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Das Hexenkind

Eine Frau lebte in einer Hütte an einem großen Wald. Die Frau war böse und eine Hexe, aber die Leute wußten es nicht, denn sie war nicht alt und mißgestaltet, sondern jung und freundlich anzusehen, so daß sich niemand einer bösen Tat von ihr versah. Auch war es ihr lange Zeit genug, Hagel herunterzurufen, wenn das Korn in Ähren stand, oder ein Viehsterben herbeizuführen, oder den Kindern einen Kropf anzuwünschen, oder die Bäche austrocknen zu lassen.

Aber je besser es damit ging und je weniger die Leute einen Verdacht auf sie hatten, desto kühner wurde sie, und desto mehr Freude hatte sie am Bösen, so daß sie begann, Kinder, die sie im Walde beim Beerenlesen antraf, in junge Lämmer zu verwandeln, also daß ihr allmählich eine große Herde auf der Heide weidete. Die schor sie zu ihrer Zeit und spann eine goldschimmernde Wolle daraus, und je mehr Geld sie daraus zog, desto habsüchtiger wurde sie und legte Goldstück auf Goldstück und dachte sich für ihr Alter ein großes Haus davon zu erbauen, in dem sie herrlich und in Freuden leben wollte.

Nun hatte die Frau eine einzige Tochter, die war lieblich anzusehen und guten Herzens, und sie wußte nichts von den Werken ihrer Mutter, und wenn sie einmal fragte, wo die vielen Lämmer herkämen, so antwortete die Mutter, daß sie sie eingetauscht hätte gegen heilbringende Kräuter und daß Gott dem Fleißigen seiner Hände Werk immer lohne. Dann war die Tochter es zufrieden, hütete still die Schafe und sann nur oft darüber nach, weshalb die Lämmer immer traurig waren und sie mit feuchten Augen anblickten, als ob sie zu ihr sprechen wollten. Und obwohl sie ihnen die beste Weide suchte und dafür sorgte, daß sie immer zum Trinken an das Bachufer kamen, wenn die Sonne stach, so blieb es doch dabei, daß sie ohne Freude waren, und so wurde das Kind langsam ebenso traurig und bedrückt und wußte nicht, was es davon halten sollte. Und wenn es die Mutter fragte, so lachte diese nur und meinte, Schafe seien eben dumm, und wer dumm sei, werde auch traurig, weil er nicht wisse, wie schön diese Erde sei.

Als nun die Jahre dahingingen, war es der Mutter in ihrer Habsucht zu wenig, was sie an Kindern im Walde traf, und sie wies ihre Tochter an, alle Kinder, denen sie beim Hüten oder im Walde begegnete, mit sich zu bringen oder sie auch aus der Nachbarschaft zu holen, damit sie mit ihr spielten und sie nicht so einsam sei, denn mit Schafen allein könne ein junges Menschenkind nicht gut leben. Und waren sie dann alle im Hof oder Garten fröhlich beieinander, so fand die Mutter immer etwas, die Tochter für eine Weile fortzuschicken, und dann setzte sie den Kindern schnell eine Speise vor, die sie heimlich beredet hatte, und wer nur einen Löffel voll davon gegessen hatte, verlor alsbald seine Menschengestalt und wurde ein Lamm, und die Mutter trieb sie schnell zur Herde und sagte, wenn die Tochter zurückkehrte, daß alle Kinder sie grüßen ließen und daß sie sie nach Hause geschickt hätte, damit der Abend sie nicht überrasche.

Darüber verwunderte sich die Tochter, und zwar je mehr, desto häufiger es geschah, und am meisten fiel ihr auf, daß die neuen Lämmer vor ihr flohen, so weit sie konnten, als wäre sie vom Aussatz gezeichnet. Da wurde sie ganz traurig, kam sich wie eine Ausgestoßene vor und zog sich auch von den Spielen zurück, wenn fremde Kinder im Garten tanzten. Und als die Mutter sie wieder einmal fortschickte, um etwas zu holen, verbarg sie sich heimlich im Garten und sah den Kindern sehnsüchtig zu, wie sie fröhlich waren miteinander, als ob es kein Leid auf der Welt gebe.

Und wie sie so hinter den Beerensträuchern kauerte, sah sie, wie die Mutter eine rötliche Speise in einer großen Schüssel auftrug, die Löffel an die Kinder verteilte und sie fröhlich aufforderte, soviel zu essen, wie jedes Lust hätte.

Aber dann stand ihr Herz still, als sie sah, wie nach dem ersten Löffel jedes der lieblichen Kinder sich in ein Lamm verwandelte und wie die Mutter sie mit höhnischen Worten zu der Herde trieb und an den Fingern ihren Reichtum abzuzählen begann.

Da verstand sie nun mit einem Mal alles, was die Jahre über geschehen war, und sie warf sich zur Erde, verbarg ihr Gesicht im Grase und weinte so bitterlich, als sollte ihr das Herz zerbrechen.

Spät am Abend erst schlich sie sich in das Haus, gab an, daß sie Kopfschmerzen habe und stahl sich in ihre Kammer, wo sie weinend auf ihrem Bette lag und nicht wußte, was sie tun sollte.

Von dieser Stunde an schauderte es sie vor ihrer Mutter, und als sie zum ersten Mal wieder die Herde weidete, trieb sie die Schafe zusammen und sagte: »Ihr armen Brüder und Schwestern, tragt mir doch nicht nach, was ich unwissend getan habe, denn ich wußte nicht, daß meine Mutter eine Hexe ist. Ich will mich aufmachen und zu meiner Muhme gehen, die wohnt tief im Walde und ist eine weise Frau. Vielleicht, daß sie etwas weiß, wie ich euch wieder erlösen kann.«

Die Schafe hörten ihr geduldig zu, aber ihre Augen blieben traurig, und das Mädchen konnte erkennen, daß sie nicht sehr viel Zutrauen zu der Weisheit der Muhme hatten. Doch flohen sie wenigstens nicht mehr vor ihr, und darüber freute sich das Mädchen so, daß es den ganzen Tag bei ihnen blieb und sie streichelte, wenn sie am Bachufer standen und sehnsüchtig über das Wasser hinaus in die Ferne blickten.

Am nächsten Morgen aber machte die Tochter sich heimlich davon und lief durch den dunklen Wald bis zu ihrer Muhme. Die war eine alte Frau und von der Arbeit gebeugt, aber sie sammelte noch immer Kräuter und ging zu den Kranken, sobald man nach ihr verlangte.

»Das Goldkind ist da«, rief sie fröhlich, »und nun sollst du dir gleich wünschen, was du essen und trinken willst, denn du kommst so selten, daß Freude in meiner Hütte ist, wenn ich dich sehe.«

Aber die Tochter wollte nicht essen und trinken, sondern sie kniete neben der Muhme nieder und erzählte weinend, was ihr geschehen war.

Da erschrak die Muhme, aber sie verbarg es und streichelte nur das Haar der Weinenden. »Es hat mir vieles geahnt«, sagte sie, »aber ich habe es nicht genau gewußt. Und nun müssen wir zusehen, wie wir es am besten machen. Ich denke, daß ich zum Pechmann gehen muß, der lebt noch tiefer im Walde, aber er ist klüger als ich, und er wird uns gut raten.«

Dann mußte die Tochter essen und trinken und sich auf das Lager der Muhme legen. »Fürchte dich nur nicht«, sagte die alte Frau. »Siehst du das Eichhörnchen hinter dem Herd? Das bleibt hier, und solange es da ist, kann dir nichts geschehen.«

Da streckte die Tochter seufzend ihre müden Glieder aus, und das letzte, was sie hörte, war der leise Ton, mit dem die leeren Nußschalen aus den Händen des Eichhörnchens auf die Lehmdiele fielen.

Am Abend kam die Muhme zurück, und so fröhlich sie schien und so laut sie erzählte, so merkte die Tochter doch, daß ihr das Herz schwer war. »Verbirg mir nur nichts, liebe Muhme«, sagte sie endlich. »Und wenn es mich das Leben kostet, so will ich die Armen doch erlösen, denn durch meine Schuld sind sie stumm und elend geworden.«

Da seufzte die Muhme tief auf und zog das Kind an ihre Brust und streichelte ihm das schöne Haar.

»Sage es nur ruhig, liebe Muhme«, wiederholte das Kind, »denn ich will alles tun, was der Pechmann gesagt hat.«

Da trocknete sich die Muhme mit der Schürze die Augen und sprach: »So also hat der Pechmann gesagt, liebes Kind: einiges, was die Hexen tun, kann mit Erde wieder gut gemacht werden, und anderes mit Wasser, und noch anderes mit Feuer. Aber das Schlimmste, was sie tun, kann nur mit Blut wieder gut gemacht werden, und kein Blut ist so stark auf dieser Erde wie eines reinen Kindes Blut. Und so sollst du alle Verwandelten um dich versammeln, sagt der Pechmann, und sollst ein scharfes Messer nehmen und dir eine Ader an deinem linken Arm öffnen, und von dem Blut, das herausströmen wird, soll jedes der Tiere einmal lecken, und wenn es getrunken hat, so wird der Zauber von ihm fallen. Sagt der Pechmann. Aber ob du es überstehen wirst, liebstes Kind, das weiß er nicht. Denn er weiß nicht, wie viele Tiere es sind, die von dir trinken wollen, und auch ich habe es nicht gewußt.«

Und da weinte die Muhme bitterlich, und ihre Tränen fielen in das Haar des Kindes.

Aber das Kind tröstete sie und war ganz fröhlich. »Sei nun nicht traurig, liebe Muhme«, sagte es. »Es sind viele Lämmer, so viele, daß ich sie kaum zählen kann, und keines soll leer ausgehen. Und wenn jedes nur einen Tropfen braucht, so werde ich es vielleicht überstehen. Und überstehe ich es nicht, so sollst du nicht weinen, sondern mit den Erlösten fröhlich sein.«

Da küßte die Muhme sie und reichte ihr zum Abschied einen Korb, der war mit ganz zarten Blättern gefüllt, und das Mädchen hatte sie noch nie gesehen.

»Gib deinen Schafen davon«, sagte die Muhme, »so wird dir alles leichter sein. Aber verbirg es vor deiner Mutter.«

Und dann ging die Tochter davon.

Als sie wieder unter ihren Schafen stand und sie sich traurig hinzudrängten, erbarmte es sie all des Jammers, und sie konnte es kaum erwarten, sie zu erlösen. Aber zuerst nahm sie die Kräuter aus dem Korbe und gab jedem aus der Hand eines der Blätter, und sobald die Tiere davon gefressen hatten, gewannen sie ihre Menschenstimme wieder und wußten sich vor Freude kaum zu fassen. »Deine Mutter hat uns stumm gemacht«, sagten sie, »aber du hast uns wieder die Zunge gelöst, und nun wird alles wieder gut werden.«

Am Ende der Reihe aber stand ein grauer Esel, den hatte die Tochter noch niemals gesehen, und sie fragte die Lämmer nach ihm und wie er hergekommen sei.

Da erzählten sie ihr, daß während ihrer Abwesenheit ein vornehmer Jüngling angekommen sei, der hatte den Weg verloren und war müde und erschöpft. Und die Mutter hatte ihn freundlich aufgenommen und von einer besonderen Speise gekocht, und als er seine Menschengestalt verloren hatte, da hätte sie höhnisch zu ihm gesagt: »So wie du etwas Besonderes warst, so sollst du auch etwas Besonderes bleiben, und ich habe schon lange etwas gebraucht, das meine Körbe trägt.«

Da gab das Mädchen dem Esel von den Kräutern zu essen und sagte: »Sei nur guten Mutes, auch für dich wird bald die Erlösung kommen.«

Aber der Esel sah sie traurig an und sagte: »Ist es denn wahr, daß sie deine Mutter ist? Und wie kann das sein?«

Da wußte das Mädchen nichts zu sagen, so sehr schämte es sich, aber bevor es in die Hütte ging, trieb es die Schafe in den Pferch, der lag abseits unter Bäumen und war vom Haus aus nicht zu sehen. »Wartet nur geduldig«, sagte es, »denn wenn der Mond aufgegangen ist, will ich noch einmal zu euch kommen, und dann müßt ihr tun, was ich euch sage.«

Die Mutter kämmte ihre goldene Wolle, und als sie gefragt hatte, wo die Tochter gewesen war, schalt sie auf die Muhme als auf eine böse Frau, bei der es nicht geheuer sei.

Die Tochter aber ging gleich in ihre Kammer und wollte lange schlafen, da sie müde sei von ihrem Wege.

Aber als der Mond vor ihr Kammerfenster gestiegen war, stand sie leise auf, holte aus der Küche das spitze Messer, das am Herde lag, und schlich sich so, wie sie war, in ihrem weißen Hemd, zum Bach hinunter. Dort schärfte sie das Messer leise an einem nassen Stein, streifte dann das Hemd ab und wusch sich in dem kühlen Wasser, damit sie ganz rein und ohne Makel würde zu ihrem Werk.

Es fröstelte sie etwas, als sie sich wieder angekleidet hatte, aber es war ihr schön, so allein und still unter dem großen Mond zu stehen, indes das Wasser leise über ihre nackten Füße floß und der weiße Nebel sich über die Wiesen hob.

Als sie in den Pferch zu ihren Schafen getreten war, setzte sie sich auf einen Findlingsstein, der neben dem Eingang lag, und der noch warm von der Tagessonne war. »Kommt nun alle herbei«, sagte sie. »Mir hat der Pechmann im Walde gesagt: ›einiges, was die Hexen tun, kann mit Erde wieder gut gemacht werden, und anderes mit Wasser, und noch anderes mit Feuer. Aber das Schlimmste, was sie tun, kann nur mit Blut wieder gut gemacht werden, und kein Blut ist so stark auf dieser Erde wie eines reinen Kindes Blut!‹«

Und damit nahm sie das Messer und schnitt über eine blaue Ader auf ihrem Arm. Und als das Blut aus der Wunde schoß, sagte sie: »Kommt nun schnell und trinkt von meinem Blut, aber schnell, solange es noch fließt und Leben in mir ist.«

Da schrien sie alle erschreckt auf, aber da das Mädchen so sehr bat, so traten sie schnell eines nach dem anderen heran und berührten mit ihren Lippen das rote Blut. Und wie sie es berührt hatten, fiel die Tiergestalt von ihnen ab, und sie waren, wie sie immer gewesen waren.

Das Mädchen aber sagte, und ihre Stimme war nun schon schwächer geworden: »Trinkt nicht zuviel und denkt daran, daß für alle etwas übrig bleiben muß!«

Da vergaßen sie ganz die Not des Kindes und drängten sich hinzu, damit nicht eines ohne seine Erlösung bleibe, und das Mädchen sah ihnen ein bißchen traurig zu, wie doch jedes nur an seine eigene Not dachte, und fühlte ihre Kräfte immer schneller schwinden und versuchte zu zählen, wie viele noch übrig geblieben waren, aber es bewegte sich schon alles in Kreisen vor ihren Augen, und sie flüsterte: »Nur einen Tropfen für jedes, sonst bin ich tot vor der Zeit, und niemand wird euch erlösen.«

Und als sie alle erlöst waren, blieb nur noch der Esel übrig, und als er sah, wie weiß und sterbensmatt das Kind war, weigerte er sich, von ihrem Blut zu nehmen, sondern drückte nur seine feuchten Lippen auf die Wunde und preßte die Ränder solange zusammen, bis das Blut gestillt war.

»Ach, lieber Esel«, sagte das Kind, »nun muß ich doch traurig bleiben, weil du nicht erlöst worden bist.«

Aber er sah sie freundlich an und sagte: »Meinst du denn, ich würde dein Leben nehmen, nur um das meinige zu retten? Wie alle diese hier?«

Da schämten sich die Kinder, daß sie nur an sich gedacht hatten, aber das Mädchen hieß sie schnell nach ihren Hütten laufen, bevor die Mutter erwache und ihnen vielleicht ein neues Leid zufüge. Und sie bedankten sich tausendmal und baten das Mädchen, bald in den Wald zu kommen, damit sie ihm alles Gute zu essen bringen könnten und es sich bald wieder erhole.

Und dann schoben sie das Tor des Pferches zur Seite und liefen quer über die Heide zum dunklen Wald, und noch lange waren ihre Stimmen in der stillen Nachtluft zu hören.

Der Esel aber bettete das Mädchen sorgsam in das Stroh der Hürde, ging für eine Weile fort und kam mit einem Kraut zwischen den Lippen wieder. Das legte er auf die Wunde und bat das Mädchen, zu schlafen, indes er wachen wolle, daß ihr kein Leid geschehe.

»Möchtest du denn nicht fort mit den anderen?« fragte das Kind und war schon halb im Einschlafen.

»Nein«, sagte der Esel, »ich möchte bei dir bleiben, und wo du bist, da will auch ich sein.«

Er wartete, bis das Kind eingeschlafen war, und dann trat er in das offene Tor der Hürde und bewachte ihren Schlaf.

Die Mutter aber, als der Mond seinen Scheitelpunkt erreicht hatte, erwachte und lauschte aus ihrem Kammerfenster, denn es war ihr, als höre sie das leise Widerkäuen der Schafe nicht, und daran merkte sie sonst immer, daß alles ihrem Zauber gehorsam war.

Da warf sie schnell ein Tuch über, vergaß aber ihren Zauberstab und lief, so schnell sie konnte, zu der Hürde. Da sah sie das Tor offen stehen, aber der Esel stand darin, mit dem Rücken zu ihr, und rupfte ruhig an dem trockenen Gras.

»Wo sind meine Lämmer?« fragte sie atemlos und vergaß ganz, daß der Esel nicht sprechen konnte.

Aber der Esel wendete den Kopf, sah sie freundlich an und sagte: »Ich weiß es nicht, aber deine Tochter hat es mir auf die Hufe geschrieben und gesagt, daß du es dort nachlesen sollst.«

Da erschrak die Hexe, daß der Esel sprechen konnte, aber zuerst sorgte sie sich um ihre Lämmer, beugte sich zur Erde und sagte: »Hebe deinen rechten Hinterhuf auf, damit ich es lese!«

Das tat der Esel, aber als er ihn gehoben hatte, sah er sich noch einmal um, und dann schlug er mit aller Kraft zu und traf die Hexe vor die Brust, so daß es einen dumpfen Schlag gab und sie tot zu Boden fiel.

Da lauschte er eine Weile, ob das Mädchen noch schlief, und da er die ruhigen Atemzüge vernahm, ergriff er die Hexe mit seinen Zähnen an ihrem Tuch und trug sie leise ans Wasser. Und als er sie in den Bach hineingeschoben hatte, sah er viele Fische, die glänzten im Mondlicht wie Silber, und es waren viele tausend, und sie zogen die Hexe in die dunkle Tiefe hinab, und nichts war mehr von ihr zu sehen als das Tuch, das schwamm auf den kleinen Wellen abwärts, immer weiter und weiter und war schließlich in der Ferne anzusehen wie ein umgestürztes Boot, das zum Meere trieb.

Dann kehrte der Esel wieder nach der Hürde zurück und bewachte den Schlaf des Kindes, und als die Morgensonne in die geschlossenen Augen fiel, erwachte es und war noch blaß und sterbensmatt, aber der Esel hieß es sich auf seinen Rücken setzen und ihm den Weg zur Muhme zeigen, denn sie werde wissen, was nun am besten zu tun sei.

So zogen sie denn durch den hellen Morgen, und als die Vögel in den Zweigen sangen und die Tautropfen in allen Farben schimmerten, legte das Kind die Hände auf den Hals des Esels und sagte: »Ich fühle schon, wie das Blut mir aufs neue zurückkehrt, aber ich werde erst dann ganz gesund sein, wenn du wieder deine Menschengestalt haben wirst.«

Da schüttelte der Esel seinen Kopf und erwiderte: »Sorge dich nicht, alle Gestalt vergeht, und wenn du lächelst, kann auch ein armer Esel froh sein.«

Die Muhme mußte wieder weinen vor Freude, aber dann legte sie das Kind gleich auf ihr Lager und kochte eine Kräutersuppe und saß bei ihm, bis es wieder eingeschlafen war.

Und dann lief sie wieder zum Pechmann in den Wald und als sie wiederkam, blieb sie bei dem Esel stehen und sagte bekümmert: »Weißt du, was wärmer ist als Blut?«

»Vielleicht«, erwiderte der Esel. »Sei auch du nun ohne Sorge, denn es hat mir geträumt, daß Sterne auf meine Haut fielen, und da wurde ich wieder wie zuvor.«

Als aber die Tochter erwachte und vernahm, daß der Esel nur durch etwas erlöst werden konnte, was wärmer war als Blut, schlang sie ihre Arme um den Hals des Tieres und weinte bitterlich. »Ich weiß es nicht«, schluchzte sie, »und mein Blut ist doch das Wärmste, was ich habe.«

Aber wie ihre Tränen auf den Hals des Esels fielen und an dem grauen Fell herabliefen, sah sie plötzlich, daß sie ihre Arme um den Hals eines schönen Knaben geschlungen hatte, daß alle Tiergestalt versunken war und daß ein Paar helle, liebevolle Menschenaugen sie zärtlich anblickten. »Ich habe es gewußt«, sagte er leise und küßte sie, »und nun weißt auch du, daß deine Tränen noch wärmer sind als dein Blut. Und nun wollen wir zusammenbleiben, und nichts soll uns mehr trennen auf dieser Erde.«

Da blieben sie bei der Muhme im tiefen Wald und schlossen Freundschaft mit dem Pechmann, und Sonne und Regen fielen über ihr Glück, wie über die blauen Blumen, die im Moose wuchsen. Und wenn sie einmal am Bachufer saßen und in der Ferne eine Schafherde erblickten, dann faßten sie einander bei den Händen und sagten: »Es gibt nichts auf der Erde, was ein gutes Herz nicht bezwingen könnte.«

* * *


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