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Der ungerechte Richter

Es war einmal ein Knabe, der war sehr armer Leute Kind, und trachtete von Jugend an nach nichts so sehr, als Geld und Gut zu erwerben, damit es ihm ebenso wohl erginge wie allen Reichen, in deren Häuser er kam, wenn er Pilze oder Beeren zum Verkauf austrug. Und obwohl die Eltern ihm oft erzählten, daß Reichtum eine größere Plage sei als Armut und ein reines Herz mehr als ein goldener Teller, so schlug er das alles doch lächelnd in den Wind und raffte alles zusammen, was er auf seinen Wegen fand: alte Nägel und Schrauben, Knochen und Lumpen. Die verkaufte er dann gegen geringes Entgelt, und diesen kleinen Schatz schleppte er von einem Versteck ins andere und hütete ihn wie seinen Augapfel.

Und als der Richter der Königsstadt, der ein hartherziger Mann war, Wohlgefallen an ihm fand, als er einmal mit einem Körbchen Beeren zu ihm kam, und ihn fragte, ob er ein Schreiber bei ihm werden wollte, sah er sich schon in Samt und Seide durch die Straßen stolzieren und schlug voller Freuden in den Handel ein.

Da sah der Richter bald, daß er einen scharfen Vogel in sein Nest genommen hatte, und wenn der Richter das Volk mit Zangen kneifen ließ, so wollte der Knabe, daß sie glühend seien. Und wenn der Richter eine Kuh bei armen Leuten pfändete, so wollte der Knabe auch noch die Kette und den Melkeimer dazu nehmen, also daß das Volk ihn bald mehr haßte als den Richter selbst und ihn einen Skorpion nannte, der nur über seinem eigenen Gift brüte.

Doch focht das den Knaben wenig an. Er lernte bald, daß bei jedem Rechtshandel Gold zwischen den Parteien liege, und man mußte nur geschickt sein, es aus den geballten Händen herauszureißen. Wenn man versprach, sich für den Angeklagten zu verwenden oder seinen Handel zu beschleunigen, so schob dieser leicht ein Goldstück in die schmale Knabenhand, und wenn es nachher mit dem Versprechen nichts war, so trug der hartherzige Richter die Schuld oder der König, der von keiner Gnade wissen wollte, und es war eben ein Unglück gewesen und nichts mehr.

Nun handelte der Knabe nicht mehr mit Nägeln oder Lumpen, sondern mit der Angst und Verzweiflung von Menschenherzen, und wenn er nun am Abend seinen Schatz mit den Händen umwühlte, klang es nicht mehr nach Kupferpfennigen, sondern nach richtigem glänzendem Gold, und seine Augen funkelten wie die einer Elster, wenn sie einen silbernen Löffel in ihr Nest trug.

Das ging nun solange, bis der Richter eines Nachts auf einem seiner dunklen Wege erschlagen wurde. Der König tobte vor Zorn, und der Schatz des Knaben wuchs und wuchs, denn viele Unschuldige wurden in Ketten gelegt, und der Knabe ließ sich jede Freiheit teuer bezahlen. Und endlich ernannte der König den Knaben, der nun herangewachsen war, zum obersten Richter, weil niemand im Reiche war, der mit solcher Strenge über den Gesetzen wachte.

Da war er nun höher gestiegen, als er in seinen Träumen gedacht hatte, und als das Pergament mit Siegel ihm übergeben war, machte er sich an einem Abend auf, um seine alten Eltern wiederzusehen, die er schon vergessen hatte und auf die nun ein Schimmer seines Ruhmes fallen sollte.

Er steckte zwei Goldstücke in die Tasche, kehrte aber vor der Tür noch einmal um und legte eines wieder zu dem Schatz zurück. Die Leute, die vor den Türen saßen, standen schnell auf, wenn sie ihn von ferne sahen, und gingen schnell in ihre Häuser. Er sah das, wie er alles sah, aber es freute ihn, denn Angst macht die Straßen frei, und bald ging er langsam am Strom entlang, an dessen Ufer die elterliche Hütte stand. Er hatte lange nicht das Wasser gesehen und das grüne Gras, die Vögel, die sich im Schilf wiegten, und die rötliche Sonne, die auf alles schien. Und er blieb stehen und rechnete aus, wieviele Jahre vergangen waren, seit er hier barfuß und in armen Kleidern gelaufen war. Einen Augenblick lang war ihm, als sei das Herz ihm schwerer als sonst, aber dann lächelte er wieder vor sich hin, überzählte in Gedanken seinen Schatz und bedachte, wie viele Jahre er noch brauchte, um sich einen Palast zu bauen und darin wie ein König zu leben.

Seine Eltern saßen auf der Bank vor der Hütte, die müden Hände gefaltet, und blickten über den stillen Strom. Er grüßte sie fröhlich und mit etwas Herablassung, denn sie waren sehr arm gekleidet, und ihre Finger waren gekrümmt von der Arbeit ihres Lebens. Sie dankten ihm still, aber fuhren fort, über das Wasser zu blicken, als wären ein paar Minuten vergangen, seit er dagewesen sei, und nicht lange Jahre.

Er setzte sich zwischen sie, und der Vater rückte zur Seite, als wollte er das schöne Gewand des Sohnes nicht berühren.

Dem Richter war es unbehaglich im Gemüt, und so zog er das Goldstück aus der Tasche, hielt es auf seiner Handfläche, daß die untergehende Sonne sich darin spiegelte, und sagte: »Dies habe ich euch mitgebracht.«

Die Eltern warfen einen flüchtigen Blick auf das Gold, und der Vater sagte: »Nimm es nur wieder mit. Ich will kein Blutgeld unter meinem Dach.«

Die Mutter aber nahm seine andere Hand, streichelte sie mit harten Fingern und sagte leise: »Du arme Seele ,...«

Da wußte er nichts mehr zu sagen, saß noch ein bißchen herum, prahlte ein weniges von seinem Amt und nahm dann Abschied.

Auf dem Heimweg war er zornig, und als er sich noch einmal umwandte, sah er die Eltern wie zuvor dasitzen, die Hände gefaltet, die Blicke über das Wasser gerichtet. So als sei niemand bei ihnen gewesen als etwa das Echo eines Holzfällers im fernen Wald.

Erst als er das Goldstück in seiner Tasche wieder fühlte, wurde er froher und verlachte den ganzen Gang als eine kindische Torheit.

Nicht lange darnach wurde eines Tages ein Gaukler vor seinen Richtertisch geführt, wie sie auf Jahrmärkten ihr Wesen trieben, unter der Anklage, er habe eines Landmanns Vieh bezaubert, daß es unfruchtbar geworden sei, auch Hagel über das reifende Korn gezogen und einem Neugeborenen ein Feuermal auf die Stirn gedrückt.

Der Richter sah den Mann gleichgültig an, als einen, dem der Scheiterhaufen gewiß war, aber dann konnte er plötzlich nicht mehr den Blick von ihm wenden. Er war ein hagerer Mann mit einem scharfen Gesicht, und seine dunklen Augen waren so voll Feuer und Verschlagenheit, daß sie noch bei niedergeschlagenen Lidern zu glühen schienen.

Der Richter, dem es sonderbar zumute wurde und der ein sorgloses Lächeln auf den Lippen des Mannes zu entdecken meinte, fragte ihn, ob er wisse, daß der Feuertod ihm gewiß sei.

Der Gaukler lächelte nun wirklich und erwiderte, noch sei er nicht so arm, wie der Herr zu denken scheine.

»Was besitzest du denn Großes?« fragte der Richter.

Da zog der Mann einen kleinen, silbernen Stab aus dem Gewand, berührte das Tintenfaß des Richters, in dem die Gänsefeder noch stak, und als er den Stab wieder zurückzog und in seinem Kleide verbarg, glänzte das Tintenfaß in reinem Golde.

Der Richter streckte seine zitternde Hand aus, hob das Tintenfaß auf und fühlte, daß es schwer geworden war wie Eisen.

»Was bedeutet das?« fragte er heiser, und der Gaukler sah, daß seine Augen funkelten.

»Es bedeutet, Herr«, sagte er demütig, »daß dieser Stab alles, was er berührt, in Gold verwandelt. Aber nur tote Dinge, nicht Menschen oder Tiere. Und da man ihn mir vor meinem Tode doch fortnehmen wird und er mir nichts nütze sein wird, so könnte ich ihn vielleicht dem Herrn Richter schenken, wenn der Herr Richter mir das Leben schenkt.«

»Gib ihn her!« sagte der Richter und berührte die Gänsefeder mit dem Stab. Sie glänzte wie ein Wundergebilde, und der Richter wog sie entzückt in seiner Hand.

»Und weshalb treibst du dich auf Märkten herum, wenn du so etwas besitzest?« fragte der mißtrauisch.

»Gold ist für mich wie Sand für Kinder«, antwortete der Gaukler, »und ich habe noch andere Geschäfte als dieses.«

»Und ist nichts Verschwiegenes dabei?« fragte der Richter. »Keine Falle, kein Haken, die du mir verschweigst?«

»Es ist nur dies dabei«, erwiderte der Gaukler, »daß der Stab seine Kraft verliert, sobald Ihr einmal seiner Wirkung überdrüssig werdet.«

Da lachte der Richter, verbarg den Stab in seinem Kleid und sagte: »Mache dich nun davon und sieh zu, daß du aus diesem Lande herauskommst!«

Der Gaukler verneigte sich und verschwand.

Der Richter aber ließ die beiden Zeugen holen und strafte sie mit je einem Goldstück, weil sie falsches Zeugnis gegen einen Unschuldigen abgelegt hätten. Und dann schloß er den Gerichtstag, verbarg das Tintenfaß und die Feder und ging heim. Und so eilig waren seine Schritte, daß die Leute, die ihm heimlich nachsahen, einander zuflüsterten, wahrscheinlich liege ein reicher Mann im Sterben und der Richter eile, um sich des Testamentes zu bemächtigen und es ein wenig zu verändern.

In seinem Hause schloß der Richter alle Türen, zog den Stab aus seinem Kleide und sah sich mit gierigen Augen um. Und da das erste, was er erblickte, der schwere Eichentisch war, der vor seinen Füßen stand, so berührte er die dunkle Platte mit dem silbernen Stab und flüsterte zitternd: »Verwandle dich!«

Und im Nu stand ein goldener Tisch im Raum, der funkelte von der großen Platte bis zu den schweren Füßen, und als der Richter ihn aufzuheben versuchte, stand er so fest, als sei er mit eisernen Bändern an den Boden geschmiedet.

Da warf der Mann sich auf die Dielen, hob die Arme empor und jubelte, als wäre er ein Kind und das Himmelreich läge ausgebreitet vor seinen Händen.

Nun würde ein anderer Mann wahrscheinlich sein Amt aufgegeben und sich ein goldenes Haus gebaut haben, um in Glanz und Herrlichkeit seine Jahre zu verbringen. Aber der Richter, der die Armut seiner Kinderzeit nicht vergessen hatte, tat nichts dergleichen. Und obwohl er nun in einem goldenen Bette schlief und an einem goldenen Tische saß und von goldenen Tellern speiste, fuhr er fort, wie früher das Volk zu bedrücken, und wenn ein unrechter Spruch ihm nur ein einziges Goldstück eintrug, so legte er es so sorgsam zu seinem Schatz, als wäre es das erste und einzige und als könnte er nicht in einem einzigen Augenblick sein ganzes Haus vom First bis zum Keller in Gold verwandeln.

Und als nach vielem Regen und Unwettern eine große Hungersnot über das Land kam, schickte er Diener von Hof zu Hof und kaufte alles Korn auf, das in Säcken und Speichern noch verwahrt lag, und bewahrte es in festen Gewölben und ließ, als das Volk sich nur noch von Wurzeln und Baumrinde nährte, sich jedes Korn mit Gold aufwiegen und war nun erst seines Lebens froh und dachte seiner Eltern als kümmerlicher Leute, die nie gewußt hatten, was sie an ihm besaßen.

Und als die Not am höchsten war und geflüstert wurde, daß Eltern, die in der Einöde lebten, schon hier und da eines ihrer Kinder geschlachtet und gegessen hatten, wurde eines Tages vor seinen Richtertisch eine Jungfrau geführt, die hatte in einen der Säcke, die er gegen schweres Gold verkaufte und über Land führen ließ, heimlich ein Loch geschnitten und hatte eine Handvoll Korn daraus genommen und ihrer Mutter, die im Sterben lag, ein einziges Brot davon gebacken.

Sie war ein schönes Mädchen, in ein dürftiges, schwarzes Gewand gekleidet, und sie stand furchtlos vor ihm und sah ihm gerade in die Augen.

»Weißt du«, fragte der Richter, »daß du dem Beil verfallen bist?«

»Es ist besser, unter einem Beil zu sterben«, sagte das Mädchen, »als unter einem Richter zu leben, wie du einer bist.«

»Und was bin ich für ein Richter?« fragte er höhnisch und spielte mit seiner goldenen Feder.

»Du bist ein Verworfener«, erwiderte das Mädchen, »und die Kinder in der Wiege fluchen dir.«

»So darfst du mir auch fluchen«, sagte der Richter, »wenn du unter dem Beil kniest. Und heute abend wird es sein.«

Sie nickte nur und wurde fortgeführt.

Der Richter war fröhlich wie sonst, aber den ganzen Tag lang folgten ihm die Augen des Mädchens, strenge und traurige Augen, anders als er sie je gesehen hatte. Und als er am Abend vor seinem goldenen Tische saß und die goldenen Teller abgetragen waren und er sich in dem großen Raume umsah, wo alles funkelte und glänzte, war er plötzlich alles dieses Goldes zum Sterben überdrüssig und meinte, wenn alles das aus Edelgestein wäre, so würde es eine schöne Abwechslung sein und das Leben noch einmal von neuem beginnen. Und wie er in Gedanken den silbernen Stab aus dem Kleide zog und in Gedanken die Salzkörner berührte, die auf dem Tisch verschüttet lagen und sprach: »Verwandle dich!«, blieben die Salzkörner, wie sie gewesen waren, weiß und still, und ein lähmendes Entsetzen fiel über ihn.

Er sprang auf und legte den Stab an das wenige, das noch nicht Gold geworden war, aber es blieb unverändert, und der Zauber war vergangen.

Da erinnerte er sich der Warnung des Gauklers, wollte zuerst vergehen vor Zorn und Verzweiflung, bedachte dann aber, daß er genug habe und durch sein Amt täglich neues Geld erwerben könne, und ging endlich zur Ruhe, müde und verstört, aber doch schon neuer Hoffnung voll.

Im ersten Schlafe war ihm, als hörte er die Armensünderglocke läuten und als blickten die Augen des Mädchens aus weiter Ferne ihn an, aber er vertrieb die Gedanken, zog die goldene Decke über die Augen und schlief nun wirklich ein.

Ein paar Stunden mochte er geschlafen haben, da pochte es leise an seine Kammertür, und er fuhr aus wirren Träumen auf und rief: »Herein!«

Noch einmal pochte es, und wieder rief er: »Herein!«

Und ein drittes Mal pochte es, und erst als er wieder gerufen hatte, ungeduldig und zornig bereits, öffnete sich lautlos die Tür, und in einem schwachen Lichtschimmer, der wie Nebel im Mondschein war, stand das Mädchen in dem dürftigen schwarzen Gewand und winkte ihm leise mit ihrer weißen Hand.

Der Richter saß nun aufrecht auf seinem Lager und starrte das Mädchen an, während ein kalter Schauder ihm zwischen den Schulterblättern herunterrann. Es waren dieselben strengen und traurigen Augen, dasselbe blonde Haar, dasselbe ärmliche Kleid. Aber um den Hals lief dem Mädchen eine feine, rote Schnur, wie aus winzigen Korallen geflochten, und diese Schnur hatte sie am Morgen nicht getragen.

Da hob der Richter die gefalteten Hände und stöhnte: »Was willst du von mir? Erbarme dich meiner!«

Aber sie fuhr nur fort, mit der weißen Hand zu winken, und so warf der Richter ein Kleid und einen Mantel über und folgte ihr mit zitternden Knien.

Draußen schien der volle Mond auf die Straße, und die Häuser und Bäume warfen schwarze Schatten, die waren wie aus dunklem Metall geschnitten. Aber während seine Schuhe laut auf dem Pflaster klangen, ging das Mädchen lautlos vor ihm her, und er sah auch, daß es keinen Schatten warf.

Da grauste es ihn, aber sobald er stehen bleiben wollte, hob sie ihre weiße Hand, und er mußte folgen, als zöge sie ihn.

So gingen sie am Fluß entlang, wo die Nebel schimmernd über den Wiesen lagen, an der Hütte seiner Eltern vorbei und in den großen Wald hinein, in dem er als Kind die Beeren und Pilze gesammelt hatte. Und wie sie immer tiefer in das Dunkel hineingingen, aus dem die hohen Stämme wie Säulen aufstanden, sah der Richter in der Ferne einen hellen Schein, der stand wie ein zweiter, tiefer Mond zwischen den Büschen, und es wurde ihm leichter ums Herz, als er meinte, sie kämen nun aus der Finsternis auf eine Lichtung, wo vielleicht Menschen um ein Feuer säßen.

Wohl traten sie auf eine Lichtung, wo nur dunkles Moos den Boden bedeckte, aber der Schein, den der Richter gesehen hatte, kam nicht aus dem Feuer, sondern von Tausenden und Tausenden kleiner Kerzen, die brannten mit stiller Flamme eine neben der anderen, und es war wie ein großer Friedhof, wo man jedes Grab mit einem Zeichen des Gedenkens geschmückt hatte. Hinter den Kerzen aber, wo die hohen, dunklen Bäume wieder in die Nacht aufstiegen, sah der Richter drei ungeheure Krüge nebeneinander stehen, die waren so hoch, daß sie fast bis zu den Wipfeln der alten Tannen reichten, und waren von rötlicher Farbe, die wie Kupfer schimmerte.

Da erschrak der Richter, seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen, und er fragte das Mädchen, was das alles wohl bedeute.

Und zum erstenmal öffnete das Mädchen die blassen Lippen und sagte: »Die Kerzen, die du siehst, sind die Seelen aller derer, die durch deine Hand und durch dein Wort ihr Leben ließen. Willst du sie zählen?«

Da fiel der Richter auf seine Knie und weinte: »Mädchen«, schluchzte er, »so viele können es nicht sein.«

Sie sah ihn schweigend an und blickte dann über das Kerzenfeld hin. »Eine große Ernte«, sagte sie dann. »Mehr, als dein Vater Halme geschnitten hat in seinem Leben. Ja, du warst wohl ein mächtiger Richter.«

»Das Gesetz«, schluchzte der Richter, »das Gesetz war es, gutes Mädchen.«

»Ja, es war wohl ein mächtiges Gesetz«, sagte sie leise, »das in eine mächtige Hand fiel. Ein Gesetz, das nur Gold kannte oder Tod.«

Der Richter schwieg und starrte mit blinden Augen in die tausend kleinen Flammen, die so still brannten wie in einem großen Totensaal. Er hörte den Tau von den Bäumen fallen und einen ganz fernen Vogelruf über dem Strom, und es war ihm, als sei das alles nur ein böser Traum, der vergehen würde mit dem Morgenrot.

Aber sein Herz sagte ihm, daß es anders war.

»Und die drei Krüge«, sagte er nach einer Weile, als er das große Schweigen nicht mehr ertragen konnte. »Was bedeuten die Krüge?«

Das Mädchen winkte ihm, und sie gingen um das Kerzenfeld herum, bis an den Rand des hohen Waldes. Die geschweiften Wände der Krüge schienen dem Richter nun bis in den Himmel zu ragen, als er an ihren Füßen stand.

»Lehne die Leiter an und steige hinauf!« sagte das Mädchen.

Der Richter bückte sich und nahm die lange Leiter, die im Grase lag. Sie war so leicht, als sei sie aus Spinnfäden gewoben. Er stellte sie an die Wölbung des ersten Kruges und stieg langsam hinauf. Es schwindelte ihn, aber das Mädchen, das unten stand, hob befehlend die Hand.

Er stieg bis an die Öffnung des Kruges, die so weit war wie ein großes Wagenrad. Es schimmerte wie Wasser darin.

»Tauche deine Hand hinein«, sagte das Mädchen, »und führe sie an die Lippen!«

Der Richter tat es, und die Hand schmeckte salzig und warm.

Er stieg hinunter und lehnte seinen Kopf an die Leiter, so müde war er. »Was ist das?« fragte er leise.

»Das sind die Tränen, die um dein Gericht geflossen sind«, antwortete das Mädchen.

Wieder fiel der Richter auf die Knie und blickte zu dem Kruge hinauf, in den er die Hand getaucht hatte. »Mädchen«, sagte er, »so viele können es nicht sein, nicht so viele!«

Sie sah ihn schweigend an. »Ein Meer«, sagte sie dann, »ein ganzes Meer. Und die meisten sind Kindertränen. Ja, du warst wohl ein mächtiger Richter.«

Dann deutete sie auf die Leiter und hieß ihn zum zweiten Krug hinaufsteigen. »Tauche deine Hand hinein«, sagte das Mädchen, »und führe sie vor deine Augen!«

Der Richter tat es, und er sah, daß der Krug mit Weizenkörnern gefüllt war. »Was ist das?« fragte er leise, als er wieder unten stand.

»Das ist das Brot, das du den Armen gestohlen hast«, erwiderte das Mädchen.

Wieder fiel der Richter auf die Knie und weinte. »Mädchen«, sagte er, »so viel kann es nicht gewesen sein, nicht so viel!«

Sie sah ihn schweigend an. »Ein Feld«, sagte sie dann, »viele Felder, ein ganzes Land, denn du warst wohl ein mächtiger Richter.«

Der Richter stieg zum dritten Kruge hinauf, aber er stieg so langsam, als trüge er das ganze Korn, das er gesehen hatte, auf seinen Schultern. Im Kruge schimmerte es rot, und er fuhr voll Grauen zurück.

»Tauche deine Hand hinein«, sagte das Mädchen unten, »und führe sie an deine Lippen!«

Der Richter tat es, und seine Hand schmeckte süß und warm.

Er fiel fast die Sprossen herunter, sank auf seine Knie und fragte leise: »Was ist das?«

»Das ist das Blut, das du vergossen hast«, sagte das Mädchen.

Da schrie er wie in schrecklichen Qualen auf. »Nicht so viel, gutes Mädchen!« schrie er. »So viel kann es nicht sein!«

»Du hast recht«, sagte sie leise und legte ihre Hand an die dünne rote Schnur, die sie um den Hals trug. »Denn ich habe dies vergessen.« Und als sie es gesagt hatte, war es, als fiele die rote Schnur auseinander, und schwere Blutstropfen fielen von ihrem weißen Hals in seine Hand.

Da verbarg der Richter sein Gesicht im Grase. »Was soll ich tun?« stöhnte er. »Gutes Mädchen, sage mir, was ich tun soll.«

Da griff sie in ihr schwarzes Gewand und zog zwei kleine Becher und eine kleine irdene Schale heraus. Die reichte sie ihm und sagte: »Fülle diesen Becher mit Tränen und diesen mit Blut aus den beiden Krügen, und die Schale fülle mit Weizenkorn. Und dann eile dich und laufe zu einer der Hütten, über die du dein Recht gesprochen hast. Dort schütte den Tränenbecher in das Wasser, das sie trinken, und den Blutbecher in das Brot, das sie backen. Und die Weizenkörner tue in den Topf, der auf dem Feuer steht. Und hüte dich, daß du nichts davon verschüttest. Hast du mich verstanden?«

Der Richter nickte.

»Und wenn du das getan hast«, fuhr das Mädchen fort, »dann komme wieder und fülle Becher und Schale von neuem und laufe zur nächsten Hütte, über die du dein Recht gesprochen hast. Und so tue, bis die drei Krüge leer sind. Es wird dir nicht an Hütten fehlen, denn du warst ein mächtiger Richter.«

Da erschrak der Richter zu Tode und rang die Hände vor ihr. »Gutes Mädchen«, flehte er, »siehst du denn nicht, wie winzig Becher und Schale sind und wie ungeheuer groß die Krüge? Soll ich denn tausend Jahre so laufen und immer füllen und immer ausgießen?«

Da sah das Mädchen ihn traurig an und sagte: »Weißt du denn noch nicht, daß tausend Jahre der Reue ein Augenblick sind gegen eine einzige Träne und einen einzigen Tropfen aus einem Menschenherzen?«

Da nahm der Richter schweigend die Becher und die Schale aus ihrer Hand, stellte die Leiter nacheinander an die Krüge, füllte die winzigen Gefäße und verwahrte sie sorgsam in seinen Händen. Und bevor er sich in die Nacht hinaus aufmachte, sah er noch einmal das Mädchen an und sagte leise: »Bete für mich!«

Und wie er das gesagt hatte, löste die dunkle, traurige Gestalt sich auf, und wo ihre Füße gestanden hatten, brannte ein neues, helles Licht mit stiller Flamme auf dem grünen Moos.

Da machte der Richter sich auf und lief zuerst bis zu der Hütte, wo das Mädchen gewohnt hatte, und das war weit von hier am anderen Rande der Stadt. Und so lief er die ganze Nacht. Und viele Tage und Nächte lang, tausend- und zehntausend- und noch tausendmal mehr. Am Tage sah ihn niemand, aber in den Nächten sahen ihn viele, die unterwegs waren oder noch müde vor ihren Hütten saßen. Sie sahen sein flatterndes Kleid und seine ausgestreckten Hände, in denen er Becher und Schale hielt, und sein gramerfülltes Gesicht. Und sie hörten seinen keuchenden Atem und die Worte, die von seinen durstigen Lippen fielen, und es waren immer die gleichen drei Worte: »Du arme Seele ,... du arme Seele.«

Dann fuhren die Kinder weinend aus ihrem ersten Schlaf und riefen nach ihrer Mutter, und die Mutter nahm sie an ihr Herz und streichelte sie und flüsterte mit blassen Lippen: »Still, der Richter trägt sein Recht zurück.«

Und dann schliefen die Kinder ruhig wieder ein.

* * *


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