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Das Totenbrot

Es war einmal ein alter Schäfer, der hatte drei Söhne. Von denen waren die beiden älteren fleißig und nur darauf bedacht, daß sie es zu etwas brächten in der Welt. Der jüngste aber war ein Träumer, der die Flöte spielte und dem das wenige, das er erwarb, unter den Händen zerrann.

Die beiden Brüder gingen bald in die Welt, da auf ihrer Heide unter den Schafen keine Schätze zu gewinnen waren. Sie fingen beide einen Handel an und brachten es bald zu Ansehen und Wohlstand. Der jüngste aber blieb bei seinem Vater, der schon alt und gebrechlichen Leibes war, hütete die Schafe, blies auf seiner Flöte, und wenn er im Heidekraut lag, die Hände unter dem Kopf verschlungen, und zu dem blauen Himmel emporblickte, meinte er, daß es ewig so bleiben könnte. Aber wenn der Nebel über der Heide lag und die Wacholderbüsche wie große, verzauberte Pilger dastanden oder wenn der Sturm die Wolken über den grauen Himmel jagte und die Schafe sich frierend um ihn zusammendrängten, war ihm sein Dasein doch leid, und er spähte nach den entlaubten Birken, ob nicht ein Wichtelmann unter den Wurzeln hervorkäme und ihm einen Beutel mit Gold oder einen Wunschring darböte. Und er hätte wohl leicht seiner Seelen Seligkeit darum gegeben.

Sein Vater sah ihm oft voller Sorgen aus der Ferne zu, aber er war es nun müde, zu reden und zu raten, und als er sich zum Sterben legte, ermahnte er ihn nur, nicht dem Bösen sein Herz zu öffnen. Und wenn er dann auch arm blieb, so würde er doch das Wichtigste behalten: ein reines Herz.

Als er den Vater begraben hatte, kamen die beiden Brüder, und obwohl sie an Gütern genug besaßen, nahmen sie ihm doch zwei Dritteile des kümmerlichen Erbes fort und auch den größten Teil der Herde. »Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen«, sagten sie.

Da blieb er nun ganz allein in der armen Hütte. Das Brot schmeckte ihm nicht, und das Feuer wärmte ihn nicht, und so verkaufte er das Letzte, was er besaß, und machte sich auf in die weite Welt. Nur seine Flöte nahm er mit sich, und da er wenig zu seinem Behagen brauchte, so meinte er sich schon durchzuschlagen, bis er einen Schatz finden würde oder die Springwurzel. Und dann wollte er sich nicht etwa ein Schloß bauen und in Glanz und Herrlichkeit leben, sondern nur ohne Sorgen in der Heide liegen, zum blauen Himmel aufschauen und an etwas Schönes denken. Denn jede Arbeit war ihm leid, und wenn er auch nur hie und da ein Klafter Holz spalten sollte.

So setzte er denn einen Fuß vor den andern. Er spielte zum Tanz, zu Hochzeiten und Begräbnissen, und damit erwarb er genug, um jeden Tag ein Brot zu haben, und das Wasser der Quellen oder Brunnen floß ihm umsonst.

Nun saß er aber einmal um die Abendzeit auf einer Friedhofsmauer, als ein kleiner Sarg mit einem toten Kinde in die Erde gesenkt wurde. Er sah zu, wie ein paar Blumen auf den kleinen Hügel gelegt wurden und wie die Mutter weinend über dem Grabe kniete. Doch hungerte ihn sehr, weil er nichts verdient hatte und nicht betteln mochte, und so blieb er still sitzen und dachte, daß es wohl gar nicht so bitter sein müßte, in der kühlen Erde zu liegen, ohne Hunger und Durst, ein schmales Bettlein mit einem niedrigen Dach über sich, und zu hören, wie der Regen auf die Erde klopfte.

Als der Mond aufgegangen war und die Nachtigallen rings in der Runde zu schlagen begannen, kam die Mutter des toten Kindes heimlich wieder, und er sah, wie sie ein Brot auf den Hügel legte und einen Krug mit Wasser dazu stellte, und es fiel ihm ein, daß die Toten auf ihrer Reise zur Seligkeit der Speise und des Trankes bedurften. Sonst kamen sie nicht bis zum Tor des Paradieses und mußten am Wege liegen bleiben bis zum Jüngsten Tage. So war es der Glaube der armen Leute, und auch er hatte nicht unterlassen, seinem Vater Reisezehrung auf den Hügel zu legen, ehe er in die weite Welt gezogen war.

Als die Frau ihre Tränen getrocknet hatte und wieder heimlich davongegangen war, blieb er noch eine Weile auf der warmen Mauer sitzen, stützte den Kopf in die Hände und sah zu, wie das Mondlicht über das kleine Brot und den kleinen Krug mit Wasser glitt. Er wußte wohl, daß er unrecht tat, aber der Hunger und Durst quälten ihn so, daß er sein klopfendes Herz beschwichtigte, leise von der Mauer herabstieg und mit Brot und Wasser in den Schatten der Fliederbüsche floh. »Die Vögel würden es ja doch fressen«, tröstete er sich in seiner Leichtfertigkeit, und er aß und trank, ohne daß es ihm bitter im Munde wurde, deckte sich mit seinem Rock zu und schlief ein, bis die Sonne ihn wieder weckte.

Das kleine Grab sah aus wie sonst, aber er machte sich doch eilig davon, und ab und zu drehte er sich schnell um, weil ihm war, als hörte er die Tritte von kleinen Füßen. Aber es war nichts, und am Abend blies er am Heiderand schon wieder seine Flöte und dachte nicht mehr an das kleine Grab.

Aber es war, als ob das kleine Grab an ihn dächte, denn manchmal, wenn er nur von ferne eine Friedhofsmauer sah, trieb es ihn fast gegen seinen Willen, am Abend dort zu sitzen und zu warten, ob nicht ein schweigender Zug mit einem kleinen Sarg auf den Schultern durch das kleine Tor käme. Mitunter schalt er sich wegen seines leichten und lässigen Sinnes, aber wenn er das kleine Brot auf dem stillen Hügel liegen sah, vermochte er doch nicht zu widerstehen, und es war ihm auch, als wohnte eine besondere Kraft gerade in dieser Speise und als komme sie ihm, dem Vater- und Heimatlosen, gerade so zu wie den kleinen verlassenen Seelen, die nun alle irdische Bedürftigkeit von sich getan hatten.

Doch blieb er immer noch voller Scheu und Scham bei solcher Tat, und es vergingen ein paar Jahre, ehe er in einer Vollmondnacht zum siebentenmal von dem Totenbrot aß. Er lag unter einem jungen Espenbaum am Rand eines Waldes, und die Blätter zitterten unaufhörlich über ihm, obwohl kein Wind unter den Sternen ging und die Nacht so ruhig war wie ein großes Grab. Er mußte immer wieder hinaufsehen zu der jungen Krone des Baumes, und in seiner Erinnerung tauchte ganz ferne eine Erzählung seiner Mutter auf, in der es mit diesem Baum eine besondere Bewandtnis gehabt hatte. Aber er brachte es nicht mehr zusammen, schlug es sich aus dem Sinn und versuchte zu schlafen. Doch war das leise Flüstern der Blätter immer so nahe an seinem Ohr, als wollte jemand zu ihm sprechen, den er nicht sah, so daß er sich wieder aufrichtete und unruhig zur Seite blickte, ob nicht jemand in dem Schatten stände.

Und wie der volle Mond nun in der Ferne sich über den dunklen Fichtenwald hob und neben seiner Lagerstatt einen hellen Kreis auf das Gras legte, sah er plötzlich neben sich einen kleinen Mann sitzen, der hatte lange Arme und Beine und trug einen spitzen Hut mit einer gekrümmten Feder über dem alten, hageren Gesicht. Er sah still vor sich hin, als hätte er schon lange da im Schatten gesessen und als hätte er ebensoviel Zeit wie sein Gefährte.

Der Schäfersohn erschrak und rückte ein wenig zur Seite, aber der andere sah ihn nun ganz freundlich an und begann sogleich zu sprechen, als kennten sie einander schon lange und hätten schon manches Lager auf diese Weise geteilt. »Ich sehe seit langem, mein Freund«, sagte er, »daß du mir bei meinem Werke zu helfen bereit bist, und ich will es an Lohn und Dank nicht fehlen lassen. Nur geht es etwas zu langsam vorwärts bei dir, und es würde besser sein, wenn wir einen kleinen Vertrag schlössen, damit jeder weiß, woran er ist.«

Der Schäfersohn erwiderte nach einer Weile, daß er von des anderen Werk und von seiner eigenen Hilfe dabei nichts wisse. Er wandere nur so durch die Welt und habe noch mit niemandem einen Vertrag geschlossen. Auch kenne er den Herrn nicht und möchte wohl wissen, wer er sei.

Da lachte der andere ein wenig, und es war dem Schäfersohn, als rauschten dabei die Blätter des Baumes stärker auf, aber als er über sich sah, spürte er noch immer keinen Wind, und wieder versuchte er, sich der Erzählung seiner toten Mutter zu erinnern. Doch gelang es ihm nicht.

»Ich sehe, daß du ab und zu von dem Totenbrot naschest«, fuhr der Fremde fort, ohne die Frage nach seinem Namen zu beantworten. »Das zeigt, daß du die Meinung der Menschen gering achtest, und das gefällt mir. Und meinem eigenen Werke hilfst du darin, daß auf diese Weise die toten Kinder auf ihrer mühsamen Wanderung zu mir finden. Und bei mir bekommen sie, was kein anderer ihnen sonst geben kann: ein warmes Haus und warme Speise. Sie brauchen nicht mehr durch den dunklen Weltenraum zu irren, und sie haben es gut bei mir. Zuerst zwar weinen sie ein bißchen, aber Tränen sind ja den Kindern Zeitvertreib, und so hat es nicht viel auf sich damit. Nur geht es mir zu langsam damit. Jeden Abend heize ich die Öfen in meinem Haus und wärme die Decken an, aber es vergeht manchmal ein Jahr, ehe du mir einen neuen Gast bringst. Und so wollen wir einen Vertrag machen. Jedesmal, wenn ein Kind begraben wird, werden nun wie bisher die Glocken läuten, aber du wirst sie nun weithin hören, auch wenn du viele Meilen entfernt sein solltest. Dann mußt du ihrem häßlichen Schall sogleich folgen, und am selben Abend noch mußt du das kleine Totenbrot essen.

Und da ich deine weiten Wege nicht umsonst annehmen kann und eine Liebe der anderen wert ist, so will ich dir Gold und Silber geben, soviel du nur willst, sobald du mir, sagen wir, tausend kleine arme Seelen zugebracht hast.«

Aber der Schäfersohn schüttelte den Kopf. »Ich möchte wohl Gold genug haben«, sagte er, »um mit dem Wandern und Betteln aufzuhören. Aber von tausend kleinen Seelen kann keine Rede sein, denn ich würde alt und grau werden darüber. Auch ist es mir jedesmal wie ein Unrecht, was ich tue, und es soll einmal aufhören damit.«

»Gut«, sagte der Fremde, »so wollen wir es bei hundert belassen. Auch hundert sind eine runde Zahl, und ich liebe das Runde, weil es bergab rollt und mir leichter in die Hände kommt.«

Noch immer zögerte der Schäfersohn und horchte hinter sich, wo die Espenblätter zitterten und rauschten.

»Und tust du ihnen auch nichts Böses an?« fragte er endlich.

»Ist das Herdfeuer böse?« gab der mit dem spitzen Hut zurück. »Ist der warme Ofen böse für den, der aus Nacht und Nebel nach Hause findet?«

»Das nun wohl nicht«, sagte der Schäfersohn. »Aber wie ist es mit deinem Namen und deiner Herkunft bestellt?«

»Man nennt mich den Vater der Wärme«, erwiderte der Fremde, »und es ziemt den Menschenkindern nicht, allzu tief in das Unsichtbare einzudringen. Weißt du das nicht?«

Der Schäfersohn wußte es, und so bot er zögernd seine Hand.

»Also hundert kleine Seelen«, wiederholte der Vater der Wärme. »Und vergiß nicht dem Glockenton nachzugehen, so oft du ihn hörst.«

Eine dunkle Wolke glitt leise über den hellen Mond, und als sie vorüber war, sah der Schäfersohn nur das betaute Gras neben sich, und der spitze Hut war verschwunden.

Da fröstelte es ihn wie den jungen Espenbaum hinter sich, und er ging tiefer in den Wald hinein, wo nur die dunklen Tannen standen, deren Äste regungslos und schweigend sich über ihn breiteten.

Von nun ab war das Leben nicht mehr so heiter und sorglos wie bisher. Zwar änderte sich nichts an seiner Art, zu leben und zu wandern, aber es war ihm doch, als wäre seit jener Nacht mit dem Fremden etwas in seinem Herzen anders geworden. Schon daß ihn etwas rief, oft aus ganz weiter Ferne, während bis dahin nichts ihn gerufen hatte als der Kuckucksruf bei Tage oder der Schlag der Nachtigallen bei Nacht, machte ihm Unruhe in seinem Blut. Und auch wenn die Glocken nicht zu hören waren, blieb er oft stehen und lauschte, ob sie nicht riefen. Er war immer allein gewesen sein Leben lang, aber nun war der Fremde da, auch wenn er ihn nicht sah, und oft war ihm zumute, als sei er ein Her, das man am Halfter führte. Er hätte den Mann mit dem spitzen Hut gern wiedergesehen, um den Vertrag wieder zu lösen, aber er zeigte sich nicht mehr, so oft er auch unter einem Espenbaum sitzen mochte und dem leisen Flüstern der Blätter lauschte.

Allmählich aber gewöhnte er sich daran, daß nun alles anders geworden war, und oft ertappte er sich jetzt auch dabei, wie er an die Zukunft dachte. An den Tag, an dem er den Beutel mit Gold bekommen würde, und wie er sich nun wohl doch ein Schloß in der Heide bauen würde, wo er ganz allein leben wollte. Denn er war des Umherziehens nun doch bald müde geworden.

So ging er drei Jahre lang dem Gockenklang nach, der ihn zu den kleinen Gräbern rief. Er aß das Totenbrot, wie er es versprochen hatte, obwohl es ihm von Tag zu Tag bitterer zu schmecken schien, und er beschwichtigte sein Herz damit, daß die armen Kinder es ja gut haben würden beim »Vater der Wärme«, auch wenn er sich nicht recht denken konnte, wo er wohnte und weshalb ihm an den Kindern soviel gelegen war.

Und einmal war der Abend gekommen, an dem er auf einem kleinen, verlassenen Friedhof das hundertste kleine Brot aß und dazu aus dem hundertsten kleinen Kruge das kühle Wasser trank. Wieder stieg der volle Mond über die Wälder, wieder schlugen die Nachtigallen, und wieder flüsterten die hohen Espen hinter ihm an der Friedhofsmauer. Er schnitt langsam die hundertste Kerbe in seinen Wanderstab und glitt mit seiner Hand langsam über die vielen Einschnitte hin. Und mit einem Male war ihm, als seien das gar keine Messerschnitte in einer Haselnußrinde, sondern die leise geöffneten Lippen von hundert kleinen toten Kindern, über die seine Hand strich, und er zog die Hand schnell zurück, als hätten die Seufzer der Toten und Verlorenen sie kühl berührt.

Er ging eilends davon, um in den Schatten des Waldes zu gelangen, und dort, auf dem Rande eines flachen Grabens, saß bereits der kleine Mann mit dem spitzen Hut, wog einen schweren Beutel in der dünnen Hand und sah ihm lächelnd entgegen.

»So ist es recht«, sagte er, »auch wenn es ein bißchen lange gedauert hat. Aber Gevatter Tod war etwas säumig in diesen Jahren, und du konntest nichts dafür. Hier ist das Versprochene, und wenn es zu Ende geht, brauchst du nur unter einen Espenbaum zu treten und zu sprechen:

›Seelen aller kleinen Toten,
gebt mir mehr von euren Broten!‹

Dann werden die Espenblätter fallen, und soviele Blätter fallen, soviele Goldstücke wirst du wieder heimtragen können.«

»Das ist ein häßlicher Vers«, sagte der Schäfersohn leise.

Aber das Männlein kicherte spöttisch. »Es fehlt uns zwar nicht an Dichtern in unserem Haus«, sagte es fröhlich, »aber du siehst, was sie zustande bringen. Es ist ihnen zu warm bei uns.«

Und damit stellte er den schweren Beutel in das Gras und war verschwunden, als hätte die Erde ihn verschluckt.

Da saß der Schäfersohn nun, die ganze Nacht, hörte die Nachtigallen schlagen und versuchte, fröhlich zu sein. Aber es wollte ihm nicht recht gelingen.

Erst als die Morgensonne die Schatten und die Nebel vertrieb und lustig auf den schweren Goldstücken glänzte, sah er, daß es kein Traum gewesen war, barg den Beutel in seinem Kleide und machte sich langsam wieder dorthin auf, wo sein Vaterhaus gestanden hatte und wo er nun bleiben wollte bis zu seinem Ende.

Er fand die Hütte zusammengefallen, eine Elster nistete im morschen Gebälk, und am Abend saß eine Igelfamilie auf der bemoosten Schwelle. Da rief er Leute aus dem ganzen Lande zusammen, und ehe ein Jahr vergangen war, stand das Schloß inmitten der Heide, von den dunklen Wacholderbüschen umgeben, und leuchtete weithin im Sonnenschein. Daneben aber stand die zusammengesunkene Hütte unberührt, und er duldete nicht, daß sich eine fremde Hand an ihr zu schaffen machte.

Und obwohl er einsam und ganz für sich hatte leben wollen, kamen doch an jedem Abend Gäste von weit und breit, Vornehme und Bettler, Jünglinge und Mädchen, und niemandem wurde der Zutritt verwehrt. Dann glänzte der große Saal im Lichte von hundert Kerzen, Flöten und Geigen erklangen in die Nacht hinaus, und von weitem hätte man meinen können, daß dort ein Königssohn Hochzeit feiere und ein Strom des Segens sich von dort über das arme Land ergieße.

Aber so laut und fröhlich die Gäste waren, so still war der Herr des schönen Schlosses. Er saß auf seinem roten Sessel zu Häupten der weißen Tafel, hielt seinen alten Wanderstab über den Knien und blickte still in die flackernden Kerzen oder lauschte den Liedern seiner Gäste oder den Scherzen, die sie miteinander trieben. Und nur manchmal glitt seine Hand verstohlen über die hundert Einschnitte in der Rinde seines Stabes, und dann drehte er sich verstohlen um, als ob jemand leise hinter seinen Stuhl getreten wäre.

Und jede Nacht um die zwölfte Stunde trugen die Diener auf goldenen Brettern hundert kleine Brote in den Saal und legten sie schweigend auf das weiße Tafeltuch, eins neben das andere, daß es aussah, als liege eine lange goldene Schlange regungslos zwischen den Reihen der Gäste. Und zu jedem der Brote stellten sie einen kleinen Krug, der war mit kaltem Quellwasser gefüllt.

Sie hatten ihn immer wieder gefragt, was dieser Brauch bedeute, aber er hatte nur den Kopf geschüttelt und leise gesagt: »Das ist das Totenbrot«, und dabei war es geblieben. Und keiner der Gäste durfte die kleinen Brote oder Krüge berühren.

Lagen sie aber auf dem Tisch, so war es ein Zeichen für die Gäste, daß es nun genug sei mit der Fröhlichkeit und dem Lärmen; sie nahmen Abschied, und noch lange hörte man Musik und Lachen über der dunklen Heide.

Der Schloßherr aber ließ alle Türen und Fenster weit öffnen, schickte die Diener zu Bett und saß noch eine Stunde lang still und verlassen in dem flackernden Kerzenschein. Ab und zu kam der Ruf eines Nachtvogels durch die offenen Türen herein, ein klagender Ton, der hoch über das stille Haus dahinging und wieder in der Nacht ertrank. Dann hob der Schäfersohn den Kopf aus der stützenden Hand und lauschte, aber wenn kein Schritt zu hören war, versank er wieder in seine Gedanken und sah zu, wie das Kerzenlicht sich in den Broten spiegelte.

Manchmal auch hob er seine Flöte an die Lippen und spielte ein Lied, das klang bittend und traurig in die weite Nacht hinaus, und wenn es verstummt war, war alles noch stiller als vorher. Und wenn er zur Ruhe ging, müde wie ein alter Mann, brannten die Kerzen weiter, bis sie langsam erloschen, und ihr mattes Licht fiel bis zur Morgenstunde auf die dunkle Heide hinaus.

So ging es eine Zeit, bis das Gold aus dem Beutel verbraucht war. Zwar würde es dem Schäfersohn nicht sehr wehe getan haben, wenn keiner der Diener und keiner der Gäste mehr den Fuß über seine Schwelle gesetzt hätte, aber es würde ihm wehe getan haben, wenn nicht um jede Mitternacht die hundert kleinen Brote auf dem Tisch gelegen hätten, weil doch in seinem Herzen immer noch eine ganz leise Hoffnung war, es könnte mit diesen Broten doch einmal gut gemacht werden, was wohl ein Unrecht gewesen war.

Und so machte er sich eines Abends zu dem kleinen Espenwalde auf, der an einem Bachlauf in der Heide stand, trat unter die flüsternden Bäume und sprach mit leiser, bekümmerter Stimme:

»Seelen aller kleinen Toten,
gebt mir mehr von euren Broten!«

Und wie er es gesprochen hatte, ging ein Wind durch die Bäume, daß sie laut aufrauschten, und ein flüsternder Regen von Blättern kam hernieder, die sich im Grase sogleich in schwere Goldstücke verwandelten.

Da füllte er den Beutel wieder und auch seine Taschen und ging langsam und müde nach seinem Hause.

An diesem Abend nun, als Gäste und Diener davongegangen waren und er noch trauriger als sonst die Reihe der kleinen Brote und der kleinen Krüge entlangblickte, flackerten plötzlich alle Kerzen im Saale auf, als sei ein kalter Wind über sie hingegangen, in den schweren eichenen Balken über ihm zog das Holz sich klagend zusammen, die wenigen Türen, die ein achtloser Diener hinter sich geschlossen hatte, sprangen auf, und auf den Marmorstufen der breiten Treppe erklang ein leises, flüsterndes Geräusch, als bewege man vorsichtig ein seidenes Kleid in den Händen, um es in die alten brüchigen Falten zurückzulegen.

Da legte der Schäfersohn erblassend beide Hände um seinen alten Wanderstab mit den hundert Kerben, stützte sein Gesicht darauf und wandte es langsam nach der breiten Mitteltür.

Und dann kam nun langsam ein langer Zug von Kindern über die letzte Stufe und die breite Schwelle in den Saal geschritten. Sie gingen zu dreien nebeneinander und hatten eins das andere an der Hand gefaßt. Sie trugen lange weiße Totenhemden, und hie und da hatte eines der Mädchen noch eine verwelkte Rose oder einen blassen Kranz von Veilchen im Haar. Und das leise Geräusch wie von Seide kam von ihren bloßen Füßen, die über die Steine glitten.

Aber das Traurigste und auch das Schrecklichste an ihnen war, daß sie ihre Augen geschlossen hielten, so daß die langen Wimpern über ihren weißen Wangen lagen, und daß sie wie Blinde erschienen, die auf das leise Knistern der Kerzen lauschten.

Der Schäfersohn, nun ebenso erblaßt wie sie, zählte langsam ihre Reihen und sah, daß es hundert waren. Nicht eines mehr und nicht eines weniger.

Sie standen nun um die große Tafel, jedes neben einem der roten Seidenstühle, und jedes streckte seine rechte Hand aus, zögernd und unsicher, als wollte es nach einem der kleinen Brote greifen, jedes nach dem seinigen.

Da sagte der Schäfersohn endlich leise: »Liebe Kinder, was wollt ihr?«

Da sagte das älteste, das ihm zunächst stand: »Gib uns unser Brot!«

Und seine Stimme klang so ferne, als stände es am Rande der Heide und nicht im hellen Saal. »Nehmt es doch!« sagte der Schäfersohn eifrig und sprang auf. »Nehmt es doch! Für jeden von euch liegt eines da, und ich warte ja schon so lange auf euch!«

Aber sie schüttelten traurig die weißen Stirnen, und das älteste sagte wieder: »Das ist nicht unser Brot, und das ist nicht unser Krug. Denn unsere Mütter haben das Brot mit ihren Tränen benetzt und das Wasser mit ihren Tränen gemischt, und unbeweintes Brot können wir nicht essen.«

Da rang der Schäfersohn die Hände und bat sie, ihm doch seine Sünde zu vergeben, denn daß es Sünde gewesen sei, das wisse er nun, und er wolle alles wieder hingeben, was er besitze, nur damit sie wieder die Augen aufschlügen und nicht mehr in die Irre zu gehen brauchten.

Und als sie wieder traurig den Kopf schüttelten, griff er in Verzweiflung nach dem nächsten Brot, reichte es dem ältesten der Kinder und bat es, doch um Gottes willen davon zu essen. Und als er die leere Hand traurig zurückzog, neigte er seine Stirn über das kleine Brot und weinte bitterlich.

Und wie seine ersten Tränen auf die goldfarbige Rinde fielen, schienen alle Kerzen mit einem Male hell aufzubrennen, und das älteste Kind schlug die blauen Augen auf, nahm das Brot aus seiner Hand, brach es und aß davon.

Und so traten alle Kinder eins nach dem andern zu ihm heran, reichten ihm ihre Brote und aßen davon, sowie seine Tränen es benetzt hatten, und alle Augen waren nun aufgeschlagen und sahen ihn freundlich an, und alle Hände reichten ihm still die kleinen Krüge, daß eine seiner Tränen hineinfalle. Und mit jeder Träne, die er vergoß, schien ihm sein Herz matter zu schlagen, aber er konnte nicht aufhören, als bis die Kinder wieder in einem langen Zuge dastanden, und jedes hielt sein Brot und seinen kleinen Krug an das weiße Totenhemd gedrückt, und als er sie endlich fragte, wo sie nun hingingen, wendeten sie ihm alle ihre Gesichter zu, die waren nun hell und froh, und alle zusammen riefen sie fröhlich: »Ins Paradies! Ins Paradies!«

Und dann stiegen sie ohne Hast die Stufen wieder hinunter, und zuletzt sah er nur noch die blonden oder braunen Scheitel, und über dem letzten lag ein blasser Kranz von Veilchen, die einmal blau gewesen waren.

Da setzte er sich wieder in seinen Stuhl, und die Knie waren ihm matt wie nach einer langen, langen Wanderung, und er wußte nicht, daß sein Haar weiß geworden war. »Ins Paradies ,...«, flüsterte er, »das ist ein guter Weg.«

Die Kerzen brannten langsam herunter, die Sterne erblaßten, aber er saß immer noch da und träumte davon, wie er morgen dieses Haus verlassen und wieder arm und allein in die Welt gehen würde. Und wie er für alle Kinder spielen und arbeiten wollte, solange seine Kräfte nur reichten.

Die Diener aber, als sie am Morgen den Saal betraten, fanden ihren Herrn tot in seinem Stuhl. Die Kerzen waren erloschen, die Brote und Krüge waren verschwunden, und statt ihrer lag auf jedem Platz eine große, matt schimmernde Perle, die sah wie eine Träne aus.

Aber das Schönste war das Gesicht ihres toten Herrn unter seinem weißen Haar, und es sah aus, als habe ein Engel zur Nacht es berührt mit einer glänzenden Hand.

* * *


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