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Der bezwungene Tod

Vor langer, langer Zeit, als die Menschenkinder noch nicht so tief in der Sünde waren und Gott sich ihrer leichter erbarmte, konnte es ab zu geschehen, daß selbst der Tod seine Sense sinken ließ, wenn eine Mutter oder ein Kind ihn flehentlich darum baten; oder daß er einen, den er schon in sein Reich genommen hatte, wieder frei ließ und sein erloschenes Licht wieder entzündete. Aber es geschah nicht mit den Mächtigen und Großen dieser Erde, sondern nur mit den Ärmsten und Geringsten, und nur eine große Liebe konnte sein kaltes Herz erweichen, so daß er das Stundenglas wieder umdrehte und langsam in den dunklen Wald zurückschritt, in dem er wohnte.

Nun lebte einmal, vor langer, langer Zeit, eine arme Witwe, die hatte nichts als eine kleine Hütte an einem dunklen Strom und einen Knaben, den sie auf das zärtlichste liebte. Und da ihr Mann ein Fischer gewesen war, so fuhr sie in seinem Handwerk fort, obwohl die Netze schon alt waren und jeden Tag geflickt werden mußten, und mit dem geringen Fang aus dem Strom und der Wolle, die sie spann, fristete sie mit ihrem Knaben kümmerlich ihr Leben, und da sie einander so sehr liebten, waren sie immer fröhlichen Herzens, auch wenn sie nur trockenes Brot und Buchweizengrütze zum Abend hatten. »Wenn ich einmal groß bin«, sagte der Knabe dann, »werden wir nur Butter essen und ein bißchen Grütze dazu.« Denn Butter schien ihm das Herrlichste auf dieser Erde zu sein. Dann lächelte die Mutter wohl, streichelte ihm die Wangen und meinte, wenn einmal eine gute Fee den Weg zu ihnen fände, würde sie darum bitten, daß sie alle Steine auf dem Feld in Butter verwandle, damit er es doch einmal gut habe in seinem ärmlichen Leben. Aber der Knabe schüttelte den Kopf. »Ich rede nur so«, sagte er, »denn ich werde immer satt, aber für dich müßte sie den ganzen Strom in Milch und Honig verwandeln und einen goldenen Eimer dazu stellen, damit ich ihn jede Stunde für dich vollschöpfen könnte.«

So redeten sie, und dann saßen sie noch eine Weile am Ufer, und während die Frau spann, blies der Knabe leise auf seiner Weidenflöte, und niemand war auf der ganzen Welt, mit dem sie getauscht haben würden.

So gingen ein paar Jahre hin, in denen alles beim alten blieb, nur daß die Mutter immer mehr kränkelte von dem schweren Handwerk auf dem Wasser. Und obwohl der Knabe nun selbst den Fischfang betrieb und ihr keine Arbeit erlaubte als hin und wieder eine Stunde am Spinnrad, konnte sie sich doch nicht erholen, und als das Frühjahr kam, wußte sie, daß es mit ihr zu Ende ging. Da betete sie lange Nächte zu Gott und der Jungfrau und den Unterirdischen, denn so sehr sie nach einem langen Schlaf verlangte, so sehr grämte sie sich, den Knaben allein zurückzulassen, und wenn sie daran dachte, daß er abends mutterseelenallein am Torffeuer sitzen werde und niemals mehr werde ihr leichter Schritt über die Schwelle kommen und ihre Hand über sein Haar gleiten, dann weinte sie so sehr, daß ihr das Herz brechen wollte, und sie versprach den Unterirdischen alles, was sie besaß, ja selbst das Herz wollte sie ihnen aus ihrer Brust geben, nur damit der Knabe nicht allein bliebe.

Aber es gab kein Zeichen für sie, daß sie erhört wurde, und so rief sie eines Abends den Knaben an ihr Lager, hieß ihn an ihrer Seite niederknien, legte die weiße Hand auf seinen hellen Scheitel und sprach: »Mein liebes Kind, ich fühle nun, daß ich dich verlassen muß, und das Herz ist mir schwer darüber. Aber meine Urahne hat mir oft erzählt, daß zu ihren Lebzeiten ein Kind seine Mutter wiedergeholt hat, so sehr hat es sie geliebt. Begrabe mich nun, wenn ich gestorben bin, und darnach gehe in den großen dunklen Wald, der hinter dem Strome liegt, und gehe so lange, bis du das Haus des Todes findest. Vielleicht, daß du sein Herz erweichst, wenn du ihn ganz von Herzen bittest. Und dreierlei weiß ich von meiner Urahne, was dir gelingen muß: daß du meine Spur finden mußt unter tausend anderen Spuren, daß du meine Tränen findest aus tausend Tränenkrügen, und daß du mein erloschenes Licht erkennst unter tausend anderen erloschenen. Und wenn du meinst, daß du das kannst, dann mach dich getrost auf den Weg und fürchte dich nicht, denn es gibt nicht Böses unter dem Fittich der Liebe.«

Da versprach der Knabe alles, aber in seinem Herzen dachte er, daß die Mutter schon wirr rede, denn er hatte niemals davon gehört, daß der Tod je zurückgegeben hätte, was ihm zugefallen war. Und er bemühte sich, fröhlich und zuversichtlich zu sein, damit seiner Mutter die schwere Stunde sanft würde.

Und als sie nun gestorben war und niemand da war, der ihm hätte helfen können, tat er alles, was nach seinem Wissen vorgeschrieben war, hobelte die Bretter zu einem Sarg zurecht, band einen Kranz aus den Blumen des Ufers und begrub seine Mutter unter den drei Linden auf der Höhe, wo auch das Grab seines Vaters war. Und als er das Vaterunser gesprochen und den Hügel aufgerichtet hatte, blieb er noch eine Weile zu Füßen des Grabes sitzen, den Spaten über den Knien, und nun erst, als er fühlte, wie schrecklich allein er war, begannen seine Tränen zu fließen, und er wäre gern statt ihrer dort in der kühlen Erde gelegen.

Von nun an verlernte er Lachen und Singen, tat schweigend sein Tagewerk und blickte nur am Abend, wenn er neben dem Hügel saß, nach dem dunklen Walde hinüber, der blau und fern wie ein schmales Band den Horizont hinter dem Strom begrenzte. Noch immer glaubte er, daß die Mutter im Fieber gesprochen hätte, aber als ein Monat vergangen war, saß eines Abends ein kleiner Vogel über ihm in der Linde, den er noch niemals gesehen hatte, und sang ein Lied, das war so traurig, daß ihm der Atem verging. Und wie er den Kopf wandte, um den kleinen Sänger besser zu sehen, kam dieser bis zu dem tiefsten Ast und sah ihn mit seinen glänzenden Augen immerzu an, und er konnte sehen, wie die kleine Kehle auf- und niederging, aus der die schmerzlichen Töne sich erhoben. Aber das Seltsamste war für den Knaben, daß zwischen den kleinen Federn des grauen Sängers sich ein weißer Streifen bis in den Nacken zog, so wie er durch das dunkle Haar seiner Mutter gelaufen war, und er erinnerte sich, daß er ihn oft gestreichelt und die Mutter gefragt hatte, was er bedeute. Und daß die Mutter lächelnd gesagt hatte, daß er die Schmerzensbrücke zu seinem Herzen sei. Damals hatte er das nicht verstanden, aber nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er konnte den Blick nicht von dem Vogel wenden.

Solange, bis dieser sich aus den Lindenzweigen aufhob und über den Strom davonflog, dorthin, wo der dunkle Wald am Horizonte lag.

Von diesem Abend an war es dem Knaben unruhig ums Herz, und das Lied des Vogels ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, und als nach Ablauf des zweiten Monats der kleine Vogel wieder über dem Grabe saß, sah der Knabe, daß der weiße Streifen nun breiter geworden war, und als der Vogel ihn wieder verlassen hatte, blieb er noch lange auf dem Hügel sitzen und blickte nach dem fernen Walde hinüber, über dem der Mond stand und vor dem die weißen Flußnebel wie Leichentücher lagen.

Von da an begann er nachzudenken, wie er die Hütte und sein kleines Hab und Gut am besten verwahre, wenn er einmal auf die Wanderschaft gehen müßte, und zählte die Tage bis zum Ablauf des dritten Monats, und als der kleine Vogel nun wieder da war und sein Lied noch trauriger klang und der weiße Streifen in seinen Federn nun so breit geworden war, daß er fast den ganzen Kopf bedeckte, hob der Knabe die Hand, als der Vogel wieder über den Strom flog und rief ihm nach: »Ich komme! Ich komme!« Und noch in der Nacht packte er sein kleines Bündel, ließ die drei Schafe auf die Wiesen hinaus und verschloß die Tür der Hütte. Und als die Sonne mit ihren ersten roten Strahlen den Nebel über dem Strom zerstreute, war er schon am jenseitigen Ufer und ging dem dunklen Walde zu, der nun immer blauer und höher aus der Ferne in den Himmel wuchs.

Wahrend der drei Tage und Nächte, die er unterwegs war, dachte er an nichts anderes als an die letzten Worte seiner Mutter, von den tausend Spuren und den tausend Tränenkrügen und den tausend erloschenen Lichtern, und er wußte nicht, wie er diese drei Aufgaben lösen sollte.

Da setzte er sich am letzten Abend, als er über dem Walde schon die Adler erkennen konnte, die über den alten Wipfeln kreisten, unter eine breite Linde, die abseits seines Weges auf einem Hügel stand, faltete die Hände um seine Knie, lehnte den Kopf an die warme Rinde, und blickte über das dämmernde Land, über das sich schon die Nebel breiteten. Und wie er so dasaß und seinen Sinn zerquälte, fiel ihm plötzlich ein, was seine Mutter zuletzt gesagt hatte, daß es nichts Böses unter dem Fittich der Liebe gebe. Da wurde er ganz getrost, entschlug sich aller schweren Gedanken und meinte, daß es ihm an nichts fehlen könne, da es ihm ja nicht an der Liebe fehle. Legte also den Kopf auf sein kleines Reisebündel, deckte sich mit seinem Rock zu und blickte zu den Sternen auf, bis die Augen ihm zufielen.

Als er nun eine Weile geschlafen hatte, träumte ihm ein seltsamer Traum. Er ging auf einem schmalen Pfad, und rechts und links standen hohe Distelstauden, so hoch wie ein Wald, und die Dornen reichten bis auf den Pfad, so daß er sich mühsam durchwinden mußte, damit sein Rock nicht an ihnen hängen blieb. Und wie er so Schritt für Schritt vorwärts kam, sah er plötzlich den kleinen, traurigen Vogel, wie er von Distel zu Distel flog und die Samenkörner sammelte. Und wenn sein Schnabel gefüllt war, trug er alles zu einem kleinen Häufchen zusammen, und so trieb er es Stunde für Stunde, bis am Ende des Weges ein kleiner Hügel von Samenkörnern lag. Auf dem ließ er sich nieder, breitete seine Flügel wie über einem Nest aus und sah den Knaben an, als ob er sprechen wollte.

Der Knabe erwachte und fühlte, wie ihm das Herz schlug, als ob es eine besondere Bewandtnis mit diesem Traum hätte. Aber die Sterne schienen immer noch, die Nebel waren höher gestiegen, und so schlief er wieder ein.

Und wieder träumte ihm ein seltsamer Traum. Er ging auf einem schmalen Pfad, und rechts und links standen hohe Schierlingsstauden, so hoch wie ein Wald, und wenn er sie berührte, fielen aus den Höhlungen am Fuß der Stengel soviele Wassertropfen, daß es wie ein Regen war und er zur Seite treten mußte, um nicht durchnäßt zu werden. Und wie er so Schritt für Schritt vorwärtskam, sah er wieder den kleinen, traurigen Vogel, wie er mit seinem Schnabel das Wasser sammelte und in die Höhlung eines Baumstumpfes trug, bis sie ganz gefüllt war wie ein hölzerner Becher. Dort ließ er sich von neuem nieder, breitete seine Flügel wie über einem Nest aus und sah den Knaben an, als ob er sprechen wollte.

Der Knabe erwachte von neuem und fühlte, wie ihm das Herz schlug. Aber die Sterne schienen immer noch, die Nebel waren noch höher gestiegen, und so schlief er wieder ein.

Und noch einmal träumte ihm ein seltsamer Traum. Er ging auf einem schmalen Pfad, und rechts und links standen hohe Himbeerstauden, so hoch wie ein Wald, und wenn er sie berührte, fielen die reifen Früchte auf seinen Weg, und wo seine bloßen Füße hintraten, zerdrückten sie die Beeren, und der Weg sah aus, als liege ein Blutstropfen neben dem anderen. Und wie er so Schritt für Schritt vorwärtskam und voller Furcht auf seine roten Füße blickte, sah er wieder den kleinen, traurigen Vogel, wie er mit seinem Schnabel die Himbeeren sammelte und sie zu einer Birkenrinde trug, die war alt und gekrümmt wie ein Becher. Und dort zerdrückte er die Früchte in seinem Schnabel und ließ den roten Saft in den weißen Becher tropfen, solange bis er gefüllt war. Und dann breitete er daneben seine Flügel wie über einem Nest aus und sah den Knaben an, als ob er sprechen wollte.

Der Knabe erwachte, und sein Herz schlug so, daß er erschrak. Und als er sah, daß die Sterne verblichen und ein roter Schein im Osten über die Erde wuchs, stand er schnell auf, wusch sich in einer kleinen Quelle und machte sich wieder auf den Weg. Und als er eine Weile gegangen war, neigte der Pfad sich zu einem Tal, und das Tal war voller Disteln, so wie er es geträumt hatte. Da erschrak er wieder, aber dann sammelte er soviel Samen, daß seine rechte Rocktasche ganz gefüllt war, und er sah immerzu nach dem kleinen Vogel aus, aber der war nicht zu sehen. Nur Distelfalter schwebten wie eine farbige Wolke über dem Feld.

Da ging er weiter, und als er eine Weile gegangen war, neigte der Pfad sich wieder, und er kam wieder in ein Tal, das war mit Schierlingsstauden gefüllt, wie er es geträumt hatte. Da erschrak er wieder, aber dann drehte er sich einen kleinen Becher aus Birkenrinde und ließ so viele Tropfen hineinfallen, bis er gefüllt war bis zum Rande. Und wieder war der kleine Vogel nicht zu sehen, so oft er auch in die Runde blickte.

Da ging er weiter, aber so sehr er auch suchte, fand er keine einzige Himbeerstaude, und er war doch schon tief im Walde. Da wurde er ganz verwirrt, wußte nicht, was er davon halten sollte, und ging langsam immer weiter unter den hohen, düsteren Fichten in den Wald hinein. Der Wald war so still wie ein Grab, und nicht einmal das Klopfen eines Spechtes war zu vernehmen. Nur das Harz tropfte von den Bäumen, wo die Sonne durch eine Lücke in den Wipfeln hineinschien. Da fürchtete er sich sehr, aber dann betete er ein Vaterunser, trug den Birkenbecher mit dem Wasser still vor sich her und blieb erst stehen, als er hinter einer großen Waldwiese ein weißes Haus erblickte. Das Haus war so groß, daß man wohl tausend seiner Hütten hätte hineinstellen können, aber es hatte kein einziges Fenster und nur ein großes goldenes Tor, dessen Flügel waren weit geöffnet. Über die Wiese aber, die noch vom Tau bedeckt war, liefen wohl tausend dunkle Spuren von Menschenfüßen, und alle liefen vor dem goldenen Tor zusammen und führten in das Innere des schweigenden Hauses.

Da machte sich auch der Knabe auf, aber als er den Fuß auf die Wiese setzte, sah er auf einer Grabenböschung einen alten Mann sitzen, der war in einen dunklen Mantel gehüllt und hatte einen breiten Hut tief in die Stirn gezogen.

»Wer hat dich gerufen?« fragte der Mann, und seine Stimme war leise und traurig.

Der Knabe war sehr erschrocken, denn es ahnte ihm gleich, wer der Mann sei, aber dann neigte er sich artig, wie es ihm gelehrt worden war, und sagte: »Meine Mutter hat mich gerufen.«

Der Mann sah ihn lange an, und dann sagte er: »Wenn du unter diesen tausend Spuren diejenigen deiner Mutter findest, dann darfst du in das stille Haus gehen und zusehen, wie du weiter zurechtkommst.«

Da stand der Knabe ratlos und blickte über die Wiese hin und beugte sich zu den Spuren hinunter, aber es war eine wie die andere, nur daß es kleine und große gab. Und wie er so dastand und verzagen wollte, hörte er plötzlich aus dem weißen Hause den Gesang des kleinen, traurigen Vogels, ganz leise, wie aus einer ganz weiten Ferne. Da erinnerte er sich seiner drei Träume, und ohne daß er es recht bedachte, griff er in seine rechte Rocktasche und begann den Distelsamen in die Menschenspuren auf der Wiese zu streuen. Da blieben sie liegen und veränderten sich nicht, und nichts geschah. Aber als er bis zur Mitte gekommen war, erblickte er eine Spur, bei der war die rechte Spitze undeutlich, als sei das Leder dort schadhaft, und da begann das Herz ihm schwer zu schlagen, denn er erinnerte sich, wie er seiner Mutter die Totenschuhe angezogen hatte, und er war betrübt gewesen, daß der rechte an der Spitze schadhaft gewesen war.

Da streute er nun mit ganz behutsamer Hand von dem Samen in die Spur, und kaum war das Korn heruntergefallen, so verschwand es in der Erde, und kaum war es verschwunden, so hob sich ein grüner Keim aus der Erde und wuchs und wuchs, und eine Knospe erschien und wurde größer und größer, solange bis sie sich öffnete und eine rote Rose in der Fußspur blühte.

Da schrie der Knabe auf und beugte sich zur Erde und küßte die Blüte, und der alte Mann stand neben ihm, den Hut ganz tief in die Stirn gedrückt, und es war dem Knaben, als glitte ein leises Lächeln um seine schmalen Lippen.

»Komme nun mit«, sagte der Mann.

Als der Knabe nun in das weiße, schweigende Haus trat, stockte der Atem ihm vor der unendlichen Stille, die ihn empfing. Der Mann führte ihn in eine riesige Halle, deren Wände und Boden und Decke waren von schwärzlichem Marmorstein, und es war so kühl wie unter der Erde. An allen Wänden aber standen rote Krüge, in denen waren die Tränen der Toten aufbewahrt, und bei manchen bedeckten sie nur den Boden, manche waren bis zum Rande gefüllt, und bei vielen tropften die Tränen über den Rand und fielen auf den Marmorboden. Das gab einen dunklen Klang, und die Marmorwände warfen das Echo zurück, und das war der einzige Laut in der ganzen Halle.

Der alte Mann stand hinter ihm und sagte: »Wenn du unter diesen tausend Krügen denjenigen deiner Mutter findest, dann darfst du in die nächste Halle gehen und zusehen, wie du weiter zurechtkommst.«

Da stand der Knabe wieder ratlos und blickte über die unendliche Reihe der roten Krüge hin und ging von einem zum anderen, aber es sah einer wie der andere aus, und er wollte wieder verzagen, als er von neuem die Stimme des kleinen Vogels vernahm, die kam aus der nächsten Halle und klang nun viel näher als auf der Wiese.

Da erinnerte der Knabe sich seines zweiten Traumes, und ohne daß er sich viel bedachte, nahm er seinen Birkenbecher, tauchte einen Finger seiner rechten Hand hinein und ließ in den ersten Krug einen Tropfen fallen. Und als nichts geschah und nichts sich veränderte, ging er von Krug zu Krug, ohne zu ermüden, solange bis mit einem Mal der Tropfen, den er fallen ließ, sich in Gold verwandelte und schwer in den halbvollen Krug tropfte. Und kaum hörte er ihn fallen, so sah er, daß die Tränen im Krug versiegten, solange bis nur der Boden zu sehen war. Da schrie er wieder auf und beugte sich und küßte den Rand des Kruges, wo er noch feucht war von den Tränen. Und der alte Mann stand wieder neben ihm, den Hut ganz tief über die Augen gezogen, und wieder war dem Knaben, als lächle er leise vor sich hin.

»Komm nun mit«, sagte der Mann.

Da führte er den Knaben durch ein breites elfenbeinernes Tor in die nächste Halle, die war ebenso groß und schweigend wie die erste, nur daß die Wände und die Decke und der Fußboden von rotem Marmor waren, durch den grünliche Adern wie seltsame Pflanzen liefen. Und um alle vier Wände lief eine schmale Bank, die war aus einem dunkelgrünen Edelstein geschnitten, und auf ihr standen tausend und mehr erloschene Kerzen, manche noch kaum verzehrt und manche bis auf den letzten Rest niedergebrannt. Und manche waren erst vor so kurzer Zeit erloschen, daß das Wachs noch auf den Boden tropfte, und wieder war dies und das leise Echo von den Wänden der einzige Laut, der in das große und schreckliche Schweigen fiel.

Der alte Mann stand wieder hinter dem Knaben und sagte: »Wenn du unter diesen tausend Kerzen diejenige deiner Mutter findest, so wird sie wieder zum Leben erwachen, und du darfst sie an der Hand nehmen und aus diesem Hause hinausführen.«

Da verbarg der Knabe sein Antlitz in den Händen und weinte bitterlich, denn er hatte nun nichts, womit er das Licht herausfinden konnte, und er hatte keinen Himbeerwald getroffen, wie er ihn im Traum gesehen hatte.

Aber wie er so weinte, hörte er wieder die Stimme des kleinen Vogels, die war jetzt ganz nahe, und als er aufblickte, sah er durch seine Tränen in der fernsten Ecke den Vogel sitzen, der schlug sich den Schnabel immer von neuem in die eigene kleine Brust, solange bis der erste Blutstropfen zwischen den Federn erschien. Und wie der Knabe atemlos eine Weile zugesehen hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er griff schnell in seine Rocktasche, nahm sein kleines Messer, das er immer bei sich trug, und öffnete sich mit einem schnellen Schnitt eine Ader an seiner linken Hand. Darauf ging er von Kerze zu Kerze und ließ das Blut auf die verbrannten Lichter tropfen. Und als er zu der dritten Wand gekommen war und den Tropfen hatte fallen lassen, sah er, daß das Blut sich in Gold verwandelte, und der Docht flammte auf, und eine goldene Träne fiel langsam und schwer wie goldenes Harz auf den roten Boden.

Da schrie der Knabe auf, und der kleine Vogel schrie auf, und der alte Mann legte lächelnd seine kalte Hand auf die Schulter des Knaben und sagte: »Nun hast du den Sieg davongetragen, weil dein Herz so voller Liebe war. Seid nun demütig und warte in Geduld, bis ich wiederkomme.«

Und statt des kleinen Vogels stand die Mutter in der Ecke der Halle und breitete ihre Arme aus, und ihr Haar war ganz weiß geworden. Und der Knabe warf sich an ihre Brust, und sie hielten sich lange umschlungen, so lange bis der alte Mann sie bei der Hand nahm und langsam aus dem schweigenden Hause führte. Und als sie draußen im Sonnenlicht standen, fielen hinter ihnen die goldenen Torflügel lautlos zu, und der Mann war verschwunden, und eine Lerche hob sich über der Wiese jubelnd in das blaue Licht empor.

* * *


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