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Bruder und Schwester

Ein Mann und eine Frau lebten in einer Hütte an einem großen Wald. Der war so groß, daß noch kein Mensch ihn ganz durchwandert hatte. Der Mann sammelte Harz und war ein Pechbrenner. Die Frau hatte einen kleinen Garten und eine kleine Herde von Schafen. Denen nahm sie die Wolle und spann die ganzen Winterabende beim Licht eines Kienspans. Und wenn sie die Wolle gewebt hatte, nahm sie eine Kiepe auf den Rücken, trug sie über Land und verkaufte das Gewebte. So lebten sie schlecht und recht.

Der Mann und die Frau hatten zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, die liebten einander sehr. Und wo das eine war, war auch das andere, und wenn das eine weinte, weinte auch das andere, so lange, bis sie beide zusammen wieder lachten und fröhlich waren.

Die Eltern hüteten ihre Kinder wie ihre Augäpfel, und wenn der Vater aus dem Walde kam, hatte er immer etwas in den Rocktaschen für sie, einen seltsam geformten Baumschwamm, oder einen bunten Stein, oder ein zierlich geflochtenes Körbchen mit Heidelbeeren oder Himbeeren. Im Sommer hüteten die Kinder die Schafe, und im Winter saßen sie vor dem Herd, in dem das Torffeuer brannte, hörten zu, wie die Mutter ihnen Märchen erzählte, oder bauten Häuser und Gärten aus Holzstücken und Tannenzapfen.

Niemals durften sie in den Wald gehen, weil die Wölfe und Bären bis an die Hütte streiften und auch von Unholden die Rede ging, die kleine Kinder verzauberten oder in den Grund des Moores hinunterzogen.

Da kam an einem Herbstmorgen einmal eine alte Frau an der Hütte vorbei, die trug eine Last Holz auf dem Rücken und stützte sich auf einen Stab. Und als sie die Kinder vor der Schwelle spielen sah, blieb sie stehen, sah ihnen eine Weile zu und sagte dann zu dem Knaben: »Komm und hilf mir ein bißchen mein Holz tragen, ich will dir auch eine goldene Spindel schenken.«

Aber die Mutter, die aus der Hütte getreten war, erschrak, zog den Knaben an sich und sagte: »Er sollte es gerne tun, aber er ist noch zu klein dazu.«

Da lachte die Frau, daß man ihre großen gelben Zähne sah, und sagte: »Zu klein? Nun, so soll er noch viel kleiner werden.«

Und damit ging sie davon und verschwand im Walde. Die Mutter aber fürchtete sich und verbot den Kindern noch viel strenger als früher, jemals in den dunklen Wald zu gehen.

Und wieder einmal an einem Frühlingstag kam ein alter Mann an der Hütte vorbei, der führte eine weiße Ziege mit sich, und die Ziege wollte nicht folgen. Da sagte er zu dem Mädchen: »Nimm doch diesen Stock und hilf mir ein wenig das Tier treiben, bis wir im Walde sind. Ich will dir auch zwei goldene Schuhe schenken.«

Aber die Mutter, die aus der Hütte getreten war, erschrak wieder, zog das Mädchen an sich und sagte: »Es sollte es gerne tun, aber es ist noch zu zart dazu.«

Da lachte der Mann, daß seine kleinen Augen ganz unter bösen Falten verschwanden, und sagte: »Zu zart? Nun, so soll sie noch viel zarter werden.«

Und damit ging er mit der Ziege davon und verschwand im Walde.

Die Mutter aber verbot den Kindern noch einmal, in den Wald zu gehen, da sie ja nun gesehen hätten, was für Leute dort wohnten.

Nun mußte die Mutter aber im Sommer mit ihrer Kiepe und dem, was sie gewebt hatte, über Land gehen. Und da der Vater erst am nächsten Tage zurückkehren sollte, kochte sie das Essen für die Kinder, ermahnte sie, brav und gehorsam zu bleiben und ja nicht in den Wald zu gehen.

Die Kinder taten alles, wie es ihnen gesagt worden war, schütteten am Abend Asche auf das Herdfeuer, schoben den großen Riegel vor die Tür und schliefen aneinandergedrückt ein.

In der Nacht aber hatten sie beide einen merkwürdigen Traum. Dem Knaben träumte, er sei zum erstenmal in dem großen Walde und er stehe ganz still in dem grünen Moos und schaue zu den riesigen Eichenwipfeln hinauf. Darin sang der Wind wie in einer großen Harfe, und als er genauer hinhörte, vernahm er eine Stimme, die sagte: »Hilf nicht! Hilf nicht!« Da sah er sich um, ob da etwas wäre, das der Hilfe bedürfe, aber nur der Wald stand schweigend da. Und da fürchtete er sich ein wenig und wollte wieder auf die Heide hinaus, aber er fand einen ganzen Wald von Himbeeren, die waren so groß wie Haselnüsse, und da blieb er stehen und pflückte eine ganze Hand voll. Aber als er sie essen wollte, sagte wieder eine Stimme aus den Wipfeln: »Iß nicht! Iß nicht!« Und er sah, wie aus den Früchten dunkle Würmer herauskrochen, und warf sie schnell fort und wollte nach Hause laufen, aber die Ranken schlangen sich um seine Füße, und er konnte nicht weiter, so sehr er sich mühte.

Da weckte er seine Schwester und erzählte ihr den Traum, aber sie lachte und neckte ihn, daß er zuviel Buchweizengrütze am Abend gegessen habe. Und darauf schliefen sie wieder ein.

Nun aber träumte der Schwester, daß sie im Walde stehe, ganz still in dem grünen Moos, und einer Kreuzspinne zusehe, die spann ein großes Netz, und das Netz war ganz aus Goldfäden gesponnen. Aber da kam ein großer, blauglänzender Käfer und flog durch das Netz und zerriß seine Fäden. Die Spinne begann von neuem, aber wieder kam der Käfer und zerriß das Netz. Da trat die Schwester näher und hob die Hand, um das Netz an den dünnen Buchenzweigen wieder festzumachen. Aber da hörte sie den Wind über sich durch die Wipfel ziehen, und er war wie eine Stimme, und die Stimme sagte: »Hilf nicht! Hilf nicht!« Da erschrak sie, ließ das Spinnennetz und wollte wieder auf die Heide hinaus. Aber da war der ganze Boden unter den Eichen mit Pilzen bestanden, die sahen aus, als seien sie von Gold, und sie schrie auf vor Entzücken und breitete ihre Schürze aus und bückte sich, um die Pilze zu sammeln. Aber da ging wieder der Wind durch die Wipfel, und eine Stimme sagte: »Brich nicht! Brich nicht!« Aber da hatte sie schon einen abgebrochen, und wo er gestanden hatte, war eine kleine Blutlache im Moos, und sie schrie vor Schrecken und erwachte.

Da schlug ihr das Herz vor Angst, und sie sah den Mond, wie seine Sichel gerade aus dem kleinen Fenster verschwand.

Da weckte sie ihren Bruder und erzählte ihm den Traum, aber er lachte nicht, sondern sagte: »Das schickt uns die Mutter, daß wir nicht in den Wald gehen.«

Am nächsten Tage nun hüteten sie die Schafe, gruben sich kleine Sandhöhlen in der Heide und spielten so fröhlich vor sich hin wie sonst. Um die Mittagszeit aber, als sie ihre Grütze gegessen und die Milch getrunken hatten und auf der Schwelle nebeneinander saßen, indes die Schafe im Schatten der Birken ruhten, sahen sie am Waldrand einen Vogel, der war so groß wie eine Amsel, aber so herrlich blau und grün und rot gefärbt, daß er viel schöner anzusehen war als die Mandelkrähe, ja schöner auch als der Eisvogel, den sie manchmal am Ufer des Baches vorüberblitzen sahen.

Da wunderten sie sich sehr, sprangen auf und schlichen näher, und wenn der Knabe sagte: »Denke, liebe Schwester, daß die Mutter es verboten hat!« so sagte die Schwester: »Ach, sie sieht es ja nicht, und er ist doch so wunderbar schön.«

Und ehe sie sich versahen, waren sie am Waldrand, und der Vogel flog immer dicht vor ihnen her und blickte sich um, als wollte er gerne, daß sie ihm folgten. Und das Moos war so weich und warm unter ihren nackten Füßen, und die alten Eichen rauschten so leise und vertraut, daß sie wie verzaubert waren, und es dauerte gar nicht lange, so waren sie schon tief im Walde, und so sehr sie sich auch umsahen, sie konnten das Dach der Hütte und die Heide nicht mehr erblicken.

Da begann der Knabe sich zu fürchten, nahm seine Schwester bei der Hand und wollte aus dem Walde heraus. Aber je mehr er herauswollte, desto tiefer kam er hinein, und endlich blieb er ratlos stehen, sah sich unter den Eichen um, die eine wie die andere dastanden, gewaltig und schweigend, und sagte: »Ach, liebe Schwester, nun haben wir uns wohl verirrt.« Der schöne Vogel aber saß über ihnen auf einem trockenen Ast, hielt den Kopf schief, und es war, als blicke er spöttisch zu ihnen herunter.

Als der Knabe aber das gesagt hatte, zerteilten sich die Büsche, und ein Mädchen kam über das Moos, das war ein wenig größer als sie selbst, und nickte ihnen freundlich zu und sagte: »Fürchtet euch nur nicht. Gerade hat die Muhme mich mit einem Sack voll Mehl zu euch geschickt, faßt mich nur an den Händen, und gleich werden wir auf der Heide sein.«

Da freuten sich die Geschwister, auch wenn sie das Mädchen nie bei der Muhme gesehen hatten, aber bevor sie nun ihren Weg zusammen fortsetzen wollten, sagte das Mädchen, das ganz gebeugt unter dem schweren Sack ging, zu dem Knaben: »Schiebe mir doch zuerst den Sack ein bißchen höher, damit ich ihn besser tragen kann.«

Und wie sie das gesagt hatte, kam ein Wind über den Wald gezogen und sang in den Eichenwipfeln wie in einer großen Harfe, und eine Stimme rief ängstlich und beschwörend: »Hilf nicht! Hilf nicht!«

Aber da war es schon zu spät, denn der Knabe hatte schon mit seiner Schulter den Sack berührt, und als er ihn berührt hatte, und der weiße Mehlstaub ihm über den Rock gefallen war, fühlte er voller Entsetzen, wie sein Körper kleiner und kleiner wurde, wie er im Moos zu versinken schien, bis schließlich ein junger Steinpilz statt seiner dastand, mit einem dicken, fein gezeichneten Stiel und einer braunen schweren Kappe, die ihm tief über die Augen fiel.

Da verwandelte das Mädchen sich in dieselbe alte Frau, die einmal an der Hütte vorübergekommen war, und aus dem schönen Vogel wurde eine Elster, die flog der Frau auf die Schulter und krächzte böse zu dem Pilz herunter. Und die Frau lachte höhnisch und sagte: »Nun, mein Söhnchen, bist du so klein, wie ich dir einmal versprochen habe. Und nun sieh nur zu, daß die Schnecken dir nicht die Ohren abfressen.«

Und damit verschwand sie zwischen den Büschen, und nur die Elster mit ihrem mißtönigen Krächzen war noch eine Weile zu vernehmen.

Der Knabe stand ganz still im dunklen Moos, ganz versteinert und erstarrt vor Schmerz und Entsetzen, aber die Schwester warf sich neben ihm auf die Knie, umfing ihn mit ihren Händen, weinte bitterlich und schluchzte: »Ach, vergib mir, liebster Bruder, daß ich dich hierhergeführt habe. So will ich nun auch bei dir bleiben, mein Leben lang, und dich behüten, daß dir kein Leid geschieht.«

Der kleine Bruder wollte den Kopf schütteln, aber da ihm das nicht gelang, so sagte er: »Sei nun nicht traurig, liebste Schwester. Sieh nur zu, daß du schnell nach Hause findest, und rufe laut nach dem Vater, der wollte um diese Zeit heimkehren. Und Vater und Mutter werden schon etwas finden, daß ich so werde, wie ich früher war. Gräme dich nur nicht und laufe schnell.«

Da nahm die Schwester Abschied von ihm. Aber als sie sich auf den Weg machen wollte, stand ein schöner Knabe da, der lächelte ihr freundlich zu und sagte: »Habe nur keine Angst. Ich habe die ganze Zeit hinter dieser Eiche gestanden und zugesehen. Und da die Alte meine Muhme ist, so weiß ich genug von ihren Zauberkünsten, um deinem armen Bruder zu helfen. Komme nur, daß wir gleich zu ihr gehen und den Ring holen, aber vorher mußt du eine Hand voll Heidelbeeren pflücken, damit wir ihr ein Mus machen und sie davon ißt.«

Da bückte sich das Mädchen schnell und war voller Freude, aber wie sie die Hand ausstreckte, ging ein Wind durch den Wald und sang in den Eichenwipfeln, und eine Stimme rief ängstlich und beschwörend: »Brich nicht! Brich nicht!«

Aber da war es schon zu spät, denn das Mädchen hatte schon schnell von dem Kraut gebrochen, und nun fühlte es voll Entsetzen, daß es immer kleiner und kleiner wurde, noch kleiner als der Bruder, daß ein graues gewundenes Haus sich auf seinen Rücken legte, daß zwei Hörner aus seiner Stirn wuchsen, und daß es zuletzt eine kleine Schnecke war, die lag im Moos, in einer feuchten Spur, und das Heidelbeerkraut erschien ihr gewaltig wie ein großer Eichenwald und die blauen Beeren riesig wie große Kürbisse.

Und da verwandelte der schöne Knabe sich in denselben alten Mann, der einmal an der Hütte vorbeigekommen war, und er lachte höhnisch und sagte: »Nun, mein Töchterchen, bist du so zart, wie ich dir einmal versprochen habe, und nun haltet gute Freundschaft, ihr beiden, und sieh zu, daß du es nicht bist, die ihm die Ohren abfrißt!«

Und damit verschwand er zwischen den Büschen, und der Wald war still und stumm wie ein großes Haus, in dem niemand mehr wohnte.

Da ängstigte sich der Bruder, weil er seine Schwester nicht mehr sah und sagte: »Wo bist du liebe Schwester, daß ich dich sehen kann?«

Da kroch die Schwester, so schnell sie konnte, über das Moos zu ihm hin, aber es war ein weiter Weg für sie, und es dauerte lange, bis sie alle Täler und Abgründe überwunden hatte und sie endlich sagen konnte: »Hier bin ich, lieber Bruder, und nun sind wir beide verloren und verdorben.«

Der Bruder erschrak wohl, aber er tröstete sie, daß die Eltern sich gleich auf die Suche machen würden, und so lange müßten sie sich still halten, daß kein Feind sie entdecke und ihnen Schaden an ihrem Leibe zufüge.

Sie schwiegen nun, und die Schnecke weinte still vor sich hin, und wo ihre Tränen hinfielen, da gab es eine kleine silberne Spur. Am Abend aber, als es kühl durch den großen Wald schauerte, klomm sie an dem Fuß des Bruders in die Höhe und schmiegte sich in die Höhlung zwischen Körper und Kappe. Da war es warm und dunkel, und sie schlief ein.

Aber der Bruder wachte die ganze Nacht über ihr, sah unter seiner Kappe zu den Sternen auf und bedachte, wie er seine kleine Schwester erlösen könnte.

Am nächsten Morgen nun, als die Sonne wieder in den Tautropfen funkelte und die Vögel lustig sangen, war er wieder voller Hoffnung und dachte, daß sie doch beide den Fremden niemals etwas zuleide getan hätten und der Fluch nicht lange an ihnen bleiben könnte.

Die Schwester aber, als sie erwachte, jammerte gleich über ihren häßlichen, verunstalteten Körper und daß sie Hunger und Durst leide. Da redete ihr der Bruder gut zu und meinte, sie könnten nun nicht für ewig hier bleiben, da ja auch die Eltern gar nicht wüßten, wo sie sie zu suchen hätten. Und da er selbst nun festgewachsen sei in der Erde, so müsse sie sich schon aufmachen und versuchen, den Heimweg zu finden. Und wenn es auch lange dauern werde, so wolle er Geduld haben und hier still stehen bleiben, wie ja auch allen Pilzen auf der Welt nichts anderes übrig bleibe.

Die Schwester war es wohl oder übel zufrieden und kroch langsam bis zu dem Rand seiner Haube, von wo sie weit in den Wald sehen konnte. Und wie sie da saß und den Weg nach Hause bedachte, kam sie ein unstillbares Verlangen an, von dem süß duftenden Rand der Pilzhaube zu essen. Und obwohl sie sich schalt und schmähte, sagte sie es doch endlich zu ihrem Bruder.

Da sagte er traurig: »Wenn du so großen Hunger hast und nichts anderes zu finden vermeinst, so tue es nur!«

Da aß sie ein ganz kleines Stück von der Rande auf, und es blieb eine weiße Narbe zurück.

Da sagte der Bruder leise: »Nun hast du mein linkes Ohr gegessen.«

Da weinte die Schwester bitterlich und bat ihn um Vergebung, aber er sagte nur: »Du kannst ja nichts dafür. Das ist der alte Mann, der es gegessen hat.«

Nun kroch sie langsam hinunter, um sich auf den Weg zu machen, immer noch weinend. Aber als sie an dem breiten Fuß hinunterklomm, sagte sie voller Verzweiflung: »Liebster Bruder, sei mir doch nicht böse, aber ich habe so schreckliche Lust, noch ein kleines Stückchen zu essen. Bitte, erlaube es mir doch!«

Da sagte er traurig: »Wenn du so großen Hunger hast und nichts anderes zu finden vermeinst, so tue es nur.«

Da aß sie ein ganz kleines Stückchen von dem Stiel, und es blieb nur eine kleine weiße Narbe zurück.

Da sagte der Bruder leise: »Nun hast du meinen linken Fuß gegessen.«

Da weinte die Schwester noch mehr und bat ihn um Vergebung, aber er sagte nur: »Du kannst ja nichts dafür. Das ist der alte Mann, der es gegessen hat. Aber vielleicht ist es nun gut, daß du gehst, damit du mich nicht ganz aufissest.«

Da machte sich die Schwester auf den Weg, sah noch einmal nach dem Stand der Sonne, daß sie die Richtung nicht verliere, und kroch dann langsam über Moos und Gräser in den Wald hinein. Wenn sie müde war, ruhte sie ein wenig unter einem Huflattichblatt, aber dann dachte sie an ihren Bruder, wie er einsam und verlassen im großen Walde stehe, und dann machte sie sich gleich wieder auf den Weg.

Gegen Abend aber, als sie am Rande eines kleinen Wassers entlangkroch, erschrak sie plötzlich zu Tode, so daß sie ihre Hörner einzuziehen und in ihr kleines Haus zurückzuschlüpfen vergaß. Denn eine große braune Kröte saß in ihrem Wege und blickte sie mit ihren goldenen Augen an.

»Ach, liebe Kröte«, sagte die Schnecke voller Angst, »tue mir doch nichts zuleide, denn mein kleiner Bruder steht verzaubert im Wald, und ich muß zu unseren Eltern, damit sie uns befreien.«

Da ließ sich die Kröte ihr Schicksal erzählen, schüttelte bekümmert den Kopf und sagte endlich: »Menschenhände wissen von diesen Dingen nichts, und es ist umsonst, daß du zu deinen Eltern gehst. Aber setze dich nun auf meinen Rücken, damit ich dich ein Stück trage. Und am Abend wirst du den Maulwurf treffen, der wird dich wieder ein Stück tragen, und darnach schicke ihn zu mir. Und morgen wirst du den Igel treffen, dem sage einen Gruß von mir und kehre mit ihm zurück. Und wir drei werden versuchen, euch beizustehen, denn wir sind die klügsten Tiere in diesem Wald. Und wenn es uns nicht gelingt, so wird es niemandem gelingen.«

Da kroch die kleine Schwester der Kröte auf den Rücken, und obwohl es dort kalt und feucht war, hielt sie sich doch fest, und die Kröte hüpfte in großen Sprüngen waldeinwärts, und der Abendtau fiel von den Gräsern in kühlen Tropfen auf das Haus der kleinen Schwester.

Als der Abendstern durch die Wipfel schien, hielt die Kröte an und sagte: »Nun warte hier, bis der Maulwurf kommt, und gib dich rechtzeitig zu erkennen. Ich aber will zu deinem Bruder, daß ihm kein Leid geschieht.« Und damit sprang sie den Weg wieder zurück.

Da kauerte die kleine Schwester in der Dämmerung und schrak zusammen, wenn ein Ast sich rührte oder ein Blatt vom Baume fiel. Und als etwas Dunkles lautlos über das Moos gekrochen kam, rief sie schon von weitem: »Ach, tue mir doch nichts zuleide, lieber Maulwurf, denn mein kleiner Bruder steht verzaubert im Wald, und die Kröte hat mich bis hierher gebracht.«

Da ließ sich der Maulwurf ihr Schicksal erzählen, schüttelte bekümmert den Kopf und sagte: »Das sieht nicht gut aus, weil der alte Mann und die alte Frau böse und voller Macht sind. Aber wir wollen es versuchen. Nun steige auf meinen Rücken, daß ich dich noch ein Stück trage. Und dann muß ich zu deinem kleinen Bruder, daß ihm kein Leid geschieht.«

Da kletterte die kleine Schwester auf den Rücken des Maulwurfs, da war es warm und glatt, und sie mußte sich ordentlich festhalten, um nicht herunterzufallen.

Und nach einer Weile nahm er Abschied von ihr und befahl ihr, still auszuruhen, bis der Igel vorbeikommen werde.

Da verbarg sie sich im trockenen Laub und schlief, bis die Morgensonne sie weckte und der Igel die spitze Nase in die dürren Blätter steckte. Und als sie ihm alles erzählt hatte, schüttelte er bekümmert den Kopf und meinte, daß das eine böse Sache sei, aber sie wollten es alle drei versuchen. Und dann kletterte sie an seinen Stacheln in die Höhe, hielt sich auf seinem Rücken fest und ließ sich durch den Wald zurücktragen, bis zu der alten Eiche, unter der ihr kleiner Bruder stand. Und rechts und links von ihm saßen schon die Kröte und der Maulwurf und blickten ihnen entgegen.

Da waren sie nun alle zusammen, und nach einer Weile sagte die Kröte als die älteste von ihnen: »Es sind nun wohl hundert Sommer und Winter über diesen Wald gegangen, seit ich hier lebe, und vieles haben meine Augen gesehen. Immer sind der alte Mann und die alte Frau hier umgegangen, und viele Tränen sind hier geflossen. Und beim nächsten Neumond werden sie kommen und werden den Steinpilz schneiden und die Schnecke aufheben, um sie zu essen.«

»Das darf nicht sein!« sagte der Maulwurf.

»Das darf nicht sein!« sagte auch der Igel und richtete sein Stachelkleid auf.

»Das sagt ihr so«, erwiderte die Kröte. »Aber wißt ihr etwas dagegen?«

Sie wußten es beide nicht.

»Aber ich weiß es«, sagte die Kröte, »weil wir das Verborgene wissen. Sie bewahren beide, der alte Mann und die alte Frau, ein Fläschchen, darin ruhen ein paar helle Tropfen. Und wenn von diesen Tropfen nur einer auf das Verzauberte fällt, so wird es wieder, wie es gewesen ist. Aber sie bewahren diese Tropfen in ihrer Höhle und hüten sie wie ihren Augapfel, und es kommt nun darauf an, wer von euch sie holen will.«

Da erboten sich beide, der Maulwurf und der Igel, sofort aufzubrechen, und baten nur, daß die Kröte ihnen den Weg sage.

»Und was willst du tun, kleine Schwester?« fragte die Kröte und sah sie prüfend an.

Und obwohl der kleinen Schnecke das Herz schlug, sagte sie doch, daß sie gehen wolle bis an das Ende der Welt, um ihren kleinen Bruder zu erlösen. Und daß niemand so leise in die Höhlen gelangen könne wie sie allein.

»Aber vergeßt nicht«, sagte die Kröte, »daß es euch das Leben kostet, wenn ihr entdeckt werdet. Und deinem Bruder auch.«

Und dann beschrieb sie ihnen den Weg und daß sie dableiben müßte, um den kleinen Bruder zu bewachen, damit er nicht auch noch sein rechtes Ohr und seinen rechten Fuß verliere. Und dabei sah sie die kleine Schwester von der Seite an.

Dann weinte die Schwester wieder, aber dann stieg sie zwischen den Stacheln des Igels auf seinen Rücken und verbarg sich dort, und dann machten sie sich zu dreien auf die Reise.

Sie schliefen bei Tag und wanderten während der Nacht, und am dritten Morgen kamen sie zu der Höhle der alten Frau. Sie lag am Fuße eines Berges, und die Ginsterbüsche hingen so tief über den Eingang, daß man nicht hineinsehen konnte. Da verbargen sie sich im trockenen Eichenlaub und warteten.

Um die Mittagszeit kam die alte Frau aus der Höhle. Sie sah sich um und schnupperte lange in der Luft, als wittere sie eine Gefahr. Dann nahm sie den leeren Sack auf den Rücken und ging langsam dem Walde zu.

Der Igel wollte gleich in die Höhle hinein, aber der Maulwurf gab es nicht zu. »Sie würde unsre Spuren riechen«, sagte er, »und es ist besser, ich grabe einen Gang unter der Erde, bis wir in ihrer Höhle herauskommen.«

Das tat er denn, und als er fertig war, holte er die Schnecke ab. Der Igel sollte draußen bleiben und Wache halten.

In der Höhle war ein schwaches, unheimliches Licht, von dem faulenden Holz, das in einer Ecke lag. Sie durchsuchten alle Winkel und Spalten, aber sie fanden nur viele Bündel mit alten Kinderkleidern und kleine Fingerknochen, die waren ganz weiß und in großen Messingmörsern aufbewahrt, als sollten sie zu Mehl zerstoßen werden.

Da fürchtete sich die kleine Schwester sehr, aber der Maulwurf tröstete sie und bat sie, Geduld zu haben. »Sicherlich hat sie das Fläschchen bei sich«, sagte er, »und wir müssen warten, bis sie wiederkommt.«

Da verbargen sie sich in den Kinderkleidern, und die Schnecke zitterte, weil sie den Tod zu riechen meinte.

Draußen sank gerade die Sonne hinter den Wald, als die Alte wieder in die Höhle trat. Die Elster saß auf ihrer Schulter, aber beide waren mißmutig, als wäre ihr Weg ohne Erfolg gewesen. Der Vogel hüpfte auf dem Fußboden hin und her, steckte den Kopf in alle Winkel und krächzte heiser vor sich hin, als sei ihm etwas nicht geheuer. Aber die Frau schalt ihn aus, und nach einer Weile gingen sie zur Ruhe. Bevor sie sich aber auf ihrem Laublager ausstreckte, nahm sie das Fläschchen, das an einer Schnur um ihren Hals hing, und schob es in ihren rechten Schuh, der unter dem Bette stand.

Da wurde es nun ganz still in der Höhle, und nur das kleine Torffeuer im Herde glühte leise vor sich hin. Um die Mitternachtsstunde aber glitt der Maulwurf so lautlos wie ein Schatten zu der Ecke, wo die Elster in einem Nest von Heu und Lumpen schlief, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er sie mit seinen starken Händen um die Kehle gefaßt und erwürgte sie. Nur ein heiserer Laut kam aus ihrem Schnabel, aber die Alte erwachte sogleich und rief: »Was ist meinem Liebling?«

»Nichts, nichts«, antwortete der Maulwurf mit heiserer Stimme, und die Alte schlief wieder ein.

Dann kroch die Schnecke so leise wie ein Hauch in den Schuh, nahm das Fläschchen, das nicht länger war als ein Fingernagel, zwischen ihre Hörner, und stieg dann langsam zu den Balken auf, die über dem Lager der Alten unter dem Dach von Stein entlangliefen. Als sie den Platz erreicht hatte, den der Maulwurf ihr anbefohlen hatte, dämmerte vor dem kleinen Fenster schon der Morgen.

Da ließ sie zitternd einen Tropfen herunterfallen, aber er fiel neben das Ohr der Alten auf das Kissen, und sie murmelte im Schlaf: »Es regnet ,... es regnet.«

Da ließ die Schnecke den zweiten Tropfen herunterfallen, und er fiel mitten in das Ohr der Alten. Da schrie diese auf, als hätte ein Tausendfuß sie gebissen, wand sich wie ein Wurm auf ihrem Lager, stöhnte und ächzte, und dann war sie tot.

Da tanzte der Maulwurf auf seinen Hinterbeinen in der Höhle umher und rief: »Nun ist der kleine Bruder frei! Nun ist der kleine Bruder frei!«

Und der Igel stieß mit der Nase die Tür auf und war die ganze Nacht voller Sorge und Angst gewesen, und nun saßen sie vor der Schwelle und freuten sich und lobten die kleine Schwester, daß sie so tapfer gewesen war.

Und dann brachen sie zu der Höhle des alten Mannes auf.

Der alte Mann saß auf der Schwelle und drehte etwas Glänzendes in seinen Händen hin und her, und als sie vorsichtig näherkamen, sahen sie, daß es das Fläschchen war, an dem putzte er mit einem alten Lappen herum, daß es so glänzte wie ein Demantstein.

»Das ist ein ordentlicher Mann«, sagte der Igel leise, »daß er es so sauber für uns herrichtet.«

»Aber noch haben wir es nicht«, sagte der Maulwurf sorgenvoll.

»Laßt mich nur machen«, sagte der Igel. »Auch ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Haltet euch nur bereit, daß ihr zugreift, sobald er es fallen läßt.«

Dann machte er sich leise davon, und sie sahen ihn nach einer Weile, wie er Tollkirschen von einem Strauche pflückte und sich in den Beeren wälzte, bis die Spitzen seiner Stacheln sich rot gefärbt hatten. Dann stieg er leise auf das Dach der Höhle, bis er über dem Kopf des Alten angekommen war, rollte sich zusammen, richtete seine Stacheln auf und ließ sich wie ein Stein herunterfallen.

Der Alte schrie auf, als er die Stacheln sich in seine Kopfhaut bohren fühlte, ließ das Fläschchen fallen und griff mit beiden Händen nach dem Igel. Aber die Stacheln drangen tief in seine Finger, und er begann von dem Tollkirschengift zu schwanken. Da bückte er sich schnell nach seinem Fläschchen, aber der Maulwurf trug es schon eilends fort, und wie er ihm nachlief, stolperte er über eine Wurzel, fiel, so lang er war, in das Moos, krümmte sich und gab seinen bösen Geist auf.

Da aber, wo er gestorben war, sah das Moos schwarz aus, als hätte ein glühender Balken dort gelegen.

Da tanzte der Igel auf seinen kurzen Hinterbeinen vor der Schwelle umher und rief: »Nun ist die kleine Schwester frei! Nun ist die kleine Schwester frei!«

Aber die Schnecke bat sie zu warten, bis sie wieder bei der Kröte und ihrem kleinen Bruder wären. Dann erst wollte sie erlöst werden. Und dann stieg sie wieder dem Igel auf den Rücken, hielt sich an seinen Stacheln fest, und nun liefen sie, so schnell sie konnten, zu dem Eichenwald zurück.

Da war alles, wie sie es verlassen hatten, und die Kröte lobte sie und nahm die beiden Fläschchen in ihre Hände. »Wer soll es nun zuerst sein, der sich wieder an der Sonne freut?« fragte sie und sah die Schwester mit ihren goldenen Augen an.

»Mein Bruder, mein Bruder!« rief die Schwester ohne Zögern.

»Dann soll es so sein«, sagte die Kröte, »aber nun erschrick auch nicht zu sehr!«

Und damit ließ sie aus dem Fläschchen der Alten einen hellen Tropfen auf die Haube des Steinpilzes fallen. Und wie der Tropfen auf die braune Haut niederfiel, begann der Pilz ganz schnell zu wachsen, immer höher und höher, und warf die Haube ab und teilte seinen dicken Stiel und war wieder der schöne Knabe, der er gewesen war, bevor der bunte Vogel ihn in den Wald gelockt hatte.

Aber als er nun so dastand, noch mit verwirrten Augen, und sich zu der Schnecke niederbeugte, schrie die kleine Schwester auf und begann bitterlich zu weinen, denn dem Bruder fehlte das linke Ohr und der linke Fuß, wie er es gesagt hatte.

Da sagte die Kröte: »Nun siehst du, wie es geht, wenn man sich nicht zu zähmen weiß. Aber es gibt noch ein Mittel, um das Ohr und den Fuß wieder anwachsen zu lassen. Wenn du mir alle Tropfen aus dem zweiten Fläschchen schenkst, so kann ich deinen Bruder damit wieder heil machen, aber dann mußt du für immer so bleiben, wie du jetzt bist.«

»Und wenn ich noch häßlicher und noch kleiner werde«, sagte die Schwester, »so will ich es gerne tun, denn ich habe ihn in den Wald gelockt und habe von seinem Fleisch gegessen, und so will ich gerne büßen dafür.«

Aber der Bruder weigerte sich und bat die Kröte, nicht auf seine Schwester zu hören, sondern an seine Eltern zu denken. Ein Kind mit einem Ohr und einem Fuß könne eine Mutter immer noch gern am Herzen halten, nicht aber eine kalte Schnecke mit einem harten Haus auf dem Rücken.

Da beugte sich die Kröte zu einem Kraut nieder, das wuchs am Fuß der alten Eichen, zerdrückte es in ihren Händen und sagte: »So soll dein gutes Herz auch belohnt werden, und keiner von euch soll hier Tränen vergießen.«

Und sie strich den Saft des Krautes über die Wunden, und da war der Knabe wieder so, wie er gewesen war, und nichts fehlte an seinem Körper. Und als sie aus dem zweiten Fläschchen einen hellen Tropfen auf das Schneckenhaus fallen ließ, stand die Schwester wieder so da, wie sie in den Wald gelaufen war.

Da schüttelten der Igel und der Maulwurf beide den Kopf und sagten zur Kröte: »Nun wissen wir doch, daß niemand im Wald klüger ist als du, und so wird es wohl auch wahr sein, daß du bei Nacht eine kleine goldene Krone auf dem Haupte trägst.«

Die Kröte aber sagte nur: »Wer eine Krone trägt, hat mehr Gutes zu tun als andere Menschen, und so wollen wir diese beiden nun nach ihrem Hause führen, damit die Eltern nicht länger in Angst um sie sind.«

Und so geschah es denn.

* * *


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