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Der Nesträuber

Eine Witwe hatte einen einzigen Sohn, an dem hatte sie viel Freude, aber auch manchen Kummer, denn er war ein wildes Kind und immer darauf aus, alles zu haben, was seine schnellen Augen erblickten. Und da ihre ärmliche Hütte am Rande eines großen Waldes stand, so blieb er manchmal für den ganzen Tag verschwunden und kam erst zum Abendessen heim, die Taschen mit Vogeleiern, Eidechsen, Schmetterlingen und bunten Steinen gefüllt. Die Mutter verwies es ihm oft und warnte ihn vor wilden Tieren und bösen Zauberern, hielt ihm auch vor, wie unrecht es sei, den armen Vögeln ihre Kinder fortzunehmen, bevor sie das Licht der Sonne erblickt hätten, aber je mehr sie ihn ermahnte, desto größer wurde seine Begier nach dem Verbotenen, und wenn sie ihre Rede beendet hatte, umfing er sie, küßte sie zärtlich und meinte, sie solle ihm nur seine Wege lassen, denn sie seien arm und der große Wald sei doch nun eben seine einzige Freude.

Als er größer geworden war, hielt sie ihn dazu an, die drei Ziegen im Walde zu hüten, indem sie dachte, daß er dann doch nicht mehr so weit entlaufen könnte, weil er die drei Tiere sehr liebte und sich von ihnen nicht entfernen würde. Auch war er es sehr zufrieden, schnitt sich eine Weidenflöte und zog an jedem Morgen mit seiner kleinen Herde nach den Waldwiesen, wo die Kräuter und Gräser besonders würzig wuchsen. Sah er aber, daß seine Schützlinge es sich wohl sein ließen, so begann er gleich, alle Büsche und Hecken zu durchstöbern, um die Nester der Vögel ausfindig zu machen, und bald war ihm auch keine Kiefer oder Fichte hoch genug, daß er nicht ihren Wipfel erklettert hätte. Dort wiegte er sich dann hoch über der Erde in der schwankenden Krone, blies sein Flötenlied zu den Ziegen hinunter und kam sich wie der rechte König des Waldes vor, dem alle Dinge untertan waren.

Hatte die Sonne dann ihren höchsten Punkt erreicht, so zündete er sich ein kleines Feuer an und kochte in einem irdenen Topf die Vogeleier, die er geraubt hatte, und waren auch nicht alle wohlschmeckend, so redete er es sich doch ein, und wenn ihm die Ermahnungen seiner Mutter einfielen, so knipste er nur mit den Fingern und dachte, es gebe soviele Vögel auf der Welt, daß es auf ein paar Schock mehr oder weniger nicht ankomme. Und wenn die Vogeleltern ihn klagend umflogen, so warf er mit Steinen oder Tannenzapfen nach ihnen und meinte, daß sie ja doch keinen richtigen Schmerz empfänden und es eben ihre Natur sei, sich so aufzuführen.

Einmal aber, am Johannistage, widerfuhr ihm etwas Seltsames. Er hatte eben ein Grasmückennest ausgenommen, nach dem er viele Tage gesucht hatte, und trat gerade aus dem Gebüsch heraus, um nach seiner Feuerstelle zu gehen, als sein Blick auf eine alte Frau fiel, die im Schatten der alten Eichen unbeweglich saß, ihre Hände um einen Stock gefaltet und ihr Gesicht fast ganz von einem grauen Tuch verhüllt, und durch das Tuch blickten ein paar traurige, halberblindete Augen ihn regungslos an. Auf ihrer Schulter aber saß ein kleiner Vogel, den er noch nie gesehen hatte, und sang leise und so traurig vor sich hin, daß es ihm das Herz auf eine nie gekannte Weise bewegte.

Zuerst blieb er eine Weile stehen und sah mit klopfendem Herzen zu der Frau hinüber. Dann aber kam der alte Leichtsinn wieder über ihn, und er ging schnell über die Lichtung, um zu fragen, wer sie sei. Aber als er näher gekommen war, sah er nichts als einen alten, vermoderten Baumstumpf, und so sehr er jeden Fleck unter den alten Eichen absuchte, so fand er doch keine Spur mehr von der Frau, und auch das Lied des Vogels war verstummt.

Da ging er langsam zu seinen Ziegen zurück, zündete sein Hirtenfeuer an, und als die roten Funken aus dem weißen Rauch heraussprangen, lachte er schon wieder, und die Eier schmeckten ihm so gut wie alle anderen.

Am Abend aber konnte er doch nicht unterlassen, seiner Mutter davon zu erzählen. Diese erschrak so sehr, daß ihre Hände zitterten. »So hast du wieder gesündigt«, sagte sie weinend, »und die Frau, die dir erschienen ist, war die Mutter aller Vögel, die im Walde wohnen. Es heißt, daß sie bösen Kindern dreimal erscheint, und nach dem drittenmal verwandelt sie sie zur Strafe oder wirft einen Zauber über sie, und auch bei dir wird es so ergehen, wenn du nicht umkehrst und auf Gottes Wegen wandelst.«

Da erschrak auch der Knabe und versprach, von nun ab gehorsam zu sein, und eine lange Zeit hielt er es auch so. Aber dann vergaß er das Bild der Frau wieder, trieb seinen Mutwillen im Walde, als sei nichts gewesen, und lachte über seine kindische Angst. Solange bis das Bild ein paar Wochen später ihm wieder erschien und alles so vor sich ging wie beim erstenmal. Da wurde ihm wohl etwas bang ums Herz, und für diesen Sommer ließ er von seinem Treiben ab. Aber nun war ihm, als fehlte ihm etwas zu seinem Glück, und den ganzen Herbst und Winter hindurch war er still und in sich gekehrt, so daß die Mutter glaubte, er sei in sich gegangen und werde nun ein neues Leben anfangen.

Im Frühjahr aber zog er wieder singend mit seinen Ziegen in den Wald, suchte die alten Nester auf und trieb es so, wie es ihm früher Freude gemacht hatte. Und als er eines Morgens aus einer alten Kiefer den Schwarzspecht abfliegen sah, mit der roten Haube auf dem Kopf, von dem so viele Geschichten erzählt wurden, schlug ihm das Herz, als hätte dieser Tag etwas Besonderes für ihn bereit, und in der nächsten Minute kletterte er schon wie ein Eichhörnchen an dem Stamm in die Höhe, so hoch, bis er die Hand in das Nistloch stecken konnte und sie mit drei weißen Eiern wieder herauszog.

Da schrie er laut über den ganzen Wald hin vor Freude, nahm dann die Eier in den Mund, um sie nicht zu beschädigen, und war wie der Blitz wieder unten im Moos, gerade als der große schwarze Vogel mit einem langen klagenden Schrei über die Baumwipfel geschossen kam. »Schreie du nur ruhig«, sagte der Knabe spöttisch, »und das nächste Mal mußt du etwas vorsichtiger sein.«

Aber wie er es gesagt hatte, blieb ihm das Herz stehen, denn unter den alten Eichen sah er die alte Frau wieder sitzen, und der kleine Vogel auf ihrer Schulter sang so traurig, wie er ihn noch nie gehört hatte, und eine Wolke zog einen Herzschlag lang über die Sonne, und der ganze Wald war dunkel und fahl wie vor einem Gewitter. Als aber die Sonne wieder schien, war alles verschwunden, und es war dem Knaben, als hätte er geträumt.

Doch wollte sein Feuer nicht recht kommen, und alles ging ihm verquer, und die Mittagszeit war schon längst vorüber, als er die drei Eier in das kochende Wasser tun wollte. Aber wie er sie in der Hand hielt und noch einmal betrachtete, hörte er eine feine Stimme, die klang wie aus der Höhlung seiner Hand, und sie sagte: »Tu uns nichts zuleide, tu uns nichts zuleide!« Da erschrak der Knabe wieder, und die feine Stimme bat: »Laß uns los! Laß uns los!« Und schon wollte der Knabe die Hand öffnen, als ihm einfiel, daß er wahrscheinlich einen großen Schatz gefunden hatte. Da kam ihm all sein Mut und Leichtsinn wieder zurück. »Das könnte euch so gefallen«, sagte er spöttisch und schloß die Hand noch fester. Aber da war er wohl zu ungestüm gewesen, denn es knisterte in seiner Hand und etwas stach ihn in die Haut, die Eierschalen waren zerbrochen, und als er die Finger weit öffnete, fiel alles zur Erde, und am Rande des kleinen Feuers standen drei wunderschöne, winzigkleine Mädchen, die waren herrlich gekleidet und trugen jede eine winzige goldene Krone im Haar und waren so lieblich, daß der Knabe mit beiden Händen nach ihnen griff, damit sie ihm nur nicht entliefen.

Aber wie er sich zu ihnen niederbeugte, griffen die sechs winzigen Hände schnell in die lockere Asche und streuten sie ihm in die Augen, so daß er ganz blind war und im Kreise herumtaumelte. Und während er sich die schmerzenden Augen rieb, hörte er die drei Stimmen schon ganz aus der Ferne, und es klang wie ein verzaubertes Lied, so fern und süß, das sie ihm zusangen:

Ȇber Jahr und Tag,
hinter Wald und Hag,
kommt ein Zwerg auf bloßen Füßen,
um die Sünde abzubüßen.
Über Jahr und Tag ,...
über Jahr und Tag ,...«

Und damit verklang das Lied, und als der Knabe die Asche aus seinen Augen gerieben hatte, stand der Wald wie sonst da, nur die weißen Eierschalen lagen zu seinen Füßen, und wo die alte Frau gesessen hatte, wehte ein Zweig auf und nieder, als sei jemand unter ihm eben in das Dickicht gegangen.

Der Knabe aber, als er verwirrt davongehen wollte, sah plötzlich, daß seine Beine gekrümmt waren, so daß eine Ziege zwischen ihnen hindurchspazieren konnte, daß sein Körper ganz klein und breit geworden war, daß der Kopf ihm so tief zwischen den Schultern saß, daß er ihn kaum drehen konnte. Und als er weinend zu dem kleinen Wasser lief, aus dem die Ziegen am Wiesenrande tranken, schrie er auf über seinem Spiegelbild, denn was ihn ansah, war ein verwachsener Zwerg mit einem alten Gesicht, und in seinem braunen Haar leuchtete ein roter Schopf, so rot, wie der Schwarzspecht ihn über seinen schwarzen Federn trug.

Da schlug der Knabe die Hände vor sein Gesicht und verbarg sich im tiefsten Gebüsch wie ein Aussätziger, aber vor sich selbst konnte er sich nicht verbergen, und es graute ihm vor sich selbst, solange bis um die Abendzeit die Ziegen ihn fanden und ihm die Hände leckten, als verstünden sie sein Unglück. Und nachdem er sich an ihren warmen Körpern ausgeweint hatte, machte er sich doch nach seiner Hütte auf und saß solange auf der Schwelle im Dunklen, bis seine Mutter ihn fand und zum Herdfeuer führte.

Es kam ihm wunderbar vor, daß sie nicht weinte, aber sie war eine tapfere Frau, und sie wußte, daß er schwer genug gestraft worden war. Sprach ihm also nur von Herzen zu und tröstete ihn damit, daß in dem Liede ja von der Buße die Rede gewesen sei und daß er nur Geduld haben müsse.

Und bald zog nun jeden Morgen ein verwachsener Zwerg mit seinen Ziegen in den Wald, ganz still und ohne Lieder, nahm keine Vogelnester mehr aus, sondern wachte, daß kein Räuber an die Nester kam, und wo der Sperber ein Elternpaar geschlagen hatte, fütterte er die Jungen und nahm sie nach Hause, so daß er bald wie ein guter Hirte zu den Hilflosen war und die Vögel fröhlicher sangen, wenn er den Wald betrat. Er war nun ganz still geworden, so wie sein altes Gesicht, und wenn er auf einem alten Baumstumpf saß, die Arme um seine Knie geschlungen und den schweren Kopf gesenkt, so sah er von ferne der alten Frau nicht unähnlich, die er verspottet hatte und nach der er nun Tag und Nacht suchte, um von ihr zu erfahren, wie er erlöst werden könnte. Aber wie weit er auch den großen Wald durchstreifte, im Sommer wie im Winter, so sah er sie doch niemals, und auch das Lied des kleinen Vogels war nicht mehr zu vernehmen.

Da wurde er immer stiller und trauriger, haderte mit sich, daß er so böse gewesen war, und wünschte sich manchmal den Tod. Und kam ein paarmal im Jahr ein Mensch zu der Hütte, ein Nachbar oder ein Hausierer mit Bändern und billigem Schmuck, so verkroch er sich im Heuschuppen, so sehr schämte er sich seines Aussehens und so gewiß war er, daß jeder ihm seine Schande von der Stirn ablesen würde.

Als aber drei Jahre vergangen waren und nichts sich ereignet hatte, saß er eines Morgens an seinem kleinen Feuer, hielt eine junge Grasmücke in der hohlen Hand, deren Eltern nicht wiedergekommen waren, und da sie aus seiner Hand nicht fressen wollte, nahm er den Regenwurm zwischen seine Lippen, so sehr es ihn auch ekelte, und lächelte zum erstenmal seit seiner Verwandlung, als der kleine Vogel mit ungeschickten Bewegungen die Nahrung ihm aus dem Munde zu nehmen versuchte. Und als er gesättigt war und der Knabe ihn an seiner Brust geborgen hatte, weil der Morgenwind kühl über die Wiese strich, war es ihm plötzlich, als hörte er in der Ferne das traurige Vogellied, und als er atemlos aufstand und in die Tiefe des Waldes blickte, sah er die alte Frau unter den Eichen wieder sitzen, so wie er sie dreimal gesehen hatte.

Da sank er in die Knie, hob die gefalteten Hände auf und versuchte zu sprechen, aber seine Lippen gehorchten ihm nicht. Doch sah er, daß die Frau das Tuch zur Seite schob, mit dem ihr Gesicht verhüllt war, und zum erstenmal erblickte er ihre Züge, so gut und sanft, wie er niemals ein Menschengesicht gesehen hatte, und ehe er sich fassen konnte, hörte er ihre ferne, süße Stimme, so klar wie den Ruf des Pirols, und er vernahm jedes Wort, das sie zu ihm sprach:

»Fern im Norden, fern im Norden
ist die Sünde weiß geworden.
Dreimal muß der Mond sich runden,
wächst das Kraut für deine Wunden ,...«

Da sprach er es ihr mit zitternden Lippen nach, und als er es behalten hatte, löste die Frau sich im Morgennebel auf, und wieder sah er nichts als einen alten Eichenstumpf und einen Ast, der auf und nieder fuhr.

Der Knabe aber rief seine Ziegen schnell zusammen, und als er bei der Hütte angekommen war, erzählte er seiner Mutter alles und bat sie, sein kleines Bündel zu schnüren, denn er wollte aufbrechen, noch ehe die Sonne im Süden stand. Und obwohl seine Mutter weinte, so war ihr Herz doch froh, denn sie sah ihn schon zurückkehren, schön und mit geraden Gliedern, wie er ehemals gewesen war, und sie wußte auch, daß er in sich gegangen war und alle Sünde von sich getan hatte.

So nahmen sie zärtlich Abschied von einander, und um die Mittagszeit war der Knabe schon weit von der Hütte entfernt, und er ging so schnell, wie seine gekrümmten Beine ihn tragen wollten. Er mied die Menschen, soweit er konnte, und nachdem er am Abend ein paar Stunden geruht hatte, wanderte er auch die Nächte hindurch, die Augen zum Sternbild des Silbernen Wagens aufgehoben, und wenn seine Füße ihn schmerzten und er verzagen wollte, sprach er die Worte der alten Frau vor sich hin: »Fern im Norden, fern im Norden ist die Sünde weiß geworden ,...« Und obwohl er nicht ganz verstand, wie eine Sünde weiß werden konnte, glaubte er doch daran wie an das Evangelium und vergaß alle Mühsal und Beschwer darüber.

So war er einen Monat gewandert, als er im ersten Abendschein die goldenen Türme einer großen Stadt erblickte. Da wusch er sich noch einmal an der Quelle, die seitab vom Wege unter einer alten Eiche hervorsprudelte, sah bekümmert auf sein Spiegelbild und ging nun geradewegs weiter, bis er den Palast erfragt hatte. Er stieg die Marmorstufen der breiten Treppe langsam in die Höhe, und da ihn niemand aufhielt, so stand er bald in der großen Halle, wo die Prinzessin auf dem Throne saß und der Hof zu ihren Füßen sich mit Spielen und Lustbarkeiten vergnügte. Und kaum hatte er einen Blick auf sie geworfen, so wußte er, daß sie eine von denen war, die ihm Asche in die Augen gestreut hatten, nur daß sie jetzt groß und schön war wie ein Engelsbild.

Alle Spiele verstummten bei seinem Eintritt, und nur das leise Lachen war zu hören, mit dem man überall, wo er hinkam, seinen mißgestalteten Körper betrachtete. Nur die Prinzessin blieb so ernst wie bisher, winkte ihm näherzutreten und sah dann lange auf ihn nieder, während er an den Stufen des Thrones kniete. »Über Jahr und über Tag?« sagte sie leise. »Bist du nun bereit?«

Der Knabe nickte.

»So höre zu«, sagte die Prinzessin. »In meinen Gärten stehen Vogelhäuser mit vielen Tausenden von Vögeln, mit allen denen, die du einmal um ihr junges Leben gebracht hast. Für diese sollst du sorgen, und du hast den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als Speise für sie zu suchen, Würmer, Schnecken, Mücken und was sonst für sie gewachsen ist. Wenn nun eines von ihnen stirbt durch deine Nachlässigkeit, so wirst du in eine Kröte verwandelt werden. Tust du aber ein Jahr lang deine Pflicht, ohne zu ermatten oder ungeduldig zu werden, so sollst du nach einem Jahr zu meiner Schwester gehen, und auch sie wird dir eine Buße auflegen. Bist du es zufrieden?«

Da bedankte der Knabe sich, und der Obergärtner der Prinzessin führte ihn zu den Vogelhäusern in den großen Gärten. Dort bekam er Speise und Trank und eine kleine Rohrhütte zum Schlafen angewiesen, und als die Sonne aufgegangen war, begann er schon sein Tagewerk, und an allen Fenstern des Palastes standen die Höflinge und sahen ihm zu, wie er Stunde für Stunde durch die blühenden Gärten lief, einen Becher aus Birkenrinde in der Hand, den er mit Speise füllte und aus dem er die Vögel fütterte. Und wenn er auch nach der ersten Stunde schon verzagen wollte, so dauerte ihn doch das klägliche Rufen der Vögel, und er versäumte keine Minute, bis er in der Abenddämmerung auf sein hartes Lager fiel und nicht wußte, ob seine Füße ihn am nächsten Morgen noch tragen würden.

Aber sie trugen ihn am nächsten Morgen wie an vielen anderen, und obwohl er nicht mehr wußte, was ein freier Augenblick war und sein früheres Leben mit den Ziegen ihm wie ein Traum erschien, so freute er sich doch langsam, wie die Vögel wuchsen und keiner von ihnen unter seinen Händen starb, und als die Prinzessin ihm einmal zusah und ihm mit ihrem schönen Gesicht zunickte, wie er mit seinem gefüllten Birkenbecher zu den Vogelhäusern lief, war er so glücklich wie schon lange nicht, und als der Balken in seiner Ruhestätte dreihundertfünfundsechzig Einschnitte von seinem Messer aufwies, kniete er vor seinem Lager nieder, dankte Gott für alle Hilfe, nahm noch einmal Abschied von seinen vielen Schützlingen und ging dann in die Halle, wo die Prinzessin wieder auf ihrem Throne saß.

Sie sah ihn lange an, winkte ihm dann, ganz nahe zu kommen, und als er vor ihr kniete, nahm sie ein Kraut aus einer goldenen Schale und drückte es über seinem Scheitel aus. Und wie er den ersten Tropfen in seinem Haar fühlte, war es ihm, als gehe ein tiefer Schnitt durch seinen ganzen Körper, und als er aufstand, waren seine Knie wieder gerade geworden und so schlank wie in seiner Knabenzeit.

»Über Jahr und Tag«, sagte die Prinzessin und strich ihm über sein Haar. »Und nun gehe weiter nach Norden, wie es dir verheißen worden ist, bis du meine Schwester antriffst. Und dort wird dir das andere gesagt werden.«

Da bedankte der Knabe sich, nahm sein Bündel unter den Arm und machte sich wieder auf die Wanderschaft. Und da seine Beine nicht mehr gekrümmt waren, so langte er ohne Schmerzen nach einem Monat in der zweiten Königsstadt an, kniete vor dem Throne nieder, auf dem die zweite Prinzessin saß, und hörte sie also sprechen: »Über Jahr und Tag. Bist du nun bereit?« Und als er genickt hatte, sagte sie: »In meinen Gärten stehen viele Häuser mit Tausenden von Kindern, die nicht mehr Vater und Mutter haben. Für diese sollst du sorgen, sie waschen und pflegen, speisen und tränken. Wenn nur eines von ihnen stirbt durch deine Nachlässigkeit, so wirst du in einen Tausendfuß verwandelt werden. Tust du aber ein Jahr lang deine Pflicht, ohne zu ermatten oder ungeduldig zu werden, so sollst du nach einem Jahr zu meiner letzten Schwester gehen, und auch sie wird dir eine Buße auflegen. Bist du es so zufrieden?«

Da wollte der Knabe verzagen in seinem Herzen, aber dann nickte er doch wieder, bedankte sich und wurde von dem Leibarzt der Prinzessin in die Gärten geführt, wo die großen hellen Häuser standen und wo in tausend Betten die kleinen Kinder lagen. Da wies man ihm seine Arbeit zu, und wieder lief er vom ersten bis zum letzten Sonnenschein die Treppen hinauf und hinunter, wusch und pflegte die Kinder, reichte ihnen Brei und Milch und fiel am Abend auf sein Lager, ohne seine Füße zu fühlen. Aber langsam gewann er wieder Freude an seinem schweren Tagewerk, konnte jedes der Kinder beim Namen rufen, und als die Prinzessin einmal in dem großen Saal stand und ihm schweigend zusah, war er glücklich und zählte am Abend die Einschnitte seines Messers an der Schwelle seiner kleinen Hütte und konnte nicht glauben, daß nur noch sieben an der bestimmten Zahl fehlten, so schnell war das Jahr ihm vergangen.

»Über Jahr und Tag«, sagte die Prinzessin, als er wieder vor ihr kniete und sie ein grünes Kraut über seinem Scheitel ausdrückte. Und wieder ging es wie ein Schnitt durch seinen Körper, und als er aufstand, waren seine Schultern so schmal geworden wie in der Kinderzeit, und nur der große, häßliche Kopf erinnerte ihn daran, daß er noch nicht erlöst war.

Er vernahm denselben Befehl wie vor einem Jahr, bedankte sich und machte sich nach Norden auf, bis er die dritte goldene Stadt erblickte und vor der dritten Schwester kniete. »Höre nun zu«, sagte sie. »In meinen Gärten stehen viele Häuser mit Tausenden von alten Leuten, die keine Kinder mehr haben, die für sie sorgen. Und viele von ihnen haben den Aussatz, und ihre Körper riechen nach Verwesung und Tod. Die sollst du waschen und pflegen, und am Abend sollst du bei ihnen sitzen und ihnen Märchen erzählen, denn sie sind nun schon wieder wie Kinder geworden. Und wenn eines von ihnen sich über dich beklagt im nächsten Jahr, daß du nicht sorgsam oder freundlich genug bist, so wirst du in einen Totengräberkäfer verwandelt werden, und das Verweste wird deine Speise sein für alle Zeit.«

Da erschrak der Knabe in seinem Herzen, aber dann bedankte er sich doch, wurde von dem Oberpriester in die Häuser im Garten geführt und begann mit seiner Arbeit, als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte. So schwer war ihm noch kein Tag in seinem Leben gefallen wie dieser, und als er am Abend sein erstes Märchen erzählen sollte, waren seine Lippen ihm wie versiegelt. Aber die alte Frau, an deren Bett er saß, legte ihre verkrümmte Hand auf seinen Arm und sagte leise: »Liebes Kind, willst du uns denn nicht ein bißchen Abendsonne schenken für unser kaltes Herz?«

Da erbarmte er sich ihrer, und von da ab erinnerte er sich immer dieser Worte, wenn seine Kraft ihn verlassen wollte, und wurde so ein rechter Trost für alle Siechen und Sterbenden, so daß der Oberpriester sich verwunderte und die Prinzessin ihm zunickte, wenn sie ihn aus der Ferne sah.

Und als sie ihm nach Ablauf des Jahres das Heilkraut auf den Scheitel träufelte und er nun wieder so war, wie er als Knabe gewesen war, küßte sie ihn auf die Stirn und bat ihn, sich etwas zu wünschen, und wenn es ein guter Wunsch wäre, so wollte sie ihn erfüllen.

Da bedachte er sich keinen Augenblick und sagte, daß er wohl zuerst zu seiner Mutter zurückkehren möchte, die in Leid um ihn lebe. Darnach aber möchte er gern die Freiheit besitzen, durch die Reiche der drei Schwestern zu ziehen und allen zu helfen, wie er es in diesen Jahren gelernt hätte, Menschen und Tieren, Jungen und Alten. Denn was jetzt eine Buße gewesen sei, möchte er fortan aus freiem Willen tun, und was solange ein Kraut für seine Wunden gewesen sei, sollte nun auch ein Kraut für andere Wunden werden. So wenigstens habe er den Vers der alten Frau verstanden.

»So hast du ihn recht verstanden«, sagte die Prinzessin. »Und wenn du den Schwarzspecht wieder siehst, so frage ihn, ob du ihm etwas Gutes tun kannst, denn er hat uns vor dem Zauberer verborgen und in die Eierschalen eingeschlossen, und du wußtest damals noch nicht, daß du nur ein Werkzeug warst. Du wolltest es zum Bösen wenden, aber nun ist alles zum Guten geworden. Und jedesmal, wenn du in unsere Reiche kommst, sollst du bei uns einkehren, und Freude soll bei uns sein, wenn du kommst.«

Da bedankte der Knabe sich, nahm Abschied und kehrte zu seiner Mutter zurück. Und bis zu seinem Tode war er ein guter Hirte aller Kranken, Armen und Bedürftigen in den drei Reichen. Und als er in hohen Jahren gestorben war, kam ein Grasmückenpaar zu seinem Grab. Das baute ein Nest in dem Rosenstrauch über seinem Hügel, und wenn die Kinder am Abend kamen, um Blumen in die Erde zu pflanzen, saßen sie zuerst eine Weile still und lauschten dem süßen Gesang der Vögel und sagten leise zueinander, wie sie es von ihren Eltern gehört hatten: »Nun singen sie davon, daß seine Sünde weiß geworden ist, und die gute Königin hat gesagt, daß sie weißer als Schnee ist.«

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