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Der Knabe und der Wassermann

Am Ufer eines stillen Flusses lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten drei Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen, und das Mädchen war das jüngste der Geschwister. Der Vater fing Fische und Krebse, legte sie säuberlich zwischen Lattich- und Brennesselblätter in kleine geflochtene Binsenkörbchen und trug sie in die Stadt zum Verkauf. Auch hatten sie ein paar Ziegen und einen kleinen Krautacker, und davon lebten sie schlecht und recht.

Im Winter aber, wenn der Fluß sich mit einer Eisdecke verschloß und Garten und Heide, Wälder und Steige unter tiefem Schnee begraben lagen, wußten sie manchmal nicht, was sie in den Kochtopf tun sollten. Dann ging der Vater mit den beiden Knaben wohl in den Wald, stellte Schlingen und brachte manchmal einen Hasen oder gar ein verhungertes Reh in der Dunkelheit heimlich nach Hause. Dann freuten sie sich alle, hoben das tote Tier in die Höhe und rechneten aus, wieviel Mahlzeiten sie wohl davon haben könnten.

Aber das Mädchen blickte traurig auf das tote Tier, streichelte das feuchte Haar und sagte, daß es unrecht sei, ein lebendiges Geschöpf von den Seinen fortzureißen und es einem qualvollen Tode hinzugeben, nur damit sie satt würden.

Da lachten sie das Mädchen aus, trieben Spott mit seinen Tränen und schlugen es wohl gar, wenn es sich weigerte, von der gebratenen Speise zu essen. Denn sie waren harten Gemütes geworden in ihrer Not.

Da saß das Mädchen oft am Ufer des Flusses, wenn die Sonne wieder warm auf Gras und Binsen schien, blickte auf das leise ziehende Wasser und klagte im stillen, daß es gar so allein sei und die Brüder nur auf Raub und Jagd aus waren, statt mit der Schwester zu spielen.

Und als sie eines Tages wieder so dasaß, die mageren Arme um die braunen Knie geschlungen, sah sie, wie ein kleines, aus Binsen geflochtenes Körbchen den Fluß heruntergeschwommen war, das war nicht viel größer als die, in denen der Vater die Fische zur Stadt trug. Manchmal drehte es sich leise um sich selbst, und manchmal blieb es für eine Weile an den hohen Schilfhalmen hängen, die weit in den Fluß hinausstanden. Aber immer wieder machte es sich frei, und als es näher gekommen war, sah das Mädchen, daß etwas darin lag und sich ab und zu bewegte.

Da sprang es schnell auf, und das Herz klopfte ihm. Und da das Körbchen vorübertreiben wollte, schürzte es sein kurzes Kleid, watete in den Fluß und ergriff es an dem trockenen Binsenrand.

Da lag ein Knabe in dem Korb, der hatte ein kurzes, fein gesponnenes Hemd an und spielte ruhig mit einer weißen Seerose.

Sie hob ihn aus dem Korb, herzte ihn voller Freude und trug ihn schnell zu der Hütte hinauf, und es war ihr, als schiene die Sonne noch einmal so schön und als sängen die Drosseln noch einmal so lieblich im nahen Wald.

Doch war in der Hütte nicht soviel Freude über ihren Fund, wie sie gedacht hatte. Die Eltern befühlten mißmutig das Linnen des Hemdes, und die Brüder kehrten sogleich den Korb um, ob sich nicht unter den Binsen ein Schatz oder zum mindesten ein Goldstück befinde. Aber da nur die feuchten Binsenstengel da waren und nichts weiter, zuckten sie die Schultern, stießen den Korb mit den Füßen zur Seite, und der älteste wollte das Kind an den Füßen hoch heben, als sei es ein Hase, der sich in der Schlinge gefangen.

Aber die Schwester schlug ihn auf die Hand, umfing das Kind wieder mit den Armen und sagte, daß sie es ganz allein großziehen wolle, und niemand solle auch nur die geringste Arbeit oder Mühe mit ihm haben.

Die Eltern murrten wohl über den überflüssigen Esser, und der Vater meinte, es wäre am besten, ihn wieder in den Korb zu setzen und dem Fluß zu überlassen. Doch ließen sie der Tochter schließlich den Willen, weil sie so sehr bat, und meinten in heimlichen Gedanken vielleicht auch, daß es doch etwas Besonderes mit dem Knaben sein könnte und später einmal die Wasserfrauen es ihnen reichlich danken könnten.

Das Mädchen aber richtete sich ein Lager in dem kleinen Heuschuppen neben der Hütte, nahm den Knaben zu sich und nährte und pflegte ihn, als wäre er ihr eigenes Kind. Sie molk die Ziegen für ihn und pflückte ihm Beeren, und wenn sie nur einen Augenblick ohne Arbeit war, setzte sie sich in die Sonne zu ihm, flocht ihm Kränze oder baute ihm einen Wagen aus den Muscheln des Flusses und war ganz wie eine Mutter zu ihm, voller Güte, Sorgfalt und Zärtlichkeit.

Und der Knabe dankte es ihr mit großer Liebe.

Er war ein sehr zartes Kind, das immer still und für sich allein war. Und je älter er wurde, desto häufiger saß er am Ufer des Flusses, hielt die Füße in das flache Wasser und blickte mit großen, traurigen Augen den dunklen Wirbeln nach, die mit leisem Schluchzen vorüberzogen. Seine Schwester fragte ihn oft voller Sorge, ob ihm etwas fehle, aber er schüttelte nur den Kopf, lächelte ein wenig und sagte höchstens, daß er am Wasser immer Heimweh habe, aber er wisse nicht, wonach.

Den Eltern und den Brüdern aber wurde er langsam verhaßt, weil er oft eine Arbeit nach einer Weile aus der Hand gleiten ließ und in die Ferne träumte. Und wo sie ihn sahen, stießen sie ihn oder gaben ihm die schwerste Arbeit, zu der die anderen keine Lust hatten. Auch waren sie zornig, weil niemand den Blick seiner Augen aushalten konnte, wenn er sie groß und lange auf einen seiner Quäler richtete. Dann glaubten sie wohl, daß es eine besondere Bewandtnis mit ihm habe und fürchteten, daß er sie eines Nachts verzaubern könnte und sie am Morgen als Fische oder Salamander im Strome erwachen könnten.

Die Schwester aber hütete ihn vor Schelten und Schlägen, so gut sie es vermochte, und nahm gern vieles auf sich, was ihm zugedacht war.

So ging ein Jahr nach dem anderen, solange bis einmal ein Winter kam, in dem es so fror, daß die Vögel aus der Luft fielen und der Frost die alten Eichen im Walde spaltete. Da hatten die beiden auf ihrem Heulager es so kalt wie die kleinen Tiere im Walde, und sie schmiegten sich eng aneinander und wärmten eines das andere mit seinem Atem. Und da sagte der Knabe zum erstenmal, daß er fortgehen werde, damit sie es wieder leichter hätte und nicht Scheltworte und Schläge für ihn bekäme. Und daß er gerne da sein möchte, wo alle Menschen gut zu ihm wären, und wenn er das gefunden hätte, würde er eines Nachts kommen und sie holen.

Aber sie weinte sehr und bat ihn um alles in der Welt, sie doch nicht zu verlassen. Und da tröstete er sie, daß es ja noch Zeit habe, aber er versprach nichts, sondern verbarg ihr Gesicht nur an seiner Brust und deckte sie mit seinem Rock zu, so gut er konnte.

Nun war aber der Winter so hart, daß der Brunnen einfror und das Wasser aus dem Strome geholt werden mußte. Und da das eine schwere Arbeit war, weil man an jedem Morgen und Abend das Eis in dem Wasserloch wieder aufhacken mußte, so wurde das Pflegekind dazu befohlen. Es bekam ein schweres Beil und zwei schwere Holzeimer, die mußte es füllen, und da es keine Handschuhe hatte, so froren ihm manchmal die Hände an den eisernen Griffen der Eimer fest.

Doch duldete er nicht, daß die Schwester ihm die Arbeit abnahm, und wenn er das Viereck in die Eisdecke geschlagen und die weißen schimmernden Stücke mit den bloßen Händen herausgehoben oder in die Tiefe gedrückt hatte, wo die Strömung sie lautlos mitnahm, stand er lange über die dunkle Öffnung gebeugt und starrte gedankenverloren hinunter, wo ein Schimmer der Abendröte das schwarze Wasser erhellte oder der weiche Ast eines Schlingkrautes lautlos aus der Tiefe sich aufhob und wieder zurücksank.

Und obwohl er vor Kälte zitterte, konnte er sich doch von dem dunklen Bild nicht losreißen, als warte dort etwas auf ihn und er würde es versäumen, wenn er zu früh davonginge.

Und einmal am Abend, als er mit Mühe das Eis aufgehackt hatte und die Tränen an seinen Wangen festgefroren waren, schrie er plötzlich leise auf, denn in der dunklen, strömenden Tiefe zeigte sich mit einem Mal ein blasses, altes Gesicht, das hob sich bis dicht unter die Wasserfläche, nickte ihm freundlich zu und sprach: »Einmal werden wir es dir vergelten, was du Gutes an uns tust. Denn wenn du nicht jeden Morgen und Abend kämest, müßten wir sterben, weil alles vom Eise bedeckt ist.«

Da beugte der Knabe sich tief hinunter, und es war ihm, als hätte er längst, vor vielen, vielen Jahren in dies alte Gesicht geblickt, und er erschrak kein bißchen, auch nicht, als die blasse Hand des Wassermannes sich leise bis an die seinige hob und er die dünne Schwimmhaut zwischen den Fingern sah. Und auch daß die Hand kalt war, erschreckte ihn nicht. »Ich will immer kommen«, flüsterte er, »am Morgen und am Abend, und wenn du willst, komme ich auch um Mitternacht noch einmal, damit du nicht zu sterben brauchst.«

Aber der Wassermann schüttelte leise den Kopf und half ihm dann die beiden Eimer hinaufziehen. Und dann winkte er einmal mit der Hand und versank schweigend in der Tiefe, wie ein großer Fisch lautlos versinkt. Und im letzten Schein der Abendröte sah der Knabe, daß der Wassermann nicht Füße hatte wie er, sondern einen Fischschwanz, und er leuchtete einmal wie Silber auf, ehe er verschwand.

Da blieb er noch lange in der bitteren Kälte stehen und blickte in die viereckige Öffnung, durch die das schwarze Wasser mit leisem Flüstern zog, und wieder war ihm das Herz süß und schwer zu gleicher Zeit.

Am Abend aber, als die Frau den Eimer in die große Wassertonne ausleerte, stellte sie ihn nicht fort wie sonst, sondern beugte sich tief über ihn, als erblicke sie auf seinem Grunde etwas Merkwürdiges, fuhr dann mit der Hand hinein und hob etwas Schimmerndes heraus, das war eine Schuppe eines großen Fisches, und sie war von lauterem Gold.

Da drängten sie sich alle zusammen, betasteten sie voller Verwunderung und Habgier und leerten auch den anderen Eimer aus. Und auch auf seinem Grunde ruhte eine goldene Schuppe.

Da fragten sie den Knaben aus, hin und her, aber er schüttelte den Kopf und wollte von nichts wissen.

Am nächsten Abend war es wieder so, und da er immer noch leugnete, verbargen die Brüder sich vor der Zeit im Weidendickicht und hörten, daß der Knabe mit jemandem sprach oder doch nach einem verlangte, der sich nicht zeigen wollte.

Da berieten sie sich heimlich mit ihren Eltern, daß sie ein Netz unter die Öffnung spannen und das Wesen der Tiefe fangen wollten, damit sie noch mehr Gold erwürben.

Das Mädchen aber hörte ihnen heimlich zu, wurde von Trauer und Furcht ergriffen und erzählte es dem Knaben, als sie im Heuschuppen zur Ruhe gingen.

Der wollte den Morgen nicht abwarten, und obwohl sie ihn flehentlich bat, stand er doch auf, band das Tuch um den Hals und nahm das Beil mit sich.

Das Mädchen küßte ihn zum Abschied und sagte weinend: »Ich weiß, daß du nicht wiederkehren wirst. Aber vergiß nicht, daß ich alle meine Tränen und all mein Blut hingeben werde, um dich zu erlösen, wenn sie dich da behalten.«

Der volle Mond stand hoch und weiß am Himmel, als der Knabe leise zum Strome hinunterging, und sein Schatten glitt schwarz und lautlos mit ihm. Im Eichenwald bellten die Füchse, die Sterne flimmerten am schwarzen Himmel, und der Knabe war so traurig wie nie zuvor.

Er zerschlug leise die dünne Eisschicht, die schon wieder über der Öffnung gewachsen war, und sah das Spiegelbild der Sterne in der schwarzen Flut. Da rief er voller Gram nach dem Wassermann, und es war ihm, als würden die Brüder, wenn sie ihn hier erblickten, ihn sofort in die dunkle Tiefe hineinstoßen, nur damit sie sein Gesicht niemals wiedersähen.

Und als das alte, bleiche Gesicht zwischen den zitternden Spiegelbildern der Sterne auftauchte, bat er mit gerungenen Händen, er möchte ihn mit sich nehmen in sein Reich, da sein Leben ihm ohne Freude wäre unter den Menschen.

»Menschenkind, Menschenkind«, sagte der Wassermann mahnend, »weißt du auch, was du verlangst? Leicht ist es, zu uns hinunterzusteigen, und schwer, wieder die Sonne zu sehen.«

»Ich will sie nicht mehr sehen«, erwiderte der Knabe heftig. »Ich will dorthin zurück, wo man mich gefunden hat, und wahrscheinlich hat mich eine der Eurigen geboren.«

»Es ist euch bestimmt«, sagte der Wassermann, »in Schweiß und Tränen zu leben, anders als wir. Und einmal wirst du wieder Heimweh haben nach deinen Tränen. Denn wir, mußt du wissen, wir weinen nicht.«

»Ich habe genug geweint«, erwiderte der Knabe. »Nimm mich nun oder laß mich sinken, ganz wie du es willst.«

Und damit ließ er sich in die dunkle Tiefe gleiten, und der Wassermann fing ihn in seinen Armen auf und trug ihn nach dem blauen Schloß, in dem er lebte. Und sobald der Knabe die Arme um den Hals des Wassermannes gelegt hatte, fror ihn nicht mehr. Er konnte seine Augen öffnen und alles sehen, was auf dem Grunde des Stromes lag, die schimmernden Muscheln und alte bemooste Steine, und auch die Fische zogen ohne Furcht an ihm vorüber, und wenn die kühlen Körper seine Haut streiften, war es ihm, als berühre ihn eine warme Menschenhand.

Da seufzte er tief und glückselig auf und schlief an der breiten, kalten Brust des Wassermannes so ruhig ein wie ehemals an der warmen Brust seiner Schwester.

Als er erwachte, wußte er nicht, wo er war, und auch nicht, ob es Tag oder Nacht sei. Er lag auf einem weichen Lager, das war aus den feinen Zweigen der Schlingpflanzen aufgeschüttet, und über ihn hatten sie eine blaue Decke gebreitet, die war mit Seerosen und winzigen Muscheln geschmückt. Zu seinen Häupten sah er die Pfeiler einer hohen, blauen Grotte, und an ihrer schimmernden Decke waren runde Lampen aufgehängt, die strahlten ein blasses Licht wie Mondschein durch das ganze Gewölbe. Tische, Betten und Gefäße aber waren aus reinem Golde, und große Fische schwammen lautlos umher wie Diener, deren Augen leuchteten wie Edelsteine.

Denn die ganze Grotte war mit Wasser gefüllt, das so still stand wie in einem Brunnen, und doch atmete der Knabe so leicht wie im Sonnenlicht, und es war ihm so warm wie in der blühenden Heide um die Mittagszeit.

Zuerst glaubte er, daß er träume, und streckte die Hand aus, um seine Schwester in ihrem Heulager zu berühren, aber dann erklang ein leises, silbernes Lachen an seiner Seite, und er erblickte ein wunderschönes Mädchen, das lag still im Wasser neben seinem Lager, und nur ihr silberner Fischschwanz rührte ganz leise die goldschimmernden Flossen, wie Fische tun, die sich in der Strömung halten.

Da wußte er, wo er war, und er atmete tief auf vor Glückseligkeit, obwohl das Bild seiner verlassenen Schwester im selben Augenblick vor ihm stand. »Bin ich nun zu Hause bei euch?« fragte er leise.

Aber die Tochter des Wassermannes lachte wieder, strich ihm mit der weißen Hand durch sein blondes Haar und sagte nur: »Du Menschenkind, das müssen wir erst sehen.«

Da schlug er die Decke zurück und sah einmal schnell nach seinen Füßen, aber sie waren noch wie früher, und nur ein paar kleine Silberschuppen glänzten auf seinen Knien. Die wollte er mit der Hand abwischen, aber sie waren ein Teil seiner Haut, und er zog die Hand schnell zurück.

Dann nahm das Wassermädchen ihn an die Seite und schwamm mit ihm langsam durch alle Grotten, die waren eine schöner als die andere, und in allen leuchtete das blasse Licht von den runden Lampen an der Decke. Und zwei andere Schwestern kamen dazu, die waren ebenso fröhlich wie die erste, und als sie in die letzte Grotte kamen, lag dort der Wassermann auf einem breiten goldenen Lager und spielte mit den roten kleinen Fischen, deren Flossen wie wehende Schleier waren, und winkte ihm freundlich zu und sagte: »Nun richte dich nur ein bei uns, Menschenkind, und sieh zu, daß du die Sonne vergißt.«

Da lebte nun der Knabe still und ohne Not und empfing seine Speise in kleinen goldenen Schüsseln und spielte mit den Wassermädchen und fror nicht und wurde niemals gescholten. Und manchmal schwammen sie mit ihm weit den Strom hinunter, dicht über dem Grunde, da war es dunkel und totenstill, und er sah nur die Fischleiber der Mädchen silbern vor sich in der tiefen Dämmerung aufschimmern.

Da dachte er doch manchmal an die Sonne und wie die Drosseln im jungen Eichenwald gesungen hatten und der Kuckucksruf weit über die Heide gegangen war. Aber er sagte nichts und bat nur, daß sie zurückkehren möchten in die blauen Grotten, wo die Lampen so freundlich schienen.

Die Wassermädchen aber trösteten ihn und baten ihn, auf den Frühling zu warten. Da würden sie verborgen im Schilfwald liegen und auf Rohrflöten spielen, alle zusammen, so daß die Menschen voller Sehnsucht an das Ufer kommen würden, um ihnen zu lauschen.

Und als in einer stürmischen Frühlingsnacht das Eis des Stromes aufbrach und die Lampen in der Grotte leise hin und her schwankten, tanzten die Mädchen voller Freude und schlangen einen silbernen Reigen in dem blauen Wasser und hielten ihn bei den Händen, damit er mit ihnen sich freue. Und er gehorchte ihnen, aber das Herz war ihm seltsam bang, und er saß oft an der Schwelle der Grotte und blickte nach oben, wo ein dämmeriges Licht durch das Wasser fiel und ab und zu ein goldener Streifen wie ein schräger Balken im Strome stand.

Und wieder nach einiger Zeit nahmen die Mädchen ihn an seinen Händen und schwammen mit ihm den Strom hinauf und tauchten mit ihm im Schilfwald auf. Da lagen sie nun auf den alten, grün bemoosten Steinen und sahen den Wald in der Ferne, und die Sonne spiegelte sich golden in ihren feuchten Leibern. Und als in der neubegrünten Linde am Ufer eine Amsel zu flöten begann, war es dem Knaben, als müßten ihm nun die heißen Tränen in die Augen steigen, aber seine Augen blieben trocken, und er hob sich nur auf seinem Stein und blickte zwischen den grünen Schilfhalmen über das andere Ufer hinaus. Und er sah die grünen Wälder in der Sonne liegen und die braune Heide rings um sie gebreitet und große, weiße Wolken am blauen Himmel und das Bild eines kreisenden Raubvogels hoch im Äther.

Da hob er die Arme über sich hinaus, als ob er fliegen wollte, und ein leises Schluchzen brach aus seiner Kehle. Aber die Mädchen zogen ihn erschrocken zurück, daß ihn niemand sehe, und reichten ihm eine Rohrflöte und spielten nun alle zusammen eines ihrer traurigen Lieder, das ging so vor sich hin wie der klagende Gang des Wassers über versunkene Steine und bewegte dem Knaben das Herz, und er dachte nun an seine verlassene Schwester und wie sie vielleicht am Ufer säße in der Ferne und den sich verschlingenden Tönen lauschte.

Von nun ab bat er jeden Tag, daß sie mit ihm zum Schilfwald schwämmen, und manchmal schlich er sich auch heimlich fort, ganz allein, und saß auf einem der Steine und sah, wie die Schuppen unter seinen Knien mehr geworden waren, und verbarg sein Gesicht in den Händen und wußte nicht, ob das Leben ihm lieb oder leid sei.

Nur der Wassermann wußte es, und oft lag er, ohne daß der Knabe es wußte, verborgen im hohen Rohr und sah ihm zu, wie seine Augen die sonnige Welt mit Sehnsucht umfingen. Und er lächelte bitter über das törichte Menschengeschlecht, das aus Arbeit und Tränen nach Frieden verlangte und aus dem Frieden wieder nach Arbeit und Tränen.

Aber den Knaben ließ er es nicht entgelten, weil er ihm lieb war.

Dieser nun war einmal weiter stromauf geschwommen als bisher, und als er an einer sanften Biegung des Flusses auftauchte und mit den Händen die Schilfhalme zur Seite beugte, schrie er leise auf, denn vor sich sah er die Hütte mit dem Eschenbaum, darin er so lange gelebt hatte, die Netze, die zum Trocknen aufgehängt waren, und die weißen Ziegen, die langsam über die Heide zogen. Und auch der Ziehbrunnen war noch da, mit dem er die schweren Eimer hatte heraufziehen müssen, und sein alter, schwerer Balken stand schwarz gegen den blauen Himmel.

Da mußte er die Hände gegen sein Herz drücken, um nicht laut aufzuschreien, aber seine Augen blieben trocken, so sehr es ihn nach Tränen verlangte. Da wußte er sich nichts anderes, als seine Rohrflöte an die Lippen zu heben und mit einem der traurigen Lieder zu beginnen, das die Wassermädchen ihn gelehrt hatten.

Da verstummten die Vögel in der Runde, und das Schilf hörte auf, leise zu flüstern, und der Wind erstarb, der über die Heide ging, und alle Tiere und Bäume und Gräser schienen der Klage des verlorenen Menschenkindes zu lauschen, das vor seiner alten Heimat saß und sie doch nicht beschwören konnte.

Und als er eine Weile so gespielt hatte, sah er ein Kind in einem alten roten Kleid über die Heide gelaufen kommen, so leicht und schnell wie früher, und es war seine Schwester, die ans Ufer kam, als ob sie wüßte, daß er sie gerufen hatte.

Da stand sie mit den bloßen Füßen im Wasser, streckte die Arme aus und rief: »Bruder, lieber Bruder, wo bist du?«

Und er beugte die Schilfhalme vorsichtig zur Seite, wo er bis zur Brust im Wasser lag, und sagte: »Schwester, liebe Schwester, hier bin ich.«

Da weinte sie vor Freuden und Schmerz und wollte tiefer in das Wasser hinein, bis zu ihm, aber er wehrte es ihr voller Angst.

»So komme heraus zu mir«, bat sie, »und bleibe wieder bei mir wie früher!«

Aber er schüttelte traurig den Kopf. »Wenn ich das Wasser verlasse, muß ich sterben«, sagte er. »Und nur wenn ein anderer statt meiner in die blaue Grotte geht, kann ich erlöst werden. So hat es der Wassermann gesagt.«

»So will ich es sein«, rief sie schnell. »Wie eine Mutter war ich dir, solange du klein warst, und einer Mutter ist es nichts, für ihr Kind zu sterben.«

Aber er schüttelte wieder den Kopf. »Komme nur ab und zu hierher«, bat er, »daß ich dich sehen kann. Und wirf einen Strauß von Heidekraut in das Wasser, damit ich weiß, wie es riecht.«

Und dann ließ er die Schilfhalme sich wieder aufrichten und versank leise in der Tiefe, und nur ein zitternder Kreis des bewegten Wassers blieb über ihm zurück.

Der Wassermann aber, der ihm heimlich gefolgt war, tauchte vor dem weinenden Mädchen auf und sagte: »Fürchte dich nicht, mein Kind, ich will dir nichts zuleide tun. Er ist uns lieb geworden, aber sein Herz verlangt nach der Erde zurück, und er wird sterben vor Heimweh, wenn wir ihn halten. Liebst du ihn so sehr, daß du alles tun willst für ihn?«

»Alles!« sagte das Mädchen und trocknete seine Tränen.

»Nun höre!« sagte der Wassermann. »Du weißt, daß unser Blut kalt ist, so kalt wie das der Fische. Und manchmal verlangt uns nach Wärme, so wie es euch nach der Sonne verlangt. Willst du uns nun dein Herz geben, daß wir es dir aus der Brust herausnehmen können, so soll der Bruder dir wieder auf die Erde zurückkehren, du aber wirst eines stillen Todes sterben.«

»Und wenn ich tausendmal eines bitteren Todes sterbe«, sagte das Mädchen, »so soll er doch wieder auf seine Erde zurück und sich der Sonne freuen. Denn ich war wie eine Mutter zu ihm, und von Kind an habe ich ihm mein Herz gegeben.«

»So sei morgen um diese Zeit wieder hier«, sagte der Wassermann, »und wenn du es anders bedacht hast, so will ich dir nicht zürnen.«

Am anderen Tage aber, als der Knabe wieder seine Flöte spielte und das Mädchen am Ufer saß, tauchte der Wassermann auf, hielt ein Messer in seiner Hand und winkte den erschrockenen Knaben zu sich. »Hast du es anders bedacht?« fragte er das Mädchen.

»Nein«, sagte das Mädchen. »So wie wir es besprochen haben, so soll es sein.«

Da erzählte der Wassermann dem Knaben alles und fragte ihn, ob es ihm so recht sei. Und anders könne er aus dem dunklen Reich nie wieder empor.

Aber der Knabe fiel ihm in den Arm, rang mit ihm um das Messer und rief, daß er eher sich selbst das Herz aus dem Leibe schneiden würde als zugeben, daß der Schwester auch nur das geringste Leid geschehe.

Da lächelte der Wassermann sein trauriges Lächeln und sagte: »Einmal habe ich dir versprochen, daß ich dir nicht vergessen würde, was du in dem harten Winter für uns getan hast. Nun will ich es dir vergelten und habe dich nur geprüft. Du kannst wieder über die Heide gehen wie früher, aber vergiß nicht, daß jemand sein Herz für dich geben wollte, hörst du? Und gehe weit fort von hier, daß du unsere Flöten nicht mehr hören kannst. Denn wenn du sie hörst, wird dir das Herz wieder schwer werden. Es gibt solche unter euch, die leben in einem Element, und solche, die leben in einem anderen. Du aber möchtest in beiden sein, weil du auf dem Wasser geboren wurdest. Gehe nun und klage nicht mehr über Schweiß und Tränen. Denn dazu seid ihr geboren, daß ihr einander den Schweiß von den Stirnen wischet und einander die Tränen trocknet. Und du weißt noch nicht, daß die Tränen das Süßeste sind, was euch geschenkt worden ist.«

Und damit hob er den Knaben auf den Sand des Ufers und tauchte lautlos unter in der strömenden Flut, und ein großer silberner Kreis zitterte über ihm auf dem Wasser, bis die Strömung ihn davontrug.

Das Mädchen aber umschlang den Knaben und kniete vor ihm nieder und weinte vor Freude. Und als seine Tränen an den Knien des Bruders niederrannen, verschwanden die silbernen Schuppen, die nun seine Füße fast ganz bedeckt hatten, und seine Haut war, wie sie früher gewesen war.

Und dann nahmen sie einander bei der Hand und gingen stromaufwärts, und das Haus und die Ziegen blieben hinter ihnen.

An der Biegung aber, wo er zuerst mit den Mädchen aufgetaucht war, um die Erde wiederzusehen, lag etwas Goldenes und Schweres im Grase, das war das Beil, mit dem er das Eis im Strome zur Winterszeit aufgebrochen hatte. Das nahmen sie mit sich.

Und so gingen sie immer stromauf, viele Tage und Wochen, bis zu den Bergwiesen, wo die Quelle des Stromes war. Dort bauten sie eine Hütte aus Rasen, Schilf und Zweigen, und dort wollten sie zusammen wohnen und in der Umgegend ihr Brot verdienen. Und sobald das goldene Beil einen der Bäume berührte, brach er zusammen, und sobald es die Erde berührte, blühten die Berganemonen, und sobald es eine Speise berührte, war sie gar gekocht und duftete ihnen entgegen.

Und am ersten Abend, als das Feuer in der Hütte brannte und der Knabe die Hände über die Flammen hielt, um sie zu wärmen, sagte er: »Nun mußt du mich noch eines wieder lehren, was sie dort nicht konnten und was ich vergessen habe: daß ich wieder weinen kann.«

Da lächelte das Mädchen, umfing ihn wie früher mit seinen Armen und sagte: »So sei nur nicht ungeduldig. Wer über die Erde geht, lernt es von selbst und braucht nichts dazu zu tun.«

* * *


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