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Das Liebste auf der Welt

Ein armes Häuslerpaar hatte zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, die hatten einander sehr lieb, und der Knabe besonders hütete seine Schwester wie einen heimlichen Schatz und tat alles, was er ihr an den Augen ablesen konnte. Zwar hatte er ihr nicht viel zu schenken, denn sie waren arm und lebten ganz in der Einöde, aber im Frühling konnte er Weidenflöten für sie machen, und im Sommer konnte er jeden Tag ein Körbchen mit Beeren für sie aus dem Walde holen, und im Herbst sammelte er die abgefallenen Eicheln und Kastanien, rieb sie an seiner Jacke blank und schenkte sie ihr. Auch zähmte er viele Vögel für sie, lehrte die Stare pfeifen und hatte jeden Tag etwas anderes, um ihre Lippen zum Lächeln zu bringen.

Auch lohnte sie es ihm mit einer ebenso zärtlichen Liebe, so daß die Eltern manchmal in Sorgen dachten, wie es wohl werden würde, wenn eines der Kinder einmal stürbe.

Nun geschah es einst bei der kümmerlichen Heuernte, als die Kinder nach Kräften halfen, daß aus einem der aufgeschichteten Heuhaufen eine kupferfarbene Natter fuhr und den Knaben in den Fuß stach. Er schrie leise auf, und Eltern und Schwester kamen gleich herzugelaufen, sahen die beiden roten Bißstellen, so fein wie Nadelspitzen, und trugen ihn auf ihren Armen schnell zur Hütte, wo sie ihn auf das Lager am Fenster legten. Die Mutter holte saure Milch herbei, tauchte einen Streifen Linnen ein und legte es auf die Wunde. Der Vater stand kummervoll daneben, und die Schwester kniete laut weinend am Bettrand und bat ihren Bruder, doch nicht zu sterben.

Da schalten die Eltern, meinten, daß nichts Böses nachkommen werde, hießen ihn ganz still liegen und nahmen die kleine Schwester wieder mit auf das Feld, denn ein Wetter zog auf, und das Heu mußte geborgen werden, wenn die Kuh im Winter nicht trockenes Laub fressen sollte.

Der Knabe lag ganz still, fühlte die Schmerzen immer stärker werden und sah mit Entsetzen, daß die Geschwulst zunahm und ein dunkler Streifen sich von seinem Fuße das Bein hinaufzog. Auch wußte er, daß die Kupfernatter den Tod bringen konnte, wenn sie vorher lange nicht gestochen und das Gift in ihren Zähnen aufgesammelt hatte. Und als ein kalter Frost ihn zum ersten Male überlief und bis an sein Herz rührte, wurde er von Todesangst ergriffen, wimmerte leise vor sich hin und schauderte in Gedanken an die kalte Erde, die ihn nun bald bedecken würde. Und als er gar an seine kleine Schwester dachte, die nun allein zurückbleiben mußte, weinte er laut auf und rang die Hände in seiner kindlichen Qual.

Da erblickten seine schon getrübten Augen auf dem schmalen Brett vor dem geöffneten Kammerfenster eine Elster, die schimmerte in der Sonne in allen Farben, beugte und neigte sich, blickte mit listigen Augen in die Kammer hinein und sagte endlich: »Nun mußt du sterben, denn ich sehe schon den Tod am Gartenzaun stehen. Möchtest du wohl, daß ich dir helfe, auch wenn du immer mit Steinen nach mir geworfen hast?«

Der Knabe war so krank, daß er sich nicht einmal verwunderte, daß die Elster sprechen konnte wie ein Mensch, und in seiner Todesangst flüsterte er: »Hilf mir nur, daß ich am Leben bleibe, so will ich dir alles geben, was ich habe, und auch nie mehr nach dir werfen, wenn du die Vogelnester ausnimmst.«

»Willst du mir auch das Liebste geben, das du auf der Welt hast?« fragte die Elster.

»Alles will ich dir geben«, versprach der Knabe und dachte an seine schönen Kieselsteine, an die Rohrflöten und an seine Sparpfennige, die seine Mutter für ihn verwahrte.

»So sollst du wieder gesund werden«, sagte die Elster, »aber denke an dein Versprechen! Das Liebste auf der Welt!«

Und sie flog davon, kehrte aber gleich wieder, hatte ein Blatt im Schnabel und legte es auf die Wunde des Knaben. Und sofort linderten sich die Schmerzen, der Schüttelfrost ging fort, der dunkle Streifen auf der Haut erlosch, und als die Eltern und die Schwester mit dem kleinen Heufuder auf den Hof gefahren kamen, saß der Knabe schon auf der Schwelle, schob das Linnen zur Seite und zeigte seinen Fuß, an dem nichts mehr zu sehen war als zwei blaßrote Punkte in der braunen Haut.

Aber als er von der Elster erzählen wollte, war es ihm, als lege eine kühle Hand sich auf seine Lippen, so daß er erschrak und schwieg und es auf den nächsten Tag verschob.

Am glücklichsten aber war die kleine Schwester, herzte und küßte ihn und gestand ihm unter Tränen, daß sie in das Schlangenmoor gelaufen wäre, wenn der Tod ihn fortgenommen hätte, um sich stechen zu lassen und mit ihm in demselben Grabe zu liegen.

So gingen Tag und Nacht nun weiter, als ob nichts geschehen wäre, und nur manchmal in der Abenddämmerung überkam den Knaben eine plötzliche Angst, wenn er einen Elsterruf von ferne hörte, und er trug im Holzschuppen alles zusammen, was er an Schätzen besaß, denn er wollte nichts schuldig bleiben.

Aber Sommer, Herbst und Winter gingen dahin, ohne daß etwas geschah, und als die Schwalben wiedergekommen waren und ihre alten Nester unter dem Dach wieder bezogen, dachte der Knabe, daß es nur ein Gerede der prahlerischen Elster gewesen sein könnte, oder auch, daß ihm vielleicht alles nur geträumt hatte in der Fieberhitze, und er wurde fröhlich wie früher und sann nur darüber nach, wie er seiner Schwester eine neue Freude bereiten könnte.

Aber als das Gras wieder geschnitten war und sie am Abend vor der Hütte saßen, kam ein Mann aus dem Walde über die Wiese gegangen, der stützte sich auf einen Stock und ging langsam, als wäre er sehr alt und krank. Und als er vor ihnen stand, ohne einen guten Abend zu wünschen, sahen sie, daß er häßlich war über alle Maßen, mit Triefaugen und zwei Warzen auf der Nase, und daß er so schielte, daß keines von ihnen wußte, ob er sie ansah oder das Elsternest in der hohen Schirmtanne.

Da fragte der Vater endlich, ob er den Weg verloren habe.

Der Mann lachte, aber man hörte nichts, man sah nur seinen zahnlosen Mund sich höhnisch verziehen. »Weiß meinen Weg sehr gut«, sagte er. »Ist der Weg zum Liebsten auf der Welt. Und versprochen ist versprochen, nicht wahr, kleiner Mann?«

Da erblaßte der Knabe und erinnerte sich an alles, was gewesen war. Aber wie er aufstand, um den Mann zum Schuppen zu führen, hielt dieser ihm den Stock vor und deutete dann auf die kleine Schwester. »Diese ist dein Liebstes auf der Welt«, kicherte er, »oder willst du sie verleugnen?«

Da blieb dem Knaben das Herz stehen, er umschlang seine Schwester mit beiden Armen, und unter heißen Tränen bekannte er den Eltern, was damals geschehen war.

Auch der Vater war blaß geworden, doch trat er nun drohend auf den Mann zu und hieß ihn sich davontrollen, ehe Schlimmes geschehe.

Aber der Mann berührte ihn nur leise mit seinem Stab, und da stand der Vater so regungslos, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Und ebenso tat er es mit der Mutter und dem Knaben, der seine Schwester noch immer umfangen hielt, und sagte dann zu dem Mädchen: »Komm nun, du Liebstes auf der Welt, und nichts von diesem allem wirst du jemals wiedersehen.«

Da schrie die Schwester einmal auf und klagte: »Ach, Bruder, liebster Bruder, was hast du mir angetan!« Aber dann trocknete sie gleich ihre Tränen, neigte sich zu dem Ohr des Knaben und flüsterte: »Ich habe eine Nähnadel im Kleid, mit der werde ich mich stechen, wenn wir vom geraden Weg abweichen, und an meinen Blutstropfen wirst du sehen, wohin er mich geführt hat.«

Und dann nahm sie Abschied, soviel der Mann es ihr erlaubte, der Mann ergriff sie bei der Hand, und dann gingen sie über die Wiese und verschwanden im Walde, in dem dunkelte es schon.

Lange nachdem sie verschwunden waren, löste sich der Zauber von den Zurückgebliebenen. Die Mutter schlug die Schürze vor das Gesicht, der Vater ging still in den Kuhstall, und der Knabe blieb allein stehen, die Arme hingen ihm herunter, und er starrte auf den dunklen Waldrand, wo die Bäume dastanden wie sonst und wo seine liebe Schwester verschwunden war.

Vor dem Schlafengehen trösteten ihn die Eltern und redeten ihm zu, daß er ja nichts dafür könne, und ein Wort sei schnell gesprochen, weil man an nichts Böses denke. Aber er nickte nur, gab nichts zur Antwort und schlich sich still in seine Kammer.

Dort lag er wach, wartete auf den Mond, suchte leise seine Habseligkeiten zusammen, steckte ein Messer in die Tasche, und als das Morgenrot über dem Walde aufzog, schlüpfte er leise aus dem Kammerfenster und eilte über die taufeuchte Wiese nach der Stelle im Walde, wo die Schwester verschwunden war. Denn eher wollte er sein Leben verlieren, als sie in der Hand des alten Mannes lassen.

Es lief dort ein gerader Pfad durch den Wald, vom Wilde und von Pechsammlern getreten, dem folgte er langsam, und wo der Pfad sich linkerhand ins Dickicht schlug, sah er im Tau einen roten Tropfen liegen und an einem Weißdornast einen blauen Faden, der war von dem Umschlagtuch, das die Schwester am Abend vor der Hütte umgelegt hatte. Da schossen ihm die Tränen in die Augen, und er kniete nieder und hob den Tropfen mit seiner Hand auf, als wäre er ein Teil seiner Schwester.

Von da ab war es ihm leicht, der Spur zu folgen, und ehe die Sonne im Scheitel stand, ahnte er schon, daß der Weg ihn zu einem Felsental führen würde, das war verrufen bei allem Volk und hieß der Totengrund. Da erschrak er bis ins Herz hinein, weil der Name ihm wie ein böses Zeichen war, aber dann schalt er sich aus, faßte das Messer fest in der Hand und lief ohne Ermatten immer der Spur nach, auf der die Zeichen lagen, damit er noch vor der Dämmerung das Tal erreiche.

Gegen Abend fiel ihm auf, daß eine Elster ihm leise und verstohlen von Baum zu Baum folgte, und da wußte er nun gewiß, daß er auf dem rechten Wege war. Er sammelte Steine auf und versuchte den Vogel zu verscheuchen, aber er war immer wieder da und gegen seine Gewohnheit so still, daß es dem Knaben unheimlich war. »Ich will dich schon belohnen«, dachte er grimmig. »Warte nur auf deine Zeit!«

Vor der Dämmerung erreichte er den verrufenen Ort, der war ein tiefes, ödes Tal, von Steinwänden umgeben, und es hieß, daß von dort aus Höhlen bis in das Herz der Erde gingen und daß die Unterirdischen dort hausten. Die Sonne stand schon hinter den Felsen, kein Vogel sang in der Runde, und es wurde dem Knaben bange wie noch niemals in seinem Leben. Aber dann war ihm, als hörte er die Stimme seiner Schwester: »Bruder, liebster Bruder, was hast du mir angetan?« Und da ging er furchtlos weiter bis zu einem dunklen Spalt in den Felsen, da lagen auf der Erde ein letzter Blutstropfen und ein Stückchen von dem blauen Tuch, und er nahm sein Messer in die Hand und ging mutig hinein ins Finstere.

Aber wie er drei Schritte gemacht hatte, hörte er den Vogel höhnisch hinter sich krächzen, es gab einen dumpfen Schlag, und wie er herumfuhr, sah er kein Himmelslicht mehr, denn der Fels hatte sich hinter ihm geschlossen, und er stand im Dunklen, und nur ein mattes Licht schimmerte in der Ferne, so matt, als brenne eine schwache Kerze in einem ungeheuren Saal.

Da ballte er die Faust fest um den Messergriff und ging auf das Licht zu. Rechts und links und über ihm schimmerten die feuchten Felsen, so daß er wie in einem Grabe war, aber als er vorwärts ging, erweiterte sich der Gang, das Licht brannte heller, viele Lichter, und ein Saal öffnete sich, an dessen Eingang er nun mit Schrecken stand.

Denn in diesem Saal lagen viele Kinder auf den Knien, Knaben und Mädchen, und jedes hatte einen hohen kupfernen Mörser vor sich, in dem rührten sie mit einem Messingstab, der sah aus wie ein Glockenklöppel. Und alle Kinder waren blaß wie von einer schweren Krankheit, und müde und hohlwangig und stumm, und ihre Augen gingen immer ängstlich zu einem goldenen Thron an der schmalen Wand des Saales, darauf saß der alte Mann, der hatte einen Stab über den Knien und blickte mit seinen Triefaugen lauernd und höhnisch die zwei langen Reihen der Kinder entlang.

Und an den Wänden des Saales hingen viele, viele goldene Käfige, darin saßen alle Singvögel, die der Knabe kannte. Nachtigallen und Drosseln, Grasmücken und Laubsänger, und auch sie sahen krank und müde aus, und wenn der alte Mann in die Hände klatschte, was er zuweilen tat, dann begannen sie ihre Lieder zu singen, aber es klang kläglich und traurig, als wenn ein Sterbender noch einmal ein Lied versuchen wollte.

Da blickte der Knabe voller Angst die beiden Kinderreihen entlang, und da erkannte er ganz am Ende der Reihe, dicht hinter dem goldenen Thron, seine kleine Schwester, die kniete wie die anderen vor einem kupfernen Mörser, und obwohl sie nicht länger als einen Tag und eine Nacht da sein konnte, waren ihre roten Wangen schon erblaßt, und ihre Augen gingen ebenso angstvoll wie die der übrigen von ihrer Arbeit zu dem alten Mann, sobald er nur eine Bewegung machte.

Da seufzte der Knabe zuerst tief auf, aber dann lief er schnell, um seine Schwester zu umarmen. Aber wie er neben ihr stand, um sie an sein Herz zu ziehen, lachte die Elster laut auf, die nun plötzlich auf der Schulter des alten Mannes saß, und auch der alte Mann lachte und hob seinen Stab und beschrieb einen seltsamen Kreis damit in der Luft, und da fielen dem Knaben die Arme herab, so daß er wie gelähmt dastand und nun hörte, wie seine Schwester leise aufschrie. Das Messer fiel ihm aus der Hand und klirrte auf den Steinfußboden, und die Elster kam schnell herbeigeflogen, hob es auf und legte es dem alten Mann auf die Knie.

»Bist du da, mein Bürschchen?« sagte der alte Mann fröhlich. »So sollst du auch hierbleiben, bis dein Haar weiß geworden ist.«

Und er winkte zwei Kindern, die schleppten einen neuen Mörser herbei und stellten ihn neben den seiner Schwester. Der Zauberer stieg von seinem Thron, schüttete eine Handvoll weißer Kristalle in den Mörser, berührte den Knaben wieder mit seinem Stab und drückte ihm den Messingklöppel in die Hand. »So, und nun reibe, Bürschchen«, sagte er, »immer links herum, wie die anderen es machen.«

Und damit ging er kichernd fort, die Reihe der Kinder entlang, die sich nun noch tiefer über die Arbeit beugten, und wo ihm eines nicht fleißig genug erschien, zog er eine lange Nadel aus seinem Kleid und stach das Kind in den Arm. Aber kein Schrei war zu hören. Nur ein leises Wimmern, dann mahlten die Stößel wieder emsig weiter, so daß ein feiner weißer Nebel über den Mörsern zu hängen schien.

»Schwester, liebste Schwester«, flüsterte der Knabe.

Aber sie schüttelte unmerklich den Kopf und flüsterte nur: »Es ist Gift. Atme es nicht ein!«

Da begann der Knabe mit seiner Arbeit, die Tränen flossen ihm in den Mörser, aber unaufhörlich sann er, wie er dem Zauberer beikommen und seine Schwester und die Kinder befreien könnte.

Nach einer Weile schlug der alte Mann an eine silberne Glocke, die Kinder standen auf, dehnten heimlich ihre schmerzenden Glieder und gingen nacheinander in einen zweiten Saal, darin lagen auf einem langen Steintisch für jedes ein kleines Brot, und ein Krug mit Wasser stand daneben. Da hockten sie nun auf kleinen Schemeln, aßen und tranken, aber keines sagte ein Wort, und sie blickten nur mit traurigen Augen vor sich hin.

Eine Weile sah der alte Mann ihnen zu, dann ging er mit der Elster zu seinem Mahl, und nun begannen die Kinder ganz leise miteinander zu flüstern, so leise, als rühre ein Abendhauch in einem Tannenwipfel.

»Bruder, liebster Bruder«, flüsterte auch die Schwester, »nun bist auch du zu den Toten herabgestiegen, und Vater und Mutter sind ganz allein.«

»Sei nur ohne Sorge«, erwiderte der Knabe ebenso leise. »Nicht lange werden wir hier bleiben.«

Aber sie lächelte nur traurig, und dann wurden sie zu ihren schmalen Betten geschickt, die waren in den Fels eingehauen wie Gräber, und Bruder und Schwester durften zusammenbleiben.

Da umschlangen sie einander unter Tränen und erzählten einander ihr Schicksal, und noch immer tröstete sie der Knabe und schien der Rettung gewiß.

Aber in den nächsten Tagen wurde es ihm doch bange darum, denn er sah nicht, wie er an den Zauberer kommen sollte. Wenn er die Höhle verließ, blieb die Elster da und paßte auf, und wenn die Elster ausflog, blieb der Zauberer da. Aber solange er den Stab in den Händen behielt, war ihm alle Macht gegeben.

Nun lebte in der Höhle ein kleines Hündchen, das war alt und räudig und so häßlich, daß nicht einmal die Kinder sich seiner erbarmten. Auch wurde geflüstert, daß es früher an Stelle der Elster gewesen war und verstoßen wurde, weil es eines der Kinder hatte entfliehen lassen. Wo der alte Mann es sah, stieß er es mit den Füßen beiseite, nur die Elster hatte bisweilen ihre Freude daran, sich auf seinen Kopf zu setzen und nach seinen Augen zu hacken. Da winselte es dann kläglich, und als der Knabe zum erstenmal Zeuge dessen war, nahm er seinen Stößel und vertrieb die Elster. Der alte Mann lachte höhnisch, stach ihn mit der Nadel in den Arm und sagte: »Ihr beiden, ihr paßt wohl gut zusammen.« Aber das Hündchen wich nun nicht von der Seite des Knaben, saß still bei seinem Mörser und leckte ihm die Hand, wenn er ihm ersparte Brotkrumen reichte.

Da wunderten sich die anderen Kinder, daß er sich eines so häßlichen Tieres erbarmte, aber der Knabe war nun leichteren Herzens, daß es auch hier Dankbarkeit gab, und manchmal beugte er sich zu den trüben Augen des Hündchens und sagte: »Wenn wir hier einmal herauskommen, so sollst du an meinen Füßen schlafen, und ich will dir das Beste bringen, das du nur essen magst.«

Dann wedelte das Tier mit seinem kurzen Schwanz, und in seinen traurigen Augen schien es aufzuleuchten, als verstände es jedes Wort.

Aber die Tage vergingen, und der Knabe sah, daß seine kleine Schwester immer blasser wurde von Stunde zu Stunde und daß die anderen Kinder hinsiechten wie unter einem heimlichen Gift. Da verzweifelte er und weinte in den Nächten still vor sich hin, daß seine Schwester nicht aufwachte, und das Hündchen saß bei ihm, leckte die Tränen von seinen Wangen und wedelte mit seinem kurzen Schwanz, als möchte es gern etwas Fröhliches sagen, könnte es aber nicht.

»Ist denn noch Hoffnung?« flüsterte der Knabe.

Da nickte das Hündchen mit dem Kopf, immer wieder und wieder, und der Knabe sah es lange an und wußte nicht, was er davon halten sollte.

Am nächsten Tage aber fiel das schwächste der Kinder an seinem Mörser um und war tot. Der alte Mann kam von seinem Thron herunter, betrachtete es fröhlich und trug es dann auf seinen Armen in einen dunklen Gang, der öffnete sich hinter seinem Thron in der Felswand. Die Elster flog ihm krächzend voraus.

Die Kinder zitterten vor Angst, und als der Knabe sie fragte, flüsterten sie mit weißen Lippen, daß dort die Kupfernatter lebe, die große und alte, und daß sie jeden Monat einmal diese Speise bekomme.

Da entsetzte sich der Knabe und griff nach seinem Messer, aber das Hündchen leckte seine Hand und blickte ihn so flehend an, daß er es wieder verbarg.

Am nächsten Morgen aber verließ der alte Mann die Höhle, und die Elster blieb zur Wache zurück. Und als das Tor sich donnernd hinter dem Zauberer geschlossen hatte, tanzte das Hündchen auf seinen Hinterfüßen und gebärdete sich wie toll vor Freude.

Da wurde der Knabe aufmerksam und meinte, daß es nun darauf ankomme, ihm jeden Rat von den Augen abzulesen. Und da sah er, daß das Hündchen an den Knien der Schwester emporsprang und mit der Zunge eines der langen goldenen Haare zu fassen versuchte, das ihr bei der Arbeit sich aus dem Scheitel gelöst hatte. Und als es ihm gelungen war, zog es vorsichtig daran, solange bis der Knabe seine Absicht begriff und das Haar sorgsam an der Wurzel abriß.

Da tanzte das Hündchen wieder vor Freuden und stürzte sich plötzlich bellend auf die Elster, die auf der Lehne des Sessels saß. Und die Elster schoß zornig auf den Kopf des Hündchens herab, um nach seinen Augen zu hacken, und das Hündchen jagte einmal mit ihr den ganzen Saal entlang und dann mit einer schnellen Wendung zwischen die Knie des Knaben. »Das Haar!« rief die Schwester, und ohne sich zu bedenken, schlang der Knabe das lange goldene Haar um die Flügel der Elster, und da fiel sie zu Boden, krächzte noch einmal heiser, verdrehte die bösen Augen und starb.

Da schrie das Hündchen vor Freude und tanzte um den toten Vogel herum, und alle Kinder hatten sich bei den Händen gefaßt, und alle Singvögel in ihren Käfigen zwitscherten leise, so gut sie es noch konnten, und es war doch nur der Anfang ihrer Erlösung aus der Höhle des Todes.

Und als es wieder still geworden war in dem großen Saal und nur die Mörser leise bei der Arbeit klangen, stieß das Hündchen seine Nase an die Tasche, in der der Knabe das Messer verborgen hatte, und lief ihm immer ein paar Schritt voraus, bis er ihm folgte. In die linke Hand nahm der Knabe ein Licht und in die andere das Messer, aber er erschrak doch, als das Hündchen ihn in den dunklen Gang führte, der zur Schlange ging. »Bruder, liebster Bruder!« rief die Schwester leise, aber er winkte ihr nur zu, und das Tier lief schnell noch einmal zu der Schwester zurück, legte seinen Kopf auf ihren Schoß und sah sie so zuversichtlich an, daß sie es streichelte und wieder gehen ließ.

In dem dunklen Gang leuchtete hier und da ein Wassertropfen auf, der an den Wänden hing, und es war so still wie in einem Sarg. Aber dann öffnete der Gang sich in eine kleine Halle, die war so mit Gold und Edelsteinen angefüllt, daß der Knabe geblendet die Augen schließen mußte. Überall an den Wänden brannten Lampen mit blauem und grünem Licht, und darunter funkelten und blitzten Berge von Diamanten, Rubinen und Saphiren, als hätte das Innerste der Erde mit allen Schätzen sich aufgetan.

Inmitten der Höhle aber, in einer geschliffenen Schale aus Bergkristall, lag die alte, große Kupfernatter, träge und geschwollen von ihrer schrecklichen Speise, und schob langsam den glatten Kopf über den Rand der Schale. Ihre tückischen Augen schimmerten wie zwei Edelsteine, und sie hob den Oberkörper senkrecht in die Höhe. Aber bevor es ihr gelang, den schweren Leib zu bewegen, hatte das Hündchen mit seinem Rücken die schwere Schale aufgehoben, so daß sie umstürzte und die Natter unter sich begrub, und nur ihr Kopf sah unter dem Rande ohnmächtig hervor.

Da ergriff der Knabe schnell das Messer, und mit einem Schlage trennte er das böse Haupt von dem verborgenen Rumpf. Dann wickelte er vorsichtig sein Halstuch um den Schlangenkopf, verbarg es in seiner Tasche, und laut bellend lief das Hündchen ihm wieder voraus, den Gang entlang, bis in den schweigenden Saal.

Und als der Knabe das Schlangenhaupt aus dem Tuch wickelte und es hochhielt, so daß man die gekrümmten Giftzähne sah, faßten die Kinder einander wieder bei den Händen, und alle Singvögel zwitscherten so laut vor sich hin, wie sie es nur konnten, und es war doch nur die zweite Stufe auf ihrem Wege aus dem Grabe.

Da ruhten sie nun eine Weile aus, der Knabe und sein treuer Helfer, und dann begruben sie die Elster in einer Ecke des Saales, wo der Boden aus Sand war und nicht aus Felsgestein.

Und darnach kam das Hündchen wieder zur Schwester gelaufen und nahm eines ihrer losen Haare zwischen die Zähne, und der Knabe gehorchte und zog dabei drei lange goldene Haare heraus, die knüpfte er zusammen, und das Hündchen lief ihm voraus zu dem Felsentor der Höhle. Dort verstand er bald, daß er den goldenen Faden spannenhoch über der Erde quer über den Gang binden sollte, und dann stieß das Hündchen mit der Nase an seine Tasche, wo er das Schlangenhaupt verwahrt hielt. Da wickelte er es aus dem Halstuch aus, und dann kauerten sie sich beide in zwei dunkle Nischen rechts und links des Ganges und warteten.

Es war wohl eine Stunde vergangen, da hörten sie den Stab des Zauberers auf den Steinen klingen und hörten, wie er an das Tor schlug, dreimal, und dann öffnete sich die Wand, und der alte Mann trat ein, hinter ihm fiel die Wand wieder zu, und als er drei Schritte gemacht hatte, stieß er an das goldene Haar und stürzte kopfüber zu Boden.

Da sprang das Hündchen ihm mit gefletschten Zähnen auf den Rücken, und der Knabe beugte sich mit dem Schlangenhaupt über den Nacken des alten Mannes und drückte ihm die gekrümmten Giftzähne tief in die Haut.

Da entfiel dem Zauberer sein Stab, und er schrie einmal leise auf, und dann war es zu Ende mit ihm.

Sie packten den Toten in eine der Nischen, warfen Steine darüber, der Knabe ergriff den Stab, und so kehrten sie wieder nach dem Saale zurück.

Und als die Kinder den Stab in der Hand des Knaben erblickten, faßten sie einander wieder bei den Händen und jubelten leise über den Tod des Zauberers, und alle Singvögel schlugen mit den Flügeln gegen die Stäbe des Käfigs und zwitscherten, so laut sie konnten.

Aber der Knabe saß ganz still auf seinem Hocker, schlug die Hände vor sein Gesicht und stöhnte leise vor sich hin. Und als die erschreckte Schwester ihn voller Angst umschlang und ihn fragte, was ihm fehle, sagte er nur verzweifelt: »Das Tor! Das Tor! Wir sind lebendig begraben.«

Aber das Hündchen lief schon wieder wie närrisch vor Freude den Saal entlang, leckte dann die Tränen von den Wangen des Knaben und begann in großer Eile, einen der Mörser nach dem anderen umzustoßen. Und als das weiße Pulver den Boden bedeckte, kratzte es mit den Füßen alles zusammen, bis es eine ebene weiße Fläche war und malte dann vorsichtig mit einer Vorderpfote ein Zeichen hinein. Und als der Knabe sich niederbeugte, sah er, daß es ein Schriftzeichen war, und es hieß: »Ane – Wane.«

Da nahm er den Stab des toten Mannes und ging schnell zurück an das Felsentor. Er klopfte dreimal mit dem Stabe an die Wand und sprach mit zitternder Stimme: »Ane – Wane!«

Und wie er es gesagt hatte, sprang das Tor auf, die beiden Flügel schoben sich zur Seite, und draußen lag im Sonnenschein die herrliche Gotteswelt.

Da fiel er auf die Knie nieder, drückte das Hündchen an sich und wußte nicht, wie seine Augen sich satt trinken sollten an dem Grün der Wälder, dem Blau des Himmels und dem wunderbaren Wind der Freiheit, der rauschend über das Gras ging.

Und als sie nun in den Saal zurückkamen und der Knabe rief, daß das Tor geöffnet sei, da hallte der Saal zum erstenmal, seit er stand, von dem Jubelgeschrei der Kinder wider, und die gefangenen Vögel schlugen solange mit ihren Flügeln an die Gitterstäbe, daß die Kinder alle Käfige öffneten, und zwischen aller Seligkeit raste das Hündchen über die Mörser hinweg und bellte, als wäre es von allen Seligen das Seligste.

Aber bevor sie die Höhle verließen, füllte der Knabe allen Kindern die Taschen mit Edelsteinen, und die Mädchen hielten ihre Schürzen auf, und soviel Herrlichkeit hatte keines von ihnen in seinem Leben noch jemals gesehen.

Die kleine Schwester aber wollte nichts anderes haben als die Schale aus Bergkristall, in der die Natter geschlafen hatte. »Denn von ihr ist alles Leid ausgegangen«, sagte sie zu ihrem Bruder.

Und dann zogen sie aus, ein Zug des Elends, aber doch der Freude, und als sie aus dem Felsentor traten und das Licht sie überflutete und das grüne Gras sich unter ihren nackten Füßen beugte, knieten sie alle nieder, und die kleine Schwester umfing das Hündchen und konnte nicht anders als es auf seine trüben, halbblinden Augen küssen.

Und wie sie das tat, kniete plötzlich statt des Hündchens ein blasser, schöner Knabe neben ihr und empfing ihren Kuß auf seine Wimpern und sagte: »Nun hast du mich erlöst, weil du dich nicht gescheut hast vor meiner Häßlichkeit und Tiergestalt, und nun ist erst alles so schön wie in dem schönsten Traum.«

Und er erzählte ihnen, daß er gleich ihnen in die Höhle gekommen war und der Zauberer ihn zu seinem Gehilfen gemacht hatte. Aber als er einmal eines der Kinder durch das offen gebliebene Tor hatte entschlüpfen lassen, war er in ein Hündchen verwandelt und Tag und Nacht gequält worden. Und daher hatte er alles gewußt, was er ihnen in seiner Zeichensprache erzählt hatte, und nun würde er bei ihnen bleiben, denn er hatte keine Eltern mehr, und niemand würde sich seiner erbarmen.

Und dann machten sie sich auf, alle zusammen, und die befreiten Vögel flatterten ihnen voraus und ließen sich auf ihren Schultern nieder, wenn sie müde waren.

Und dann sangen sie leise und zum letzten Mal das traurige Lied, das sie in der Höhle des Alten erfunden hatten, und das begann so:

»In dem Berge, in dem Berge,
wo die rote Schlange schläft ,...«

Und der Knabe und seine Schwester hörten zu, und es ging ihnen tief zu Herzen, und die Schwester nahm leise die Hand des Bruders in die ihre und sagte: »Nun weiß ich für alle Zeit, daß ich dir das Liebste auf der Welt war und bleiben werde.«

* * *


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