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Weißhand

In einer Hütte am Moor lebte einmal eine böse Frau, die konnte das Wetter machen und die Milch der Kühe besprechen und den Menschen einen Kropf anzaubern und war auch sonst aller schlechten Künste kundig, so daß jedermann ihr aus dem Wege ging und sie mit der Leinwand, die sie webte, weit über Land wandern mußte, damit man sie ihr abnahm.

Aber einmal hatte sie einen schlechten Handel gemacht, und das kam so. Im Moor lebte ein Torfstecher, von dem viele böse Gerüchte gingen, der war sehr darauf aus, einen Trank von ihr zu erwerben, mit dem man einem Menschen eine schleichende Krankheit eingeben konnte, und er versprach ihr dafür das Schönste, das sie sich wünschen könnte. Und obwohl die Frau Genaueres darüber wissen wollte, blieb er doch dabei stehen, bis ihre Habgier so wach geworden war, daß sie endlich einwilligte.

Als sie ihm nun eines Abends das Fläschchen gegeben hatte, sagte er mit seinem schiefen, listigen Blick, sie solle nur heimgehen, da warte das Schönste schon auf sie, und als sie atemlos ihre verfallen Gartentür öffnete, stand vor der Schwelle eine kunstlose Wiege, und darin lag ein kleines, wunderschönes Mädchen, das blickte still und zufrieden zu den roten Abendwolken auf und spielte mit seinen kleinen weißen Händen.

Die Frau stieß einen grimmigen Fluch aus und lief in das Moor zurück, aber so sehr sie sich umblickte, so war die Hütte des Mannes verschwunden und die ganze, ihr so vertraute Landschaft verändert und verschoben wie in einem wirren Traum. Da hob sie die Faust gegen den unsichtbaren Betrüger, kehrte heim und blieb eine Weile in finsteren Gedanken vor dem kleinen Menschenkinde stehen. »Du sollst mir schon dienen, wozu ich dich brauche«, sagte sie endlich, und damit fand sie sich mit ihrem schlechten Handel ab.

Das kleine Mädchen hatte kein fröhliches Leben bei der Frau. Am Morgen und Abend bekam es einen halbwarmen Brei, und das war alles, was es an Liebe empfing. In der Frühe stellte die Frau die Wiege in den kleinen Garten, und dort blieb das Mädchen bis zum Abend. Es weinte nie, und es klagte nie. Es hatte kein Spielzeug außer seinen eigenen Händen, und je älter es wurde, desto mehr zeigte sich, daß diese Hände das Schönste an ihm waren, so zierlich, als hätte ein Elfenkind sie geschaffen, und so weiß, daß die wenigen Nachbarn das Kind bald nur Weißhand nannten.

Am meisten Plage machten dem Kind die Fliegen, die an schwülen Tagen sich in ganzen Wolken auf die Wiege stürzten, und da es keiner Kreatur etwas zuleide tun konnte, so blieb ihm nichts anderes übrig, als wohl tausendmal am Tage die Quälgeister von sich zu scheuchen. Aber einmal war es doch so schlimm, daß sich in jedem Augenwinkel eine schwere Träne sammelte und der kleine Mund sich in bitterem Leide verzog.

Nun war an diesem Tage die böse Frau über Land gegangen, die Sonne brütete über dem Moor, und alles war so still wie in einem verzauberten Garten. Da kam, als gerade die Bremsen begannen, den Fliegen Gesellschaft zu leisten, eine alte Frau aus dem dunklen Fichtenwald neben dem Moor über die Heide gegangen, die hatte ein Kleid an, das war so alt, daß es in der Sonne in allen Farben schimmerte, und auch die Zipfel ihres Kopftuches sahen von ferne wie zwei große Libellenflügel aus. Aber sie hatte ein freundliches Gesicht und große, liebreiche Augen, mit denen blickte sie zärtlich auf das Mädchen Weißhand, als sie neben der Wiege saß. »Du armes Menschenkind«, sagte sie leise, und dann hob sie ihre Hand und strich damit über die Wiege, und wie sie es getan hatte, waren wie unter einem Zauberspruch alle Fliegen und Bremsen und Käfer verschwunden und zogen wie eine schimmernde Wolke auf das Moor hinaus und kamen nicht wieder.

Da lächelte das Mädchen, als wolle es sich bedanken, und als die beiden schweren Tränen langsam an seiner Wange herunterrollten, fing die alte Frau sie mit ihrer Hand auf und ließ sie vorsichtig in eine kleine Büchse fallen, die schimmerte in allen Farben wie der Glanz auf einem Schmetterlingsflügel. Und darnach ging sie leise wieder davon und über die Heide in den dunklen Wald zurück.

Von diesem Tage ab kam sie ab und zu in den stillen Garten, wenn die Frau über Land gegangen war, und als das Mädchen größer geworden war, brachte sie hin und wieder ein Körbchen mit Beeren mit oder ein Stückchen süßes Harz. Und dann sprachen sie leise miteinander, von dem, was im Walde geschah, oder wie die Menschen es auf der Erde trieben, oder was den vielen Käfern auf der Heide widerfuhr. Und das Mädchen gewann eine große Liebe zu der alten, stillen Frau und nannte sie »Frau Mutter«, und als sie das zum ersten Male gesagt hatte, nahm die Frau die beiden kleinen Hände des Mädchens in die ihren und tauchte einmal darüber hin und sagte etwas Unverständliches dazu, und von da ab schien es, als seien die Hände aus Elfenbein und als hätte der liebe Gott sie zu besonderen Dingen ausersehen für seine Erde.

Als nun Weißhand herangewachsen war, setzte die böse Frau sie eines Tages an den Webstuhl und unterwies sie mit wenig Geduld und vielen harten Worten in ihrer Kunst, aber als sie eines Tages von einer ihrer Wanderungen zurückgekommen war und das erste fertige Gewebe des Mädchens über dem Stuhl erblickte, stand sie mit offenem Munde da und staunte über die Kunstfertigkeit der kleinen Hände. »Wer hat das gemacht?« fragte sie endlich.

»Ich selbst«, erwiderte Weißhand.

Da kehrte die Frau sich voller Grimm ab und bedachte sich die ganze Nacht, welchen Nutzen sie einmal aus den Händen des Mädchens ziehen könnte.

Unterdes lebte Weißhand still und fröhlich dahin, und von den Schmerzen, die sie trug, waren ihr die schwersten, wenn sie eine unschuldige Kreatur leiden sah. Wurde sie also einmal in den Wald geschickt, um Beeren oder Kräuter zu sammeln, so mußte sie bei jedem Spinnennetz stehen bleiben, in dem eine Fliege oder ein Käfer sich gefangen hatte, und so fein waren ihre Hände, daß sie nicht eher ruhten, als bis sie das Opfer befreit hatten. Ja, so zart waren ihre Fingerspitzen, daß sie das zähe Gewebe selbst von dem duftigsten Schmetterlingsflügel so lösen konnte, daß auch der zarteste Farbenschmelz keinen Schaden litt und das bunte Wunderwesen sich so in die blaue Sommerluft schwang, als wäre ihm nicht das geringste Leid geschehen.

Aber bei dieser Arbeit blieb das Körbchen halbvoll, und es gab Schelte und Schläge in der Hütte, so daß die beiden ersten Tränen nicht die einzigen blieben, die das Mädchen weinte.

Beim nächsten Mal aber saß die alte Frau wieder im Walde und sah ihr zu, wie sie einen Käfer aus dem Netz löste, und rief sie dann leise zu sich. »Höre mir nun zu, Weißhand«, sagte sie und füllte ihr den Korb mit großen, duftenden Beeren. »Es ist nun Zeit, daß du weißt, wer ich bin. Ich bin nicht deine Mutter, aber ich bin die Mutter aller Käfer, Schmetterlinge und alles fliegenden Gewürms in diesem Walde. Ich kann sie nicht vor Schaden und Unglück bewahren, ich kann sie nur lehren und zusehen, ob sie meinen Lehren folgen. Dich aber habe ich dicht an mein Herz genommen, weil du sie liebst und ihnen hilfst, wenn sie es brauchen. In deinem Leben wird nun bald eine Veränderung vorgehen, da die böse Frau es böse mit dir meint. Tue alles, was du geheißen wirst, aber wenn du in Sorge oder Not bist, so reibe dreimal ganz leise deine Fingerspitzen aneinander, und ich werde dir zuhilfe kommen. Und nun laufe zu deiner Hütte, daß du keine Schelte bekommst.«

Da bedankte Weißhand sich sehr, nahm ihr gefülltes Körbchen und lief schnell durch den Wald zurück.

Nun lebte in diesem Walde, wo er am dunkelsten war, die Spinnenfrau, die war die Herrin aller der behaarten und unbehaarten Räuberinnen, die ihre Netze ausspannen, um Fliegen, Käfer und Schmetterlinge zu fangen. Sie war eine Meisterin der Webkunst landauf und landab, und es ging eine heimliche Kunde rings um den Wald, daß so manches Kind, das verschwunden war, nicht vom Wolf geholt worden war, sondern in ihren Geweben sich zu Tode geatmet hatte und daß die Frau in jedem Jahr das Blut eines Kindes trinken müsse, um am Leben und an der Herrschaft zu bleiben.

Mit dieser nun hatte die böse Frau einen Handel geschlossen, daß Weißhand zu ihr in die Lehre sollte gegen zwölf rote Goldstücke, von denen jede Woche eines gezahlt werden sollte. Und sollte ihr etwas zustoßen, hatte die Frau mit bösem Lächeln gesagt, was man im dunklen Walde gar nicht vorauswissen könne, so sollte es das Zehnfache sein, was sie zu zahlen hätte.

Mit diesem heimlichen Handel war die böse Frau wohl zufrieden und meinte, daß es mit ihm besser auskommen werde als mit dem Torfstecher. Weißhand aber erschrak, als sie die Muhme zum erstenmal erblickte, denn so wurde sie in der Hütte genannt. Es hatte die Muhme nämlich nur zwei Zähne im Munde, die waren gekrümmt wie Zangen, und ihr altes Gesicht war behaart, und die Augen waren klein und böse, daß es einem davor schauderte. »Weshalb trägst du Handschuhe, Frau Muhme?« fragte Weißhand leise, als sie sie ein Stück in den Wald zurückgeleiten mußte. »Daß meine Hände keine Sommersprossen bekommen«, erwiderte die Spinnenfrau und lächelte aus ihren bösen Augenwinkeln. »Fürchte dich nur nicht, denn wenn du gehorsam bist, will ich dich in der Webkunst so unterweisen, daß du deinesgleichen nicht auf dieser Erde haben sollst.«

Drei Tage später nun nahm die böse Frau das Mädchen bei der Hand und führte sie durch den Wald bis zu einer Schlucht, in die keine Sonne jemals schien, so tief lag sie unter Felsen und hohen Fichten verborgen. »Gehe nun immer geradeaus«, sagte sie mit falscher Freundlichkeit, »so wirst du die Hütte schon sehen. Und daß du es an Fleiß und Gehorsam nicht fehlen lässest!«

Da ging Weißhand nun tapfer in die sonnenlose Wildnis hinein, und wenn das Herz ihr vor Bangnis schlug, legte sie ihre Fingerspitzen zusammen und dachte an die gute Käferfrau und daß sie sie jederzeit herbeirufen könnte. Als sie nun die Hütte in einer Felsennische erblickte, schauderte es sie ein wenig, weil überall große Spinnennetze von Ast zu Ast gewebt waren und weil ihr zumute war, als verfolgten kleine, tückische Augen sie bei jedem Schritt. Aber dann klopfte sie tapfer an, fand die Muhme am Webstuhl sitzen und merkte nichts Besonderes an der Hütte, als daß in vielen, vielen Gläsern die Körper von allen Käferarten gesammelt waren, aber so vertrocknet oder ausgehöhlt, daß es nur die Kleider waren, die dort übereinander lagen, als hätte man das Leben aus ihnen getrunken und die Hüllen dann beiseite geworfen.

Die Muhme wies ihr freundlich alles, was sie zu wissen hatte, gab ihr auch Speise und Trank und ein gutes Lager, aber das Herz war Weißhand schwer, und vor dem Einschlafen betete sie mit aller Kraft zu der Käfermutter, denn anders hatte sie es nicht gelernt.

Am anderen Morgen nun begann ihre Arbeit am Webstuhl, und nun verwunderte sie sich doch über die große Kunst der Muhme, so daß sie alles andere vergaß und nur begierig war, zu lernen und es in allem recht zu machen. Zwar stockte sie ab und zu, wenn manche Fäden so zäh an ihren Fingern hafteten, als wären sie aus einem großen Spinnennetz genommen, doch glitten sie schließlich immer wieder von ihren weißen Fingern ab, verschlangen sich mit den anderen und bildeten am Abend ein Gewebe, wie sie es so herrlich noch nie gesehen hatte, und als sie es abnahm und in der Hand wog, war es so leicht, als trüge sie einen Sack mit Federn auf ihren Fingern.

»Du bist ein anstelliges Kind«, sagte die Muhme, »und wenn du gehorsam bist, wirst du es noch weit bringen.« Aber dabei lächelte sie wieder so, daß es dem Kinde kalt über den Rücken lief.

Nun hatte die Spinnenfrau schon drei rote Goldstücke gezahlt, und es schien ihr an der Zeit, diesem Handel ein Ende zu machen. Sagte also zu Weißhand, daß sie am nächsten Morgen ein besonders schönes Stück am Webstuhl beginnen würden und daß sie in der Frühe sich mit einem besonderen Wasser waschen solle, wie sie selbst es immer von einem besonderen Werk gehalten habe.

Aber obwohl Weißhand sich freute, hatte sie eine unruhige Nacht und wurde von schweren Träumen gequält, in denen große Spinnen sie mit glänzenden Fäden zu umwickeln versuchten. Aber immer wenn sie ihre Hände oder Füße nicht mehr zu rühren vermochte, saß die alte Käferfrau im Walde, rieb ihre Fingerspitzen aneinander und lächelte dazu auf ihre alte, freundliche Weise. So erwachte Weißhand vor der Zeit, als der Morgenhimmel über der Schlucht sich gerade zu röten begann, verließ leise ihr Lager, um die Muhme nicht zu wecken, und ging in das kleine Gärtchen, wo der Holzeimer mit dem besonderen Wasser stand. Aber als sie ihr Hemd abgestreift hatte und gerade die Hände in das Gefäß tauchen wollte, begann eine frühe Hummel neben ihr im Klee zu summen, und plötzlich war ihr, als hörte sie die Stimme der alten Käferfrau, die zu ihren Füßen summte: »Im Morgentau, im Morgentau! Nicht im Wasser der Spinnenfrau!«

Da erschrak sie, daß sie plötzlich Stimmen hörte, die nicht da waren, schalt sich aus und war wieder dabei, ihre Hände in das Wasser zu tauchen, als dieselbe Stimme dieselben Worte wiederholte, nur lauter und eindringlicher. Und als es noch ein drittes Mal so gewesen war, stieß sie den Eimer mit dem Fuß um und lief um die Biegung des Steiges, wo eine schmale Wiese mit Berggräsern sich ausbreitete. Dort wusch sie sich im kühlen Morgentau, und als die Muhme sie fragte, ob das Wasser ihr wohlgetan habe, bejahte sie es und dachte nicht weiter daran.

»So, mein liebes Kind«, sagte die Muhme, »nun wollen wir zuerst die schönste Wolle abwickeln, die ich habe.« Und sie streifte Weißhand ein weißes, schimmerndes Gebilde über beide Hände und begann den Faden zu einem Knäuel aufzuwickeln. Aber wie Weißhand nun die Hände nach rechts und links bewegte, um dem Faden Raum zu lassen, war es ihr, als bleibe ihr Herz stehen, denn die Wolle schloß sich wie glühendes Harz an ihre Hand, und gleichzeitig zog die Muhme ihre Handschuhe aus, und statt der zehn Finger hatte sie an jeder Hand eine gekrümmte Kralle, die war mit Haaren bewachsen wie die Zange einer Spinne.

»Frau Muhme, was hast du für Hände?« rief Weißhand zu Tode erschreckt.

»Schöne Hände, Kindchen«, erwiderte die alte Frau lächelnd, »und gleich wirst du fühlen, wie sanft sie sind.«

Und dabei zog sie den Faden immer enger, so daß das Mädchen seine Hände nicht mehr bewegen konnte. Aber da, als seine Handflächen schon aneinander lagen, fiel ihr die Rede der Käfermutter ein, und sie rieb schnell ihre Fingerspitzen dreimal aneinander. Und als sie es getan hatte, öffnete sich die Tür, und ein brausender Schwärm von Hornissen stürzte sich auf die Spinnenfrau, und als sie laut schreiend um sich schlug, schlang der Wollfaden sich hundertfach um ihre Hände, ihre Arme und ihren Körper, und ehe eine Minute vergangen war, lag sie bewegungslos am Boden, und nur ihre kleinen bösen Augen funkelten aus ihrem verschwollenen Gesicht.

So fand die Käfermutter sie, und eine Weile blickte sie stumm auf sie hernieder. »Nun ist es zu Ende mit deinen Listen«, sagte sie dann, »und Recht ist wieder Recht geworden.«

Und dann streifte sie vorsichtig das Gewebe von den Händen des Mädchens und sagte: »Hättest du dich mit ihrem Wasser gewaschen, so hätte keine Hand das Gewebe von dir nehmen können, und heute abend schon hätte das Kleid deines Leibes in einem jener Gläser gelegen, wo alle meine Kinder liegen.«

»Aber wie hast du es gewußt, Frau Mutter?« fragte Weißhand, und ihre Lippen waren noch immer blaß vor Angst.

Da lächelte die Käfermutter und sagte: »Einmal lag ein kleines, hilfloses Kind in einer Wiege, das wurde von meinen ungezogenen Scharen sehr gequält, so sehr, daß zwei große Tränen an seinen Wangen herunterrollten. Die fing ich in meiner Hand auf, und sie wurden zu zwei schönen, hellen Perlen, und wenn dem Kinde Gefahr droht, tödliche Gefahr, so färben die Perlen sich rot, und ich weiß, daß eine Stimme mich ruft.«

»Und kann ich nun zu dir kommen und bei dir bleiben, Frau Mutter?« fragte Weißhand.

Da schüttelte die alte Frau den Kopf und sagte: »Dies war die erste Sprosse auf der Leiter deines Lebens und Leidens, liebes Kind. Viel hast du noch zu tun und zu weben mit deinen Händen, ehe du im Walde ausruhen kannst bei mir. Bleibe nun drei Tage in meiner Hütte und dann gehe in die große Königsstadt, wo Arbeit und Schicksal auf dich warten, wie sie auf jeden von uns gewartet haben.«

Und nach drei Tagen nahm Weißhand Abschied und machte sich auf den Weg. Und bevor sie über die Schwelle ging, reichte die alte Frau ihr ein Knäuel, das war so fein und glänzend gesponnen wie alte Seide und so leicht wie ein Hauch. »Dies bewahre wohl, liebes Kind«, sagte sie, »und erst wenn du meinst, daß du dein Meisterwerk vor dir hast, dann lege es über den Webstuhl und webe es mit aller Liebe, die du im Herzen trägst.«

Da bedankte Weißhand sich und ging mit traurigem Herzen aus dem Walde hinaus, und als sie einen Umweg machte, um ihre Hütte zu sehen, sah sie, daß das Dach eingefallen war und die Balken zerbrochen und niemand darin wohnte als ein alter Igel, der saß auf der Schwelle und lockte seine sieben Kinder. Und da kam sie sich ganz mutterseelenallein vor und ging langsam am Moor entlang und wußte nun, daß sie wirklich in die Fremde ging.

Aber als sie in der Königsstadt angekommen war, fügte sich alles zum Guten, und sie fand ein kleines Haus in einem verlassenen Garten, bei einer alten Frau, die gab ihr ihren Webstuhl, weil sie ihre Hände nicht mehr rühren konnte. Und als ein paar Wochen vergangen waren, hatte sie schon Kundschaft und Ehre gewonnen, denn niemandes Hände in der großen Stadt waren so leicht und geschickt wie die ihrigen.

Aber obwohl ihr Leben nun still dahinfloß und sie um Dach und Speise und Trank nicht zu sorgen hatte, war sie doch unruhig, weil sie sich jeden Abend an die Worte der alten Frau aus dem Walde erinnerte, daß Arbeit und Schicksal auf sie warteten, und wenn sie auch Arbeit genug hatte, so meinte sie doch, daß aus Morgen und Abend sich noch kein Schicksal webe, sondern daß dies auf eine besondere Art bei ihr anklopfen und ihr Herz erfragen müsse.

Nun geschah es um die nächste Sommerzeit, daß das ganze Land von einer großen Trauer beschattet wurde, denn die einzige Tochter des Königs und der Königin starb an einem hitzigen Fieber, das im ganzen Reiche wütete, und so untröstlich war noch kein Mensch gewesen wie die Königin, so daß die Menschen ihre eigenen Toten vergaßen und nur an das Leid der Königin dachten und wie sie ihr helfen könnten. Denn sie weinte Tag und Nacht, und die Ärzte sagten, daß sie sich blind weinen werde, wenn es nicht jemandem gelinge, ihre Tränen zu stillen.

Und obwohl Weißhand nun ganz verlassen war, da das Fieber auch die alte Frau, bei der sie lebte, hingerafft hatte, kam die Kunde von allem doch auch zu ihr und bedrückte ihr Herz, denn sie hatte das Totenhemd für die Prinzessin gewebt, und die Königin hatte ihre Hände gehalten und gestreichelt, als sie es in den Palast getragen hatte, und trotz ihrem Jammer liebreich gesagt: »So weiße Hände, und daß sie so Trauriges weben müssen.«

So lag sie nun nach ihrem Tagewerk jede Nacht auf ihrem Lager und sann, wie sie der Königin helfen könnte, und war verzagt, daß nichts ihr einfiel, und meinte, daß ihre Hände wohl nur zum Weben geschickt seien, aber nicht um das Leid der Herzen zu stillen.

Als aber eine Woche vergangen war, hörte sie eines Nachts in einem schweren Traum eine Stimme, die kam aus weiter Ferne, aber war so deutlich, als spreche sie an ihrem Ohr, und sie sagte: »Webe, Tochter, webe!«

Da erwachte sie mit klopfendem Herzen, weil eine besondere Inbrunst in der Stimme gelegen hatte, und sann eine Weile darüber nach, schlief aber wieder ein und vergaß es.

In der nächsten Nacht aber rief dieselbe Stimme sie aus der Ferne an, noch eindringlicher als das erstemal, und wieder sagte sie nichts als: »Webe, Tochter, webe!«

Da ging sie den ganzen Tag unruhig umher, blieb vor ihrem Webstuhl stehen und betrachtete die angefangene Arbeit, hatte aber keine Freude daran und wußte, daß es nicht das Rechte war.

Und als sie auch in der dritten Nacht von der Stimme erwachte, stand sie auf, ging in den kleinen verwilderten Garten hinaus und fühlte den kühlen Tau trostreich an ihren Füßen. Und wie sie sich des Morgens erinnerte, an dem sie ihren Körper mit Tau gewaschen hatte, stand die ganze vergangene Zeit so lebhaft vor ihren Augen, daß ihr plötzlich das Geschenk der Käfermutter einfiel und alles, was sie dazu gesagt hatte. Und da kam es wie ein Licht aus der Nacht über sie, und sie lief mit nassen Füßen in die Hütte zurück, nahm das weiße Knäuel aus der Truhe heraus, das so leicht war, als trage sie einen jungen Vogel in der Hand, zündete die Kerze an, wickelte das Knäuel auf und ließ das Weberschiffchen hin und her gleiten, als müsse sie mit dem ersten Sonnenstrahl fertig sein. Und jedesmal, wenn das Schiffchen anschlug, sagte sie leise und mit aller Inbrunst vor sich hin: »Und webe es mit aller Liebe, die du im Herzen trägst!« Und das Herz war ihr so groß, als fühlte sie die Liebe wachsen und wachsen, und wußte doch nicht, zu wem es die Liebe trug.

Und als das Kerzenlicht vor der Sonne verblaßte, nahm sie ein kleines Tuch vom Webstuhl, das ihr unter den Händen geworden war, ohne daß sie es gewollt hatte. Es glänzte, wie der Altweibersommer in der Sonne glänzt, und als sie es vor Freuden in die Luft warf, blieb es eine Weile schweben, und fiel dann so langsam herab wie eine Schneeflocke, so leicht war es.

Da zog Weißhand ihr schönstes Kleid an, legte das Tuch in ein Körbchen und ging zum Königspalast. Da saß die Königin am Fenster, das in die Gärten führte, hatte ein kleines, goldenes Lamm im Schoß, mit dem die Prinzessin als Kind gespielt hatte, und weinte mit ihren halb erblindeten Augen, daß das Lamm von Tränen ganz bedeckt war.

»Was bringst du, liebes Kind?« fragte sie schluchzend.

Weißhand aber hob den Deckel von ihrem Körbchen, nahm mit den Fingerspitzen das Tuch heraus und sagte: »Dies habe ich für Euch gewebt, Frau Königin, heute in der Nacht, und habe es mit aller Liebe gewebt, die ich im Herzen trage, und es ist mir, als solltet Ihr es einmal auf Eure armen Augen legen.«

Da versuchte die Königin unter ihren Tränen zu lächeln und sagte: »Du liebes Kind, alle Weisen des Landes haben mir ein Mittel gebracht, und es hat nichts geholfen. Wie sollten deine weißen Mädchenhände klüger sein als die der Alten? Nur der Tod wird meine Augen trösten, denn seine Hände sind noch weißer als die deinigen.«

Aber dann hob sie das Tuch doch an ihre Augen, und wie sie es getan hatte, schrie sie ganz leise auf, denn ihre Tränen waren versiegt, als hätte ein warmer Wind sie getrocknet, und sie sah wieder, wie die Sonne auf den blühenden Gärten schien, und das Gesicht der Prinzessin erschien ihr wie ein Engelsgesicht, ganz ohne Schmerzen und Trauer, und sie zog Weißhand an ihre Brust, küßte sie und sagte: »Nun ist mir, als müßte ich dir auf Knien danken, du liebes Kind, und du sollst hinfort meine Tochter sein, denn wer soviel Liebe im Herzen trägt, daß er meine Tränen trocknen kann, der kann die Tränen aller Weinenden trocknen, und dazu hat dich Gott wohl ausersehen auf dieser Erde.«

Da läuteten die Glocken im ganzen Land, weil die Königin aufgehört hatte zu weinen, und Weißhand blieb bei ihr, und wo in den Hütten oder Palästen die Tränen flossen und nicht aufhören wollten zu fließen, war sie mit ihren weichen Händen und dem kleinen Tuch da, und wo sie gewesen war, schien die Sonne wieder, und das schwere Leben war wieder leicht, wie die Menschen es sich wünschten.

Und bevor der Herbst gekommen war, erbat Weißhand sich Urlaub von der Königin und kehrte für eine Woche bei der alten Frau im Walde ein. Dort ging sie wie früher von Spinnennetz zu Spinnennetz, befreite mit ihren weißen Händen die Mücken, Fliegen und Käfer und saß am Abend mit der alten Frau auf der Bank vor der Hütte.

Und als sie wieder Abschied nahm, sagte sie: »Ein schönes Los ist mir gefallen, Frau Mutter, und ich weiß nicht, was schöner ist, die Tränen der Menschen zu trocknen oder die der kleinen Kreatur.«

Da küßte die Frau sie und sagte: »Vor Gott sind wohl alle Tränen gleich schwer und gleich bitter, mein liebes Kind, und vielleicht hat er sie uns nur gegeben, damit unsere Hände und Herzen wissen, was Barmherzigkeit ist.«

* * *


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