Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die arme Magd

Eine reiche Frau hatte drei Töchter, von denen war die jüngste ein Findelkind und wurde arm und kümmerlich gehalten wie eine Magd. Und da sie die Schönste von den dreien war, so wollten ihr die Mutter wie die beiden Schwestern nur Böses und trachteten darnach, durch Arbeit und Leiden ihre Schönheit zu zerstören. Wenn die anderen in den Gärten des Königs spazierengingen, wozu sie die Erlaubnis hatten, weil der Mann der reichen Frau der Kämmerer des Königs gewesen war, so mußte das Findelkind auf den Stufen ihres Hauses knien und sie mit heißem Wasser scheuern. Und wenn die Mutter mit den beiden Töchtern nach Hause kam, so glitten sie jedesmal mit ihren Fächern aus weißen Straußenfedern über die Stufen, und wenn nur ein einziges Staubkorn in den Federn haften blieb, so mußte die Magd mit ihrer Arbeit von neuem beginnen. Fand sich aber kein Fehl an der Arbeit, so hatte eine der Schwestern immer vorher ihren Fächer in den Straßenstaub fallen lassen, und den wies sie nun der Magd als eine Probe ihrer Trägheit vor, so daß sie mit der Arbeit von neuem beginnen mußte.

Auch mußte sie jede Woche die Wäsche am Strome waschen, gleichviel ob die Sonne fröhlich schien oder Regen und Wind in schweren Stößen über das Wasser fuhren. Da kniete sie nun mit bloßen Knien, das Haar flog ihr naß über das Gesicht, und ihre schönen Hände waren rot und aufgesprungen von dem kalten Wasser.

Kamen dann im Sonnenschein die Boote des Königs langsam stromab gefahren, mit bunten Zelten und Blumen geschmückt, und klangen Gesang und Harfenspiel über das Wasser hin, so beugte die arme Magd sich tief über ihre Arbeit, daß man nur ihren goldenen Scheitel sah und nur ein Stück von den Lumpen, in die sie gekleidet war.

Aber die Augen ihrer Schwestern waren so scharf wie Falkenaugen, wenn es galt, Böses zu tun, und ob die Magd sich noch so verbarg, sie ließen doch jedesmal ihr Boot bis dicht an das Ufer treiben und riefen ihr Spottworte zu.

»Wovon sind deine Hände so rot, Schmutzliese?« fragte die ältere.

»Wovon sind deine Lumpen so naß, Schmutzliese?« fragte die andere.

Dann beugte die Magd sich noch tiefer über das Wasser, und ihre heißen Tränen fielen in den Strom und glitten mit ihm davon. Aber sie hörte doch, wie die jungen Prinzen und Höflinge zu den bitteren Scherzen der Schwestern lachten, und sie fühlte, daß sie so gleichgültig über sie hinblickten wie über einen Pfahl, der im Wasser trieb.

Lag sie dann abends in ihrer Kammer unter dem Dach, so hörte sie aus den unteren Räumen Musik und manchmal die gleitenden Schuhe der Tanzenden, und das Herz wurde ihr bitter vor Gram und Einsamkeit. Dann rang sie wohl unter der Decke die Hände nach ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte, aber jedesmal kam dann der tröstende Schlaf, und bevor der erste Traum vor ihrer Seele stand, waren die Tränen auf ihren Wangen schon getrocknet.

So lebte sie freudlos und im Dunklen dahin, bis zu einem Sommerabend, an dem sie die Wäsche im Strom noch einmal spülte, ehe sie den Korb in das Haus trug. Der Abend war still, und große, rötlich beglänzte Wolken zogen langsam über die Erde und spiegelten sich im stillen Zug des Wassers.

Da hielt sie ein Weilchen in ihrer Arbeit inne, blickte in die schöne Welt hinaus und wünschte sich gar sehr, eine der Wolken zu sein, hoch über dem Erdenleid und der Menschen Bitterkeit, und im Abendhimmel zu versinken, wie jene es taten.

Und wie sie so auf ihren Knien lag, die müden Hände vor sich gefaltet und für eine kleine Weile ganz still und glücklich in ihrem jungen Herzen, kam eine Grasmücke über den Strom geflogen, die setzte sich in den Weidenbaum am Ufer und begann ihr süßes und fröhliches Lied zu singen.

Da hob die Magd ihre Augen zu dem Vogel auf, lauschte mit Entzücken und sagte, als er sein erstes Lied beendet hatte: »So will ich nie mehr traurig sein, wenn du jeden Abend zu mir kommst und mir so das Herz erfreust.«

Da beugte sich der Vogel auf seinem Ast zu ihr herunter, blickte sie mit seinen dunklen Augen freundlich an und sagte: »Zeige mir das rote Mal auf deiner Schulter!«

Da erschrak die Magd, daß der Vogel mit menschlicher Stimme sprach, aber sie schob ihr ärmliches Kleid über der linken Schulter gehorsam zur Seite, und dort, auf der weißen Haut, war ein kleines rotes Mal, so groß wie eine Christdornblüte.

Der Vogel nickte ihr freundlich zu und sagte: »So sei nur getrost und guten Mutes und bewahre dir ein reines Herz, auch wenn man dir Galle zu trinken geben sollte.«

»Aber wer bist du?« fragte die Magd. »Und wer hat dir Macht gegeben, zu sprechen, wie die Menschen sprechen?«

»Derselbe, der das rote Mal in deine Haut gebrannt hat«, erwiderte der Vogel, begann sein Lied von neuem und flog dann über den Strom zurück.

Die arme Magd aber blieb noch eine Weile auf den Knien liegen und blickte dem Vogel nach, und ihr Herz war ihr so froh und weh, als wäre er aus dem Paradies gekommen.

Von diesem Abend an kam die Grasmücke immer um die gleiche Zeit, saß im Weidenbaum und sang, und wenn das Mädchen nicht zum Strome hinunter konnte, kam sie in den Garten geflogen oder auf das Treppengeländer, wo es die Stufen scheuerte. Und das Mädchen hatte immer ein paar Körner in der Schürze, die hielt es dem Vogel hin, und er setzte sich auf die nasse Hand, nahm die Speise behutsam mit dem Schnabel und sang dann sein Abschiedslied.

»Was ist das für ein zudringlicher Vogel, der sich immer hier herumtreibt?« fragte die Mutter. »Und wer hat dir erlaubt, ihm von meinen Körnern zu geben?«

»So will ich ihm von nun an von meinem Brote geben«, sagte das Mädchen, »damit es Euer Herz nicht beschwert.«

»Dein Brot!« sagte die Frau verächtlich. »Was du verdienst mit deiner Trägheit, ist nicht einmal eine Rinde wert, geschweige denn ein Brot.«

»Hüte dich, hüte dich!« sang der Vogel und flog über die Gärten davon.

Die Frau aber war zornig und befahl, daß die Magd von nun an vor der untersten Treppenstufe knien sollte, sobald Gäste erwartet würden, um jedem mit einem Tuch die Schuhe zu säubern, der die Treppen hinaufsteigen wollte.

Da erinnerte das Mädchen sich der Worte der Grasmücke, von der Galle, die es würde trinken müssen, und gehorchte, ohne zu murren. Viele Stunden am Tag und am Abend lag es nun auf den Knien im Sande, blickte nicht auf in seiner Scham, und nur wenn ein paar gestickte oder glänzende Schuhe vor seinen Augen auftauchten, hob es die Hand mit dem Tuch und tat schweigend die befohlene Arbeit.

Fast keiner der Gäste kümmerte sich um die graue, zusammengekauerte Gestalt, und sie hielten ihre Schuhe hin, als liege dort ein Grasbündel, an dem man den Staub abwischen könnte. Manche trieben sogar ihren Spott mit ihr, und nur hin und wieder beugte sich einer der Alten des Reiches zu ihr nieder, strich ihr über das goldene Haar und sagte mitleidig: »Du armes Kind, schmerzen dich deine Knie nicht?«

Dann blicke sie wohl auf und erwiderte leise: »Die Knie nicht, aber das Herz.«

Und jeder, der sie so sah, erschrak vor der Schönheit und Trauer ihres Angesichts.

Die Grasmücke aber saß auf der obersten Treppenstufe, und zu jedem der barmherzigen Gäste hob sie die kleine, graue Kehle auf und sang: »Gott segne dich, Gott segne dich!«

Vor den Spöttern und Gleichgültigen aber floh sie auf den Steinsims des Portals und rief von dort herunter:

»Wer Barmherzigkeit vergessen,
wird einst Staub und Tränen essen!«

Da verwunderten sich die Gäste, und viele waren zornig, und sie fragten die reiche Frau, was es für eine Bewandtnis mit ihrer Magd und dem Vogel habe, der wie ein Mensch spreche.

Da schalt die Frau auf beide, die Magd und den Vogel, und sagte, daß sie Zauberwerk trieben und ein schlechtes Ende nehmen würden, und bat die Gäste, ihrer nicht zu achten. Denn obwohl sie beide oft vertrieben hätte, kämen sie doch immer wieder, und sie hätte keine Macht über sie.

Einer der Alten des Reiches aber, über den der Vogel seinen Segen gesprochen hatte, sah die Witwe des Kämmerers forschend an und sagte: »Ist denn das Kind nicht Eure Tochter, Frau, wenn auch eine angenommene? Und sind diese beiden Mädchen nicht ihre Schwestern?«

Da lachten die beiden Töchter und erwiderten, daß sie keines Findelkindes Schwestern wären und nicht gewohnt, Staub von fremden Schuhen zu wischen.

Der alte Mann aber schüttelte bekümmert den Kopf und sagte leise, daß niemand wisse, wie lange und wie tief er noch im Staube zu knien haben werde, ehe er selbst zu Staub werde. Und stand auf, verneigte sich und bat, ihn zu entschuldigen, wenn er nun für eine Zeit nicht wiederkommen könne.

Die Frau und die Töchter aber haßten die Magd nun von ganzem Herzen und trachteten bei Tage und bei Nacht darnach, wie sie ihre Schönheit zerstören könnten, damit niemand mehr ihrer achte. Doch gelang ihnen zunächst nichts mehr, als daß sie aus Versehen kochendes Wasser über ihre Hände gossen. Am Abend aber kam die Grasmücke, trug ein Kraut in ihrem Schnabel und hieß die Magd den Saft über die Wunde träufeln. Und als am Morgen ihre Hände so schön waren wie je, ergrimmten die Frauen in ihren Herzen, und die älteste der Töchter ging zu ihrer Truhe, hob eine kleine Flasche vom Boden auf und sagte ihrer Mutter: »Rufe mich nur, bevor du sie zu ihrer Suppe holst, und dann wollen wir ihrer bald ledig sein.«

Um die Mittagszeit aber, als die Magd in der Küche saß und ihren Löffel in die Suppe legte, saß die Grasmücke auf dem Fensterbrett und sang: »Iß nicht, iß nicht, denn die Katze wird sterben!«

Und obwohl das Mädchen nicht verstand, was sie meinte, legte es doch den Löffel wieder zur Seite und aß sein trockenes Brot zu einem Becher Wasser. Und als es aus seiner Kammer wieder heruntergekommen war, wo es sein Tuch für seine Tränen geholt hatte, lag die Katze tot auf dem Tisch, und der Teller war halb geleert.

Da erschrak die arme Magd und beschloß, in der Nacht ihr Bündel zu packen und in die weite Welt zu gehen und lieber an einem Zaun zu sterben als hier unter sechs weißen Mörderhänden.

Die Frauen aber, als sie heimlich in die Küche kamen, fanden die Katze, fürchteten sich sehr und schütteten den Rest der Suppe fort.

»Hast du meine Katze getötet, du böses Ding?« fragte die Frau.

Die Magd sah sie traurig an. »Bewahrt doch Eure Hände vor Blut, Frau«, sagte sie, »denn niemand als Gott allein kann es abwaschen.«

Da war die Frau verwirrt und ging schweigend fort.

Um die Abendzeit aber verbreitete sich ein Gerücht in der Stadt, daß am nächsten Morgen ein Prinz aus einem fernen, mächtigen Reich ankommen werde, der suche eine Frau unter den Töchtern aller Länder und suche schon viele Jahre nach ihr, ohne zu finden. Denn sie müsse eine geheime Eigenschaft haben, die er noch niemandem anvertraut habe. Und wenn sie auch schön und reich und lieblich und hochgeboren sei, so reiche das nicht aus, wenn das Eine ihr eben fehle. Über dieses Eine aber liefen so viele Gerüchte, daß niemand das Rechte wisse und daß man warten müsse, bis er selbst da sei und seine Suche beginnen werde.

In dieser Nacht kam die Stadt nicht zur Ruhe, außer in den Hütten der Armen, wo man müde war vom Tagewerk und nicht der Meinung war, unter den Töchtern eine künftige Prinzessin zu beherbergen. In den reichen Häusern aber wurde gescheuert und gebacken, wurden Festkleider zugerichtet und Blumen im Nachttau geschnitten. Und mochte eine Tochter auch noch so häßlich und garstig sein, so wußte ja niemand, ob der fremde Prinz nicht gerade an der Häßlichen und Garstigen das Eine finden möchte, das er suchte.

Und da auch im Hause der reichen Frau zur Nacht alles für den Besuch des Prinzen bereitet werden mußte, so verbarg die Magd ihr Bündel wieder in der Kammer und scheuerte und buk die ganze Nacht und meinte, daß auch das vorübergehen werde wie alles andere und daß die weite Welt ihr immer noch offen stehe.

Am nächsten Morgen vernahm sie schon in der Frühe Pauken- und Trompetenklang und den Jubel des Volkes, und einen Augenblick lang, während sie bei ihrer Arbeit auf den Knien lag, stützte sie sich auf ihre Hände, schloß die Augen und dachte, daß es wohl schön sein müsse, so empfangen und von der Liebe getragen zu werden wie auf Vogelschwingen. Aber dann lächelte sie traurig, sah an ihrem geflickten Kittel herunter und machte sich wieder seufzend an die Arbeit.

Und als die Sonne am höchsten stand, begann ein Gerücht von Straße zu Straße und von Haus zu Haus zu laufen: daß der fremde Prinz nichts anderes suche als eine Frau mit einem kleinen roten Mal auf der linken Schulter, und darüber hinaus könne sie ruhig arm oder garstig oder auch eine Wäscherin sein.

Da verwunderte das Volk sich zuerst über die Launen der Großen, aber dann belustigte es sich, und jeder Vater fragte seine Tochter fröhlich, ob sie auch ihre Schulter im Spiegel betrachtet habe, und wenn es nicht gerade die linke sei, so könne es vielleicht auch die rechte sein, denn rechts und links sei bei den großen Herren ja manchmal vertauscht.

Die reiche Frau aber belustigte sich nicht, sondern sie nahm ihre beiden Töchter in die verschwiegenste Kammer, hieß sie ihre Kleider von den Schultern streifen, machte einen Nagel im Feuer glühend und brannte beiden ein Mal in die Haut, dort wo die Schulter sich zum Oberarm senkte. Auf die Brandblase strich sie eine weiße Salbe und befahl ihnen auf das strengste, nicht mit der Hand daran zu rühren, wie sehr es auch schmerzen möchte.

Die Töchter aber waren es sehr zufrieden.

Aber als das Gerücht auch bis zur armen Magd kam, erschrak sie in ihrem Herzen, raffte ihren Kittel fest am Halse zusammen und zog noch eine Nadel hindurch, damit er sich nicht unversehens öffne, wenn sie den Gästen den Staub von den Schuhen wischte.

Bis zum Abend stand die Frau unter dem Steinportal über den Stufen, als wolle sie der frischen Luft genießen, aber sie spähte nur die Straße entlang, ob der Prinz nicht auch zu ihr komme. Sie schalt noch zorniger als sonst auf das Mädchen, das an der untersten Stufe kauerte, und erst als sie in der Ferne den Glanz von Waffen schimmern sah und den Zuruf des Volkes vernahm, zog sie sich heimlich zurück, indem sie noch einmal die geballte Hand mahnend und drohend gegen die Tochter hob.

Diese lag wie sonst auf den Knien, die Stirn tief gebeugt, aber das Herz schlug ihr bis zum Halse, als sie die vielen Schritte hörte. Jemand blieb neben ihr stehen, und sie hob die Hand mit dem Tuch, um es über die golddurchwirkten Schuhe gleiten zu lassen. Aber eine Stimme, die sie noch nie gehört hatte, sagte sanft und freundlich zu ihr: »Laß das nur sein, mein Kind. Niemand ist so groß auf dieser Erde, daß ein anderer ihm den Staub von den Füßen wischen dürfte. Blicke nur auf, daß ich dein Gesicht sehen kann, denn in den Gesichtern der Demütigen liegt auch ihr Herz.«

Da richtete sie sich auf und sah den Fremden an, und ihr Gesicht wurde weiß unter dem goldenen Haar, so sehr schlug ihr Herz, als sie seine guten und traurigen Augen sah.

Der Prinz blickte lange auf sie hernieder und fragte sie dann, wer sie sei.

Aber bevor sie antworten konnte, rief einer der bösen Spötter aus dem Gefolge, der Herr Prinz möchte doch ruhig die Stufen hinaufgehen, denn dies sei die Schmutzliese und ein Findelkind, und wenn er noch länger in der Stadt verweile, werde er sie am Strome sehen, wo sie mit roten Händen die Wäsche spüle.

Da wandte der Prinz sich um und sagte, daß er schon manchen Mund habe weinen sehen, der sich im Spott verzogen habe, noch ehe die Sonne gesunken sei. Und er strich der Magd über das Haar und sagte: »Weine nicht, denn ich will dich noch sehen, ehe ich fortgehe.«

Oben, in den geschmückten Räumen, stand die Frau mit ihren beiden Töchtern an der Schwelle, und sie neigten sich tief und dankten für die Ehre, die der Königssohn ihrem geringen Hause antue.

Dieser sah sich schweigend um und fragte dann die Frau, wo das Gemach sei, in dem die Pflegetochter lebe.

Da erschrak die Frau und führte ihn in das Zimmer der ältesten Tochter, wo die Seide an den Wänden glänzte und die Spiegel in der Sonne funkelten. Aber wie der Prinz sich umsah, kam eine Grasmücke auf das Fensterbrett geflogen und sang traurig: »Unter dem Dach, unter dem Dach ,...«

Da verwunderte sich der Prinz und verlangte, die Kammer unter dem Dach zu sehen, und die Frau und die Töchter und das ganze Gefolge stiegen die glänzenden Treppen bis unter das Dach empor, und dort war eine dunkle Kammer mit einem schmalen Bett und einem zerbrochenen Fenster, aber auf dem schmalen Fensterbrett stand ein kleiner, blühender Rosenstock, und der Prinz brach eine der Knospen ab und barg sie an seiner Brust.

Und als sie wieder die Treppen hinuntergestiegen waren, verneigte der Prinz sich höflich und fragte die Frau, ob eine ihrer Töchter ein besonderes Merkmal an ihrem Leibe hätte, anders als sonst bei den Menschen.

Und die Frau strahlte vor Glückseligkeit, zog ihre Töchter zu sich heran und rief: »Beide, mein edler Herr, beide haben ein rotes Mal auf ihrer Schulter! Möge es dir gefallen, es anzusehen.«

Und sie öffnete mit zitternden Fingern die Kleider ihrer Töchter an der linken Schulter, streifte sie herab und schrie vor Schrecken auf.

Denn statt des roten Males trugen sie beide auf der Haut eine gelbe, eiternde Wunde, aus der eine blasse Flüssigkeit heraustropfte wie bei einer Aussätzigen.

Da sang die Grasmücke laut auf vor dem Fenster und jubelte: »Der Nagel, der Nagel!«

Und wie sie es gesungen hatte, erschien in jeder der Wunden ein langer, rotglühender Nagel, und die Haut krümmte sich um die verbrannte Stelle, und die Schwestern schrien auf vor Schmerz und versuchten, das Eisen aus der Wunde zu ziehen. Aber es saß so fest im Körper wie in einem Eichenstamm, und sie verbrannten sich ihre weißen Hände.

Da wandte sich der Prinz zu seinem Gefolge und sagte: »Nun soll das Mädchen herauf, das an der Treppe kniet.«

Und als die Magd mit Widerstreben erschien, nahm er sie liebreich bei der Hand und sagte ihr, daß er jede Jungfrau fragen müsse, ob sie ein rotes Mal auf der linken Schulter trage. So sei es ihm bestimmt durch das Wort einer gütigen Fee, und so müsse er auch sie fragen.

Die Magd blickte voller Schrecken auf ihre beiden Schwestern, die den Nagel in ihrer Schulter trugen, und sagte leise: »Herr, was hast du ihnen getan? Siehst du nicht, daß sie leiden?«

»Ich habe nur gesehen, daß du leidest«, erwiderte der Königssohn, »und dieses habe nicht ich getan, sondern der Vogel, der auf dem Fensterbrett sitzt. Gib mir nun Antwort auf meine Frage.«

Da kniete sie vor ihm nieder und schob mit zitternder Hand den Kittel zur Seite und wies ihm das Mal, so groß wie die Blüte eines Christdorns.

Und er hob sie auf, zog sie an seine Brust, küßte sie und sagte: »So habe ich gefunden, was ich sieben Jahre lang gesucht habe. Denn es ist mir geweissagt worden, daß niemand meine Gemahlin sein werde als ein Findelkind mit einem Mal auf der linken Schulter. Und das Kind ist von hohen Eltern geboren und in Kriegszeiten verloren worden. Und sein Herz wird als das reinste auf dieser Erde erfunden werden.«

Und er nahm sie bei der Hand, hieß die Frau und die beiden Töchter vorangehen, und am Fuße der Treppe ließ er die Frau hinknien und mit dem Tuch die Schuhe seines Gefolges abwischen. Und zu den Töchtern sagte er: »Ihr aber werdet bleiben für Lebenszeit, wie ihr seid, und wissen, wie Staub und Tränen schmecken.«

Die Magd aber zog ihre Füße zurück, als die Frau sie abwischen wollte, und bat den Königssohn, es ihr zu ersparen, daß die Rache ihr Herz erfülle. Und er hob sie vor sich auf sein Pferd und ritt unter dem Jubel des Volkes langsam aus der Stadt hinaus und am Ufer des Stromes entlang.

»Hier waren meine Hände rot«, sagte die Magd unter Tränen und deutete auf das Wasser, »und dafür hast du mein Herz gesegnet.«

Im Weidenbaum aber saß die Grasmücke und sang ihr süßes Lied in den Abend hinein, und als der Königssohn und die Magd anhielten, um dem Vogel zu danken für alle Liebe, verstanden sie, was er sang, und es lautete in der Sprache der Menschen:

»Findelkind, Findelkind,
weiß, wer deine Eltern sind.
Warst einst nackt und warst einst bloß,
bist nun reich und bist nun groß.
Jedes Volk trägt still sein Mal:
Denke dran im Freudensaal!«

Da legte die Magd ihren Kopf an das Herz des Königssohnes und sagte: »Laß es uns nie vergessen!«

* * *


 << zurück weiter >>