weit von der Hütte entfernt war, denn die Erde wich unter ihm, und große Blasen stiegen aus der Tiefe, und Kröten saßen rechts und links des Weges und sahen ihn mit ihren goldenen Augen an, als freuten sie sich schon auf die seltene Speise. Aber er blieb doch tapfer dabei, und nur den kalten Schweiß mußte er sich von der Stirne abwischen, als er die Hütte erreicht hatte.

Ringsum war alles öde und leer, aber in der Hütte saßen drei schöne Jungfrauen, die spannen schweigend jede an einem Spinnrad, und die Fäden, die sie spannen, waren aus reinem Gold.

»Das wäre etwas für mich«, dachte der Knabe, »und ich muß zusehen, daß ich das für mich gewinne.«

Da die Mädchen schwiegen, sah er sich um und erblickte in einem Winkel der Hütte ein kleines Kind, das lag in einer Wiege und lächelte ihm zu. Schon wollte er den Mund auftun und fragen, was das alles bedeute, aber es fiel ihm rechtzeitig ein, was die alte Frau gesagt hatte, und er sah zu, wie die Mädchen ihre Fäden zu Ende spannen, und dachte, daß er, wenn er nun aufs Feld gehen werde, sein Pferd an einer goldenen Leine würde führen können. »Es ist nur gut«, sagte er sich, »daß sie mich nicht hinter den Strom geschickt haben, um Aussätzige zu waschen, wie es meinem Bruder geschehen ist. Hier sieht mir die Sache sehr viel leichter aus.«

Inzwischen hatten die Mädchen ihre Rocken abgesponnen, und die älteste winkte den Knaben heran und sagte: »Nimm diese Fäden und knüpfe daraus ein Netz, damit wir das Kind hineinlegen und wiegen können.«

Da wunderte er sich, machte sich aber fleißig an die Arbeit, denn er sah, daß die Mädchen einen Tisch mit den herrlichsten Speisen zubereiteten und Krüge mit goldenem Wein dazusetzten. Die Arbeit ging ihm leicht von der Hand, denn er hatte seinem Bruder oft bei den Netzen geholfen. Nur den letzten Faden schob er heimlich in die Tasche, falls es ihm nicht gelingen sollte, das Netz mit sich zu nehmen.

Als er fertig war, hingen die Mädchen das Netz über einen Haken in der Decke, legten das Kind hinein, und wenn sie es sanft anstießen, schwang es leise hin und her durch den Raum. »Du kannst dich nun an diesen Tisch setzen«, sagte die älteste wieder, »und essen und trinken, was du begehrst. Aber vergiß nicht die goldene Wiege zu schaukeln, sonst ist alles umsonst, was du getan hast. Wir drei haben noch draußen zu tun.«

Da versprach der Knabe alles, und kaum sah er die Mädchen über das Moor gehen, als er sich an den Tisch setzte und wie ein Drescher alles verschlang, was sein Magen nur fassen konnte. Noch nie hatte er so herrliche Dinge gegessen, und er wollte seiner Mutter gern ein bißchen davon mitnehmen. Aber da er immer noch Hunger hatte, so hörte er nicht eher auf, als bis nur die leeren Schüsseln dastanden, und auch die leckte er aus, wie es in seiner gierigen Art lag.

Dazwischen stieß er ab und zu das goldene Netz an und wartete auf die Mädchen. Als aber alles still blieb, wurde er müde und streckte sich auf das Lager neben dem Herd, und mit einem Stab, der am Kopfende lehnte, fuhr er fort, das Kind zu wiegen, solange bis ihm die Augen zufielen.

Er erschrak, als die Morgensonne ihn weckte und die Mädchen schweigend vor seinem Lager standen. »Ach«, sagte er dreist, »ein bißchen bin ich wohl eingenickt, aber es war schwer genug, die Mutter zu fahren. Kranke sind so schwer wie ein Mühlstein.«

Die Mädchen sagten noch immer nichts, und die älteste reichte ihm schweigend eine kleine, silberne Flöte und ein Kraut, das duftete nach Wermut.

Da war er sehr froh, denn er war nun überzeugt, daß er die Blume finden würde. Das Kraut schob er achtlos in die Tasche. Und da niemand ein Wort sprach, machte er sich davon und lief, so schnell er konnte, über das Moor zurück. Die Kröten lagen noch immer da, und es war ihm, als blickten sie ihm höhnisch nach.

Seine Mutter fragte ihn traurig, weshalb er so lange ausgeblieben sei und hätte sich doch nicht verweilen sollen. Aber er lachte nur übermütig, zog die Flöte aus der Tasche und setzte sie an den Mund. Aber als das kühle Metall seine Lippen berührte, verwandelte es sich in eine Schlange, die stach ihn in den Mund, und er schrie vor Schmerz und Entsetzen auf.

Da erschrak die Mutter und fragte ihn, ob er nichts anderes mitbekommen habe, und da fiel ihm das Kraut ein, und er legte es schnell auf die Wunde. Aber kaum daß der Schmerz nachgelassen hatte, so begann er zu fluchen, daß die Alte sie ins Verderben geschickt habe und daß er Lust habe, ihre Hütte anzuzünden, wie es solchen Hexen gezieme.

Die Mutter aber sagte traurig: »Kehre nur um, lieber Sohn, und was uns ins Verderben schickt, ist immer nur unser eigenes Herz.«

So kamen sie wieder zu Hause an, und als die beiden Brüder ihn fragten, welches Mißgeschick ihn betroffen habe, sagte er laut: »Gar keines!« und griff in die Tasche, um den goldenen Faden herauszuziehen. Aber was er herauszog, war nichts als ein Pferdehaar, und der älteste lachte ihn aus.

Als die Mutter aber schlaflos und traurig auf ihrem Lager ruhte, kam der Jüngste leise zu ihr, kniete bei ihr nieder und sagte: »Weine nicht, liebe Mutter. Morgen in der Frühe wollen wir beide uns aufmachen, und das drittemal wirst du dich nicht getäuscht haben.«

Da umfing die Mutter ihn mit aller Zärtlichkeit und sagte: »Liebstes Kind, vergib mir nun, daß ich blind war, und laß es mich nicht entgelten.«

Er aber bat sie, nicht so zu sprechen, und am anderen Morgen brachen sie auf. Die beiden Brüder aber spotteten und meinten, am Abend wollten sie ihn am Waldrand abholen, denn bis dahin werde er doch wohl kommen mit seinen starken Armen.

Der Knabe hatte sich wohl etwas gefürchtet, aber wie er die Karre aufhob, war sie leicht wie eine Feder, und den ganzen Tag lang plauderte und sang er, so daß die acht Tage ihnen vergingen wie im Traum. Die alte Frau aber war so freundlich, daß sie nicht wußte, was alles sie ihnen Gutes tun konnte, und als sie wieder aufbrachen, segnete sie den Knaben und sagte: »Sei nur so gut und still wie immer, eine andere Wissenschaft brauchst du nicht von mir.«

Nun hatten die Brüder ihm nichts von ihren Erlebnissen erzählt und ihm nur arglistig geraten, er solle immer ordentlich fragen, daran habe es bei ihnen gefehlt. Die Mutter aber wiederholte ihm den Rat der alten Frau, und als sie am Strom angekommen waren, küßte sie ihn und ließ ihn gehen.

Er traf alles an wie der älteste Bruder, und es erbarmte ihn der Kranken, und er wusch sie so sorgfältig, als ob er seine Mutter unter den Händen hielte.

Da bedankte sich das Mädchen, streichelte ihm die Wangen und reichte ihm die silberne Flöte. »Sei nur unverzagt!« sagte sie, »es wird dir an nichts fehlen.«

Und auch in der Moorhütte traf er alles an, wie der zweite Bruder es getroffen hatte. Aber er legte sich nicht nieder, verwahrte etwas Speise und Wein für seine Mutter und wiegte das Kind, bis die drei Mädchen zurückkamen.

Da bedankten sie sich, streichelten ihm die Wangen und schenkten ihm das goldene Netz, das er geflochten hatte.

Drei Tage darauf kamen sie an einen großen Wald, aber bevor sie die ersten Bäume erreichten, geschah ein großes Unglück, indem das Rad der Karre brach und nicht mehr wieder zurechtzumachen war.

Da stand der Knabe ganz bestürzt da und wollte seine Mutter auf dem Rücken weitertragen, aber sie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich glaube nicht, daß die Mädchen dir das Netz ohne Absicht gegeben haben. Laß mich nun hineinsteigen und sehen, was daraus wird.«

Und als sie mit beiden Füßen hineingestiegen war und er es aufzuheben versuchte, war es so leicht wie eine Feder, und er nahm die Mutter behutsam auf den Rücken und ging mit ihr in den Wald hinein.

Da war es nun so, wie es der Mutter geträumt hatte. Daß Abgründe und Schluchten sich vor ihnen auftaten, daß der Boden der Moore unter ihnen wich und daß Wölfe und Schlangen und große Spinnen sich vor ihnen aufrichteten, um sie nicht vorbeizulassen. Aber der Knabe nahm die Flöte aus dem Kleid und blies leise vor sich hin, und da taten die Abgründe sich zu, und das Moor wurde fest unter ihnen, und die Tiere neigten sich und schlichen still in ihr Dickicht zurück.

Und dann kamen sie an die Waldwiese, von der die Mutter geträumt hatte, und schon von ferne sahen sie den blauen Schein, der von der Blume ausging und den ganzen Himmel erleuchtete. Da stellten sie sich still an das Ende der langen Reihe von Kranken und Siechen und warteten, bis auch ihre Stunde gekommen war. Und als die Mutter auf ihre kraftlosen Knie sank und ihr Gesicht über die Blume neigte und ihren süßen Duft einatmete, richtete sie sich glückselig wieder auf, und alle Krankheit war von ihr abgefallen, und sie ging mit dem Knaben davon, als hätte sie niemals ein Leid getragen.

Als sie aber aus dem Walde herausgekommen waren und ein wenig rasteten, sah die Mutter den Knaben an und sagte: »Nun sind mir meine Augen aufgegangen, und ich bitte dich, mir zu vergeben, daß ich gering von dir gedacht habe, weil ich dein Herz nicht erkannt hatte.«

Der Knabe aber wollte es nicht hören: »Laß nur gut sein, liebe Mutter«, sagte er. »Wir wollen nun ein schönes und stilles Leben führen, und ich werde nicht mehr im Schilf zu sitzen und traurig zu sein brauchen.«

Als sie nach Hause kamen, verwunderten die Brüder sich über alle Maßen und meinten schließlich zu ihrem Trost, daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.

Die Mutter aber sah sie eine Weile an und sagte dann: »Es geht überall mit rechten Dingen zu, liebe Söhne, wo ein reines Herz das Dunkel besiegt. Und da ihr noch jung und stark seid, so wäre es gut für euch, wenn ihr etwas in die Welt ginget, um dort zu lernen, daß es noch mehr gibt, als Gulden auf Gulden zu häufen. Und wenn ihr das gelernt habt, sollt ihr wiederkommen und bei uns leben.«

Da war es den Söhnen zuerst nicht recht, Acker und den Fischfang aufzugeben. Aber als die Mutter jedem von ihnen einen goldenen Faden aus dem Netz gereicht hatte, damit sie einen Anfang hätten, war es ihnen recht, zu zeigen, daß sie noch mehr könnten als eine Traumblume finden.

Die Mutter aber blieb mit ihrem Jüngsten in der Hütte, und es gelang ihnen alles wohl, was sie begannen.

* * *


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