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Der Vogel »Niemalsmehr«

Es lebte einmal ein großer König in einem fernen Land, der war nicht nur mächtig und reich, sondern er besaß auch von einem großen Zauberer, den er gefangen hielt, soviel geheimnisvolle Kraft, daß niemand auf Erden ihm widerstehen konnte. Er hatte ein Schwert, das schlug in einer Schlacht allein tausend Männer, ohne daß er die Hand zu rühren brauchte. Und er hatte einen Ring, der verwandelte Wasser in Wein und Erde in Brot, so daß niemand in seinen Reichen zu hungern brauchte, wenn er den Ring nur an seinem Finger drehte. Und er hatte einen Stab, der überall auf die Erde klopfte, wo Gold und Schätze verborgen lagen, so daß er die Armut nicht kannte und sich gönnen konnte, was sein Herz nur begehrte.

Aber alles dies machte ihn nicht demütig und dankbar, sondern er war stolz und harten Herzens, da er sich für allmächtig hielt, und seine Untertanen waren ihm nur Staub, den er fortblies, wenn es ihm gefiel.

Und in seiner Hauptstadt herrschte nicht Jubel und Fröhlichkeit, die Mädchen tanzten nicht in den blühenden Gärten, und die Männer saßen nicht am Abend vor ihren Häusern, um miteinander zu plaudern oder den Märchenerzählern zu lauschen. Alle Gesichter waren furchtsam und verschlossen, jeder schloß sich in sein Haus ein, und wo die Schritte seiner Leibwache ertönten, verbarg sich alles hinter den Toren; sogar die Hunde flohen in die Höfe und winselten vor Angst vor den Spießen der Soldaten.

Der König aber stand dann auf der Zinne seines Palastes und lachte, wenn er Menschen und Tiere vor seiner Macht sich verbergen sah. »So ist es gut! So muß es sein!« sagte der König dann zu seinem Kämmerer. »Nur wer in der Furcht des Herrn lebt, ist ein guter Untertan.«

Und der Kämmerer verneigte sich, faltete die Hände über seiner Brust und sagte: »Groß ist dein Name, o Herr, und die Erde nur Staub unter deinem Fuß.«

Nun hatte aber der König eine Gemahlin, die war nicht nur schön und lieblich von Angesicht, sondern ihr Herz war so weich, wie das des Königs hart war, und aus ihren Augen und Händen kam nichts als Erbarmen für die Armen und Kinder und Geschlagenen des Volkes, so daß sie angebetet wurde wie eine Überirdische. Aber alles Gute, das sie tat, durfte sie nur in großer Heimlichkeit tun, denn sobald der König es erfuhr, strafte er den Beschenkten am Leben, schalt die Königin auf das härteste und legte sie auch für einige Zeit in einen finsteren Turm, damit sie Gehorsam und Ehrfurcht vor ihm lerne.

Die Königin hatte ihm drei Söhne geboren, von denen der älteste zehn und der jüngste fünf Jahre alt war, und da sie der Mutter wie aus den Augen geschnitten waren und auch ihr freundliches Lächeln und ihre weiche Hand geerbt hatten, so waren sie dem König verhaßt, und er trachtete darnach, seine Gemahlin mit ihren Kindern unter einem Vorwand zu verstoßen und von einer anderen Frau den Erben seines Reiches zu gewinnen.

Der Kämmerer aber, der um das Herz seines Königs wußte, bedachte, daß er eine schöne Tochter habe und daß es ihm wohl ergehen würde, wenn der König diese heiratete, und daß es nach dem Tode des Königs ein leichtes sein würde, das Kind zu töten und selbst auf den Thron zu steigen.

Und so, als der König einmal von einem Kriegszug heimgekehrt war, berichtete er ihm mit bekümmerten Worten, daß die Königin seiner nicht würdig sei, da sie während seiner Abwesenheit vertrauten Umgang mit dem obersten der Priester gepflogen und diesen auch ermuntert habe, das Volk aufzurühren, daß es die gefürchtete Herrschaft abwerfe. Und für alles dieses sei er Zeuge und wolle es mit seinem Schwur beeidigen.

Der König maß ihn lange mit finsteren Augen, dankte ihm dann für seine Treue, befahl ihm Stillschweigen und ließ zuerst den obersten Priester mit den Angesehensten seiner Priesterschaft durch das Schwert richten.

Dann ließ er seine Gemahlin mit ihren drei Söhnen in den Turm werfen und ließ ihr verkünden, daß sie am nächsten Tage mit ihren Söhnen auf dem Richtplatz knien werde, da sie ihm die gelobte Treue gebrochen habe.

Am Abend aber richtete er ein großes Siegesfest, ließ die Märchenerzähler und die Tänzerinnen kommen, hieß die Tochter des Kämmerers neben sich sitzen, lachte und scherzte und rief dem Kämmerer zu, daß er ihm morgen den Lohn für seine Treue zukommen lassen werde. Einen Lohn, wie es ihn nur einmal im Leben eines Mannes gebe.

Zur selben Zeit aber lagen die Diener und Mägde der Königin im Turm auf den Knien, küßten ihrer Herrin weinend die Hände und suchten verzweiflungsvoll nach einem Mittel der Rettung, während doch die unteren Räume mit der Leibwache des Königs erfüllt waren, so daß nicht eine Nadel zwischen ihnen hätte durchschlüpfen können.

Die Königin aber tröstete die Weinenden, verteilte Gewänder und Schmuck unter sie, und nur wenn sie auf ihre Kinder blickte, strömten die Tränen aus ihren Augen, und sie stöhnte in ihrem Herzeleid über das Schicksal der Unmündigen, die so früh eines blutigen Todes sterben sollten.

Um die Mitternacht aber, als vom Palast das Lachen und die Trompetenklänge immer wilder herüberklangen, kniete der älteste der Diener vor der Königin nieder, flüsterte lange mit ihr und belud dann einen großen Tragkorb mit Kleidern und Gerät. Den ließ er sich auf den Rücken heben und ging dann die schmale Stiege hinunter, durch das Gemach, in dem die Wachen lärmten. Angehalten, sagte er, daß die Königin ihre Gewänder, ihren Schmuck und ihr kostbarstes Hausgerät in den Palast zu tragen befohlen habe, als ein Zeichen ihrer Unterwerfung und ihres Gehorsams.

Der Oberste der Leibwache hieß ihn finster den Tragkorb leeren und wieder vollpacken und schickte ihn dann mit einem Fußtritt aus dem Raum.

So geschah es dreimal. Beim drittenmal aber kümmerte sich niemand mehr um den Diener, nur daß der Mann am Tor seine Lanze durch den Korb stoßen wollte. Aber der Diener verwehrte es ihm. »Wenn du die Gewänder der Königin mit deinem Eisen durchbohrst«, sagte er, »so hüte dich, daß der König dich morgen nicht in einem Korbe aufhängen und von Lanzen durchbohren läßt!«

Da ließ ihn der Mann gehen.

Als der Diener aber zum viertenmal herauskam, lag unter seidenen Gewändern das jüngste Königskind verborgen, und es trug um seinen Arm einen schmalen Goldreif, der seiner Mutter besonders teuer gewesen war.

Die beiden anderen Söhne hatten sich geweigert, ihre Mutter zu verlassen; der jüngste aber, der von allen Tränen und Klagen noch nichts verstand, war gehorsam in den Korb gestiegen, und das Letzte, an das er sich später erinnerte, waren die heißen Abschiedstränen seiner Mutter, die brennend und feucht auf seinen Scheitel gefallen waren. Und während der Diener die Stadt auf heimlichen Wegen verließ und die ganze Nacht wanderte, schlief der Knabe in seinem Korbe friedlich und ohne Träume, und wenn er mitunter die müden Augen öffnete, sah er über sich nur die silbernen Sterne in den dunklen Mantel des Himmels gestickt. »Wohin trägst du mich?« fragte er den Diener jedesmal. Und jedesmal erwiderte dieser: »Zu den Zwergen, zu den Zwergen.«

Aber er trug ihn zu einem einsamen Köhler, ganz tief im dunkelsten Wald. Der war ein Jugendgespiele seiner Frau, und wiewohl er wunderlich war und Umgang mit den Zwergen haben sollte, war er als ein braver und rechtlicher Mann bekannt, und niemals kam der Fuß eines Jägers bis in seine Weltverlorenheit.

Zur selben Zeit aber, da der Diener den Korb mit dem schlafenden Kinde im Schatten des rauchenden Meilers absetzte, wurde in der Hauptstadt die Königin mit ihren beiden Söhnen auf den Richtplatz geführt. Nach dem Verbleib des jüngsten Kindes befragt, erwiderten die Diener, daß der älteste von ihnen Kleider und Gerät der Königin auf ihren Befehl fortgetragen habe und daß in der Trauer und Verwirrung der Nacht das jüngste Kind wohl mit ihm gegangen sei. Darauf wurde der Oberste der Leibwache in Ketten gelegt und jedes Haus in der Stadt durchsucht, aber da der Diener und das Kind verschwunden blieben, so befahl der König, die Hinrichtung zu beschleunigen und die Suche später fortzusetzen.

Da das Volk Befehl erhalten hatte, sich auf der Richtstätte zu versammeln, so war der weite Platz mit Menschen erfüllt, aber als die Verurteilten zu dem Hügel geführt wurden, auf dem der Richtblock stand, sank das ganze Volk schweigend in die Knie, die gefalteten Hände zu seiner unglücklichen Königin erhoben, und obwohl der König seine gepanzerten Reiter in die dichten Reihen sandte und viele eines elenden Todes starben, blieb das Volk doch in derselben Haltung, und kein Laut erhob sich über das weite Feld als das Klirren der Waffen und das Schnauben der verstörten Pferde.

Bevor die schöne Königin das Haupt auf den Block legte, segnete sie ihre Söhne und das Volk. Darauf hob sie die Hand gegen den König und sprach: »Wohl hast du die Macht, uns zu töten, so wie der Wolf die Macht hat, das Lamm zu töten. Aber da du weißt, daß ich unschuldig bin, so wird niemals mehr eine Freude dein Herz erfüllen, niemals mehr ein friedlicher Schlummer dein Auge schließen, niemals mehr ein unschuldiges Kind ohne Angst zu deinen Füßen sitzen. Vergiß es nicht: niemals mehr!«

Und sie legte ihr schönes Haupt auf den Block und empfing den Streich des Schwertes. Und darnach ihre beiden Söhne.

Der König aber, wiewohl erblaßt bis unter die finsteren Augen, hieß den Kämmerer vortreten und sprach: »Ich habe dir einen Lohn versprochen, wie es ihn nur einmal im Leben eines Mannes gibt, und du sollst ihn nun haben.« Und er winkte dem Henker und hieß ihn das Haupt des Kämmerers abschlagen, so sehr dieser flehte und um sein Leben jammerte.

Aber in dem tödlichen Schweigen, das nun über die Richtstätte fiel und in dem nur das leise Tropfen zu hören war, mit dem das Blut von dem Eichenblock fiel, vernahm alles Volk und die Leibwache und der König mit einem Mal aus dem fernen Walde den klagenden und traurigen Ruf eines fremden Vogels. Es klang wie ein Flötenruf, und es waren nur drei Töne, die in schmerzlicher Folge abwärts fielen, aber ihre Gewalt war so groß, daß selbst die härtesten Männer ihr Haupt verhüllten und daß ein Schauer des Schmerzes durch das kniende Volk ging, wie ein leiser Wind durch ein Ährenfeld.

Dreimal wiederholte sich der seltsame Ruf, und dann war es so still wie in einem Grab.

Da wandte sich der König und ritt inmitten seiner Leibwache zu seinem Palast zurück.

Die Leichen der Königin und ihrer Söhne wurden in einem öden Garten am Rande der Stadt begraben und Wächter neben den Hügel gestellt. Aber obwohl nur weißer Sand auf die Särge geschüttet worden war, bedeckten am nächsten Morgen Rosen und Lilien den großen Hügel, so dicht, daß kein Sandkorn zu erblicken war.

Einer der Wächter lief zum König, und auf sein Geheiß wurden die Blumen zerstört, der Sand fortgeschaufelt, und Steine wurden auf die nackten Särge gehäuft. Aber am nächsten Morgen waren alle Fugen zwischen den Steinen von Veilchen und Anemonen erfüllt, so daß ein wunderbarer Duft den ganzen Garten erfüllte.

Da ließ der König die Wachen vom Grabe entfernen, die Mauer um den Garten niederreißen und alle herrenlosen Hunde der Stadt in den Garten treiben. Aber die Blumen blühten nach wie vor, der Duft zog bei südlichem Wind durch alle Straßen der Stadt, und das Volk flüsterte leise, einer zum andern: »Die Königin blüht und segnet uns.«

In der Hauptstadt aber erstarb der Rest der Freude, der noch dagewesen war. Die Sonne schien, aber niemand achtete auf sie. Die Vögel sangen, aber niemand hörte ihnen zu. Die neue Königin fuhr mit ihrem jungen Sohn durch die Straßen, aber niemand grüßte sie, denn alles war in den Häusern verborgen, und sie sah nichts als die stummen Mauern, und es war ihr zumute, als ob sie in einem Grabe spazierenführe. Der König lachte und lärmte wohl noch, aber es klang wie verborgenes Weinen, und seine Großen wandten die Augen ab, sobald sie es sahen. Die Stadt aber hieß ringsumher die Stadt der Toten.

Der fremde Vogel aber ließ sich nicht mehr vernehmen, und heimliche Stimmen im Volk nannten ihn den Vogel »Niemalsmehr«.

Das jüngste Kind der Königin aber wurde nicht gefunden, so sehr und so lange der König heimlich das ganze Land durchforschen ließ.

Da war es nun in dem großen, dunklen Walde, allein mit dem Köhler und seiner Muhme, die war alt und gebeugt, aber ihre harten Hände waren lind, wenn sie dem Königskind über den Scheitel strichen. »Du Kräutlein Vergißmeinnicht«, sagte sie traurig und drehte mit der braunen Hand den schmalen Goldreif, den das Kind am Arme trug. »Vergiß es nicht, vergiß es nicht!«

Aber wenn das Kind fragte, was es nicht vergessen sollte, schüttelte sie nur den grauen Kopf, oder sie murmelte vielleicht: »Das Blut ,... das Blut ,...« Aber mehr sprach sie nicht, und der Köhler gar war so schweigsam wie die hohen Tannen um den Meiler.

Zuerst weinte das Kind, weil es an Mutter und Brüder dachte, an seine goldenen Teller und Becher und an das Spielzeug, mit dem es sich den Tag vertrieben. Aber langsam versanken die gewesenen Jahre wie hinter einer Nebelwand, und nur das traurige Antlitz der Mutter blieb immer da, wie es sich über den Korb gebeugt hatte, und der warme Schauer, mit dem es die brennenden Tränen auf seinen Scheitel empfangen hatte.

Einmal im Jahr kam der alte Diener, und jedesmal hob er aus seinem Tragkorb etwas für das Königskind heraus, einen Rock oder ein buntes Tuch, einen Ring oder einen goldenen Kreisel. Dann kniete er nieder vor dem Kind, küßte ihm die kleine Hand und sah mit seinen alten, hellblauen Augen wehmütig in das junge Gesicht. »Sie warten«, sagte er demütig, »sie warten ,...«

»Wer wartet?« fragte das Kind.

»Die Armen und die Gräber.«

Ging er wieder in den dunklen Wald hinein, so sah das Kind ihm lange nach, und eine unbekannte Traurigkeit erfüllte ihm das kleine Herz.

So verging ein Jahr nach dem andern. Das Königskind wurde ein Knabe und aus dem Knaben ein Jüngling. Er half dem Köhler nun still bei seiner Arbeit, sammelte Holz für die Muhme und grub den kleinen Garten um. In seiner freien Zeit aber begann er nun durch den großen Wald zu streifen, der keinen Anfang und kein Ende hatte. Alle Tiere waren ihm Freund, alle Kräuter waren ihm vertraut, die Wipfel der hohen Tannen neigten sich rauschend vor ihm, und die klaren Quellen murmelten zutraulich um seine bloßen Füße. Aber immer war ihm, als sei dies noch nicht das Letzte. Als würden eines Tages die Tiere und die Kräuter, die Bäume und die Quellen zu ihm zu sprechen beginnen, und als werde die Nebelwand sich dann lautlos öffnen, die hinter seiner Erinnerung stand.

Und einmal traf er am Abend, weit von der Hütte des Köhlers entfernt, eine alte Frau, die mühte sich, ein Bündel mit Reisig auf ihren gekrümmten Rücken zu heben, aber es war ihr zu schwer, und sie stand verzagt daneben, auf ihren Stab gestützt.

»Laß es mich für dich tragen, Frau Muhme«, sagte der Königssohn. »Ich bin jung und stark, und meine Schultern spüren es nicht.«

Da nickte die alte Frau freundlich und sagte: »Ein Reich ist schwerer als ein Bündel Holz. Wohl dem, der in der Jugend tragen lernt.« Und sie ging ihm langsam voraus, auf ihren Stab gestützt, bis in eine tiefe Schlucht, in die fiel kein Sonnenlicht mehr hinein. Vor einer grauen Hütte blieb sie stehen, nahm das Reisigbündel von den Schultern des Königssohnes, brach einen Tannenzapfen aus dem Baum, der neben ihrem Dach stand, reichte ihn dem Knaben und sagte: »Ich danke dir. Und wenn du in Not bist, so wirf dieses in die Höhe und rufe nach mir!«

Der Knabe barg ihn an seiner Brust, ging den langen Weg zurück und achtete darauf, ihn wiederzufinden, wenn die Lust ihn einmal anwandeln sollte.

Aber zu Hause, als sie beim Abendbrot um den Eichentisch saßen, erzählte er von seiner Begegnung und sagte lächelnd, daß er einen sonderbaren Lohn empfangen habe. Doch wie er den Tannenzapfen aus dem Kleid zog und ihn auf den Tisch legte, lag dort ein Zapfen von Gold, und die zarten Schuppen schimmerten rötlich im Feuerschein des Herdes. Die Muhme erschrak, aber der Köhler neigte seinen schweren Körper vor dem Knaben und sagte: »Segen liegt in deiner Spur.«

Und ein anderes Mal, nach Jahresfrist vielleicht, kamen wie immer um diese Zeit die schweren Wagen der Fuhrleute aus den fernen Ebenen, um die Meilerkohle fortzuführen. Sie waren rohe Gesellen, und der Köhler verbarg jedesmal den Königssohn, damit sie seiner nicht gewahr wurden.

Am Abend nun, als sie hinter der Hütte im Moose lagen, tranken und lärmten, sah der Knabe aus seinem Reisigversteck, daß eines der Pferde, die unter den Bäumen weideten, seinen rechten Vorderfuß von Zeit zu Zeit in die Höhe hob und nur langsam und wie mit Schmerzen niedersetzte. Da schlich er sich ungesehen hinzu, streichelte den Hals des Pferdes, hob ihm langsam den Huf auf und sah einen scharfen Dorn in der Krone stecken. Den zog er vorsichtig heraus, tauchte sein Tuch in die nahe Quelle, kühlte die Wunde und sprach dem Pferde leise und tröstend zu.

Da legte das Pferd seine weichen Nüstern zärtlich in des Knaben Hand und sagte: »Eines Volkes Herz trägt mehr als einen Dorn aus dem Wald. Wohl dem, der in der Jugend heilen lernt.« Und als der Knabe erschreckt in die großen, feuchten Augen blickte, sagte es: »Ich danke dir. Nimm ein Haar aus meiner Mähne, und wenn du einmal in Not bist, so lege es um dein linkes Handgelenk und rufe nach mir.«

Am Abend, als die Fuhrleute fort waren, erzählte er von seiner Begegnung, sagte lächelnd, daß auch dieses ein sonderbarer Lohn sei, und legte das Mähnenhaar auf den Tisch. Aber sobald es auf den eichenen Brettern lag, war es ein goldenes Haar, und wieder erschrak die Muhme. Der Köhler aber neigte sich abermals vor dem Knaben und sagte: »Segen liegt in deiner Hand.«

Und wieder nach Jahresfrist, als der Knabe durch den dunklen Forst streifte, hörte er einen klagenden Ruf, folgte ihm durch das verschlungene Gestrüpp und fand einen Schwarzspecht, mit der roten Kappe auf dem schmalen Haupt, der hing mit einem Flügel in einer der Wolfsfallen, die der Köhler gestellt hatte, und in seinem Schnabel trug er eine seltsam geformte Wurzel, die sah aus wie ein kleines Menschenwesen.

Da hob der Knabe mit vieler Mühe die Falle auf, nahm den Vogel auf seine Hand und sprach ihm tröstlich zu, und er wunderte sich, wie klug und warm das Auge des Vogels in das seinige blickte. Dann ließ der Vogel die Wurzel in die Hand des Knaben gleiten und sagte: »Eines Königs Hand hat mehr zu heben als einer Falle Last. Wohl dem, der in der Jugend heben lernt.« Und darnach, als der Knabe erschreckt auf die Wurzel starrte, sagte der Vogel: »Ich danke dir. Bewahre sie wohl, und wenn dir einmal etwas verschlossen ist, so rühre mit ihr an das Verschlossene, und es wird sich auftun vor dir.«

Und damit hob er sich auf von des Knaben Hand und flog in den tiefen Wald hinein, und aus der Ferne war noch lange sein klagendes Lachen zu hören, so daß es den Knaben schauerte und er schnell zur Köhlerhütte lief.

Am Abend aber erzählte er von seiner Begegnung, sagte lächelnd, daß auch dies ein sonderbarer Lohn sei, und legte die Springwurz auf den Tisch. Nun verwandelte sie sich zwar nicht in Gold, sondern blieb grau, unscheinbar und einem kleinen Männlein ähnlich, aber die Muhme und der Köhler schrien beide leise auf, und dieser neigte sich tief vor dem Knaben und sprach: »Segen liegt in deinem Herzen.« Und darauf murmelte er leise etwas vor sich hin, wovon der Knabe nur den Anfang verstand:

»Öffnest Riegel, öffnest Klüfte,
öffnest Gräber, öffnest Grüfte ,...«

Das andere verstand er nicht mehr.

Doch sah er, daß vor der Truhe, darin er seine Gaben verwahrte, nun immer ein Teller mit Brot und ein kleiner Becher mit Quellwasser stand, und daß zur Neumondszeit der Köhler das Männlein heimlich in ein seidenes Tuch aus des Knaben Besitz kleidete. Doch fragte er nicht und meinte nur, daß der Köhler wohl wissen werde, was sich in solchen Dingen gezieme.

In diesem Jahr, als der alte Diener wieder vor dem Königskind kniete, rührte er mit seinen Fingerspitzen behutsam an den Goldreif, der nun nicht mehr um den Arm, sondern um das Handgelenk des Knaben ruhte und auch dort schon eng geworden war, so daß die alten Hände ihn nur langsam drehen konnten. »Es wird Zeit«, sagte er leise. »Wenn er sich nicht mehr drehen läßt, wird es Zeit ,...«

»Wozu Zeit?« fragte das Königskind.

»Daß du heimkehrst, Königskind.«

»Wo ist heim?«

»Wo die Armen und die Gräber warten, in der toten Stadt.«

Da war es dem Knaben unheimlich, und er fragte nicht mehr.

An seinem siebzehnten Geburtstag aber nahm am Morgen der Köhler behutsam seine linke Hand zwischen seine großen, schwarzen Hände und drehte leise an dem schmalen Goldreif. Und als er sich nun nicht mehr bewegen ließ, sah er ihn bekümmert an, führte ihn zu der Truhe, wo die Gaben lagen und sagte: »Nimm die Wurzel heute an dich, verbirg sie in deinem Kleid und gehe tief in den Wald.«

Der Knabe gehorchte, wusch den Meilerruß von seinen Händen, nahm das Männlein und ging in Gedanken verloren weiter und immer weiter in den dunklen Wald hinein. Der Himmel über den hohen Wipfeln war blau, und die Vögel sangen wie sonst, aber es war dem Knaben seltsam ums Herz, eng und wieder weit, und als er den Weg wiedererkannte, beschloß er, zu der Hütte der alten Frau zu gehen, der er das Holz getragen hatte, und sie zu fragen, was es mit ihm sei.

Aber so genau er den Weg erkannte und selbst die hohe Tanne, die über dem niedrigen Dach gestanden hatte, fand er von der Hütte keine Spur, sondern statt ihrer stand eine graue Felswand da, mit Efeu bewachsen, und er rieb sich verwundert die Augen, als träume er.

Endlich setzte er sich mit dem Rücken gegen den grauen Stein, blickte zu den hohen Wipfeln auf und drehte die Wurzel spielend und gedankenlos in den Händen. Die Sonne schien auf seine nackten Füße, ganz fern glaubte er das Lachen des Schwarzspechtes zu vernehmen, und so blieb er lange, sah das Antlitz seiner Mutter vor sich, fühlte wieder ihre Tränen auf seinem Scheitel und blieb so, bis seine Füße wieder im Schatten waren.

Da richtete er sich auf, indem er beide Hände hinter sich gegen den Felsen stützte, wollte aufstehen, aber im selben Augenblick, da seine Rechte mit der Wurzel, die er noch hielt, den Stein berührte, gab es einen leise klingenden Laut, der Stein tat sich auf, und das erschrockene Königskind, das aufgesprungen war und sich umgewendet hatte, erblickte den Eingang zu einer tiefen Höhle, die sich weit in das Innere der Erde erstreckte und die von kleinen, zierlich geschmiedeten Lampen erleuchtet war.

Im Eingang aber stand die kleine Gestalt eines Zwerges, alt und mit weißem Bart, der hatte eine Lampe im Gürtel und neigte sich tief, ohne die spitze Mütze abzunehmen. »Tritt ein«, sagte er freundlich, »wir warten deiner.«

Es war dem Königssohn wie in einem Traum, aber er folgte gehorsam, und als er eingetreten war, schloß die Felswand sich lautlos hinter ihm. Dämmerung lag in dem tiefen Gewölbe, aber jede der vielen Kammern rechts und links des Ganges war von einer kleinen Lampe erhellt, und bei jeder Lampe saß einer der Zwerge und trieb sein kunstvolles Handwerk. Einige waren Schmiede, und andere setzten Edelsteine in kunstvolle Fassungen, und wieder andere nähten kleine Gewänder oder fertigten Bergschuhe an. Keiner von ihnen war müßig, und alle neigten sich stumm vor dem Königskind, sobald es vorüberkam.

Als sie alles gesehen hatten, auch die niedrige Halle, in der die Zwerge zu essen pflegten, setzte der kleine Führer sich auf eine niedrige Truhe und sagte: »Du kannst wieder ans Tageslicht, sobald dich darnach verlangt, und wir werden dir Geschenke auf den Heimweg geben. Aber du kannst auch tagsüber bei uns bleiben, daß wir dich alles lehren, was wir wissen. Denn einem König ist es gut, mehr zu können als seine Krone zu tragen und das zu sprechen, was die Menschen Recht nennen.«

Da wollte der Knabe gerne bleiben und eines der Handwerke nach dem anderen lernen, und so wurde es beschlossen. Und von da ab ging er jeden Morgen in die Felswand hinein und am Abend wieder zur Köhlerhütte zurück, und da niemand ihn fragte, so sprach er auch nicht von seinen Erlebnissen. Aber da der Köhler einmal im Vorbeigehen wie zu sich selbst sagte: »Und immer höflich und wohlgesittet muß man zu kleinen Leuten sein«, so wußte der Knabe, daß ihm nichts verborgen geblieben war, und war es zufrieden.

So ging es ein ganzes Jahr lang; und es gefiel dem Knaben wohl, zu schweigen und zu lernen. Denn die Zwerge waren sehr schweigsame Leute, nur auf ihre Arbeit bedacht und daß er alles sorgsam lerne, und auch bei dem Mittagsmahl in der niedrigen Halle erzählte wohl einer eine Geschichte aus versunkener Zeit, aber die anderen hörten schweigend zu, und nur ihre Bärte bewegten sich, wenn sie zustimmend nickten. Doch war dem Knaben wohl unter den stillen, kleinen Leuten, und oft meinte er, er würde gern für immer bei ihnen sein, ein Tagwerk unter der fleißigen Hand, den stillen Weg durch den Wald vor sich und einen tiefen, traumlosen Schlaf in der Hütte am Meiler.

Aber als das Jahr vergangen war, genau auf den Tag, fand er am Morgen die kleinen Kammern verlassen und alle Zwerge in der Halle versammelt. Sie sahen feierlich vor sich hin, und dann sagte der älteste von ihnen: »Deine Lehrzeit ist nun beendet, und länger als ein Jahr darf kein Menschenkind bei uns sein. Zum Lohn aber, weil du fleißig und still und nicht neugierig warst, darfst du dir etwas von dem wünschen, was wir haben, und es mitnehmen auf deinen Erdenweg.«

Und nun führten sie ihn in die große Schatzkammer, wo Gold und Edelsteine gehäuft waren, kunstvolles Spielzeug, Schwerter und geflochtene Panzer, so daß ihm die Augen übergingen.

Aber zuletzt hingen seine Blicke nur an einem goldenen Käfig, der war unter der Decke aufgehängt, und in ihm saß ein Vogel von wunderbarer Schönheit, mit einem langen Schweif, und alle Farben des Himmels und der Erde waren leuchtend auf sein Gefieder gestreut.

»Was ist das für ein Vogel?« fragte er leise.

Da schwiegen die Zwerge zuerst und sahen lange vor sich hin, aber dann sprach der älteste: »Dieser Vogel heißt der Vogel ›Niemalsmehr‹, und er war das Letzte, was Adam und Eva sahen, als sie aus dem Paradiese gingen. Er saß auf dem hohen Tor, zu Häupten des Engels mit dem feurigen Schwert, und als die ersten Menschenkinder von dannen gingen, flog er mit ihnen und sang sein trauriges Lied, das nur aus drei Tönen besteht. Und das Lied hieß ›Niemals mehr‹. Und wenn er heute auf die Erde käme und sänge vor jemandem, dem er sich zugesellt, so würde dieser, was er gerade bei dem Liede tut oder leidet oder wünscht oder verlangt, dieses zum letztenmal tun oder leiden, wünschen oder verlangen, und dann niemals mehr. Du siehst wohl, daß es eine schwere Gabe ist, die du verlangst, und daß sie eigentlich in keine Menschenhand gehört, aber was wir versprochen haben, soll auch gehalten werden. Doch darfst du ihn nur zur Miete bekommen, und wenn er das Seinige getan hat, wird er sich von selbst aufheben und zu uns zurückkehren. Er braucht weder Trank noch Speise, nur jeden Morgen mußt du vor seinen Käfig treten und sprechen: ›Ich armer, sündiger Mensch bitte dich, daß du schweigst oder singst, wie Gott es will.‹ Präge es dir gut ein und vergiß es nicht!«

Da bedankte sich der Knabe sehr, nahm Abschied von allen Zwergen, trug den goldenen Käfig in seiner Hand und trat aus der Felswand hinaus in den grünen, sonnigen Wald.

Die Muhme verwunderte sich über alle Maßen, aber der Köhler tat wieder nur so, als habe er alles voraus gewußt, doch am Abend saß er seufzend vor dem Herdfeuer und murmelte so vor sich hin, und der Knabe hörte, daß es wie »Zeit ,... Zeit ,...« klang. Und immer wieder »Zeit ,... Zeit ,...«

Und als die Muhme zur Ruhe gegangen war, faßte er sich ein Herz und fragte den Köhler, was er meinte. Da sah dieser ihn bekümmert an und stieß große Wolken aus seiner Pfeife, aber endlich sagte er: »Es ist eine Botschaft gekommen, daß es nun Zeit für dich ist, mich zu verlassen. Morgen in der Frühe sollst du den Tannenzapfen nehmen, das goldene Haar, die Springwurzel und deinen Vogel, und sollst dich aufmachen, immer der Sonne entgegen, wo sie aufgeht. Dann wirst du in eine große Stadt kommen, die nennen sie die Stadt der Toten. Da wirst du Menschen sehen, die sind scheu und traurig, aber dich werden sie wohl aufnehmen. Du sollst sie nach dem alten Diener fragen, und er wohnt neben einem verlassenen Garten. Und er wird dir alles sagen, was du zu wissen hast.«

Das war das Längste, was der Köhler in seinem Leben jemals gesagt hatte, und darauf streute er Asche über das Feuer und ging zu seinem Meiler.

Am Morgen aber nahm der Königssohn Abschied von den beiden, bedankte sich für alle Guttat und versprach, ihrer nicht zu vergessen.

Er kam ohne Gefahr durch die große Heide, die sich gen Sonnenaufgang erstreckte. Aber am dritten Tage brach aus einem Gehölz ein Rudel Wölfe heraus, die stürzten sich in der Spur des ältesten auf ihn. Kein Baum stand da, auf den er sich hätte retten können, und keine Höhle, die ihn verborgen hätte. Den ersten erschlug er mit der kleinen Axt, die er im Gürtel trug, und die anderen zerrissen den Getöteten sofort in Stücke. Aber er hatte noch nicht das Blut von der Schneide gewischt, da waren sie schon wieder über ihm, und er erschlug den zweiten. Dann aber erinnerte er sich der alten Frau, zog den Tannenzapfen aus seinem Kleide und warf ihn in die Höhe. Und siehe, im selben Augenblick verwandelte der Zapfen sich in die Last Holz, die die Alte gesammelt hatte, und jeder Knüppel stürzte sich auf einen der Wölfe und schlug ihn solange, bis er tot zur Erde fiel. Und dann lag wieder nur der braune Zapfen still in der Heide.

Da neigte sich der Königssohn in der Richtung des großen Waldes und sagte: »Ich danke dir.«

Und wieder nach drei Tagen sah er eine Reiterschar, die kam in einer Staubwolke auf ihn zugestürmt, und der vorderste rief: »Was trägst du da Blitzendes in der Hand?«

Aber es war der goldene Käfig mit dem Vogel »Niemalsmehr«.

Da verlangten sie beides von ihm, und als er sich weigerte, hoben sie die Lanzen, und wieder schlug er den ersten mit dem kleinen Beil. Dann hielt er den Käfig mit dem Vogel vor seine Brust, daß er sich für eine Weile schützte, und schlang mit der rechten Hand das goldene Mähnenhaar um sein linkes Handgelenk.

Und im selben Augenblick stand das Pferd von der Köhlerhütte bei ihm und neigte sich so tief, daß er in den goldenen Sattel steigen konnte, und wie ein Sturmwind brauste es davon, durch die erschreckten Reiter hindurch, und hielt nicht eher an, als bis die Türme des Königspalastes am Horizont zu sehen waren. Da neigte es sich wieder, und kaum hatte der Königssohn seine Hand dankend um seine Nüstern gelegt, da löste es sich auf in der abendlichen Luft, und keine Spur war von ihm in der Heide zu sehen.

Da neigte sich der Königssohn in der Richtung des großen Waldes und sagte: »Ich danke dir.«

Es dunkelte schon, als er die große Stadt betrat, aber das Abendrot warf noch einen hellen Schein über die Dächer, und er sah sich verwundert um, da alles ihm fremd und unerhört war nach seinem langen Leben im dunklen Walde. Nur daß das Herz schwer wurde, als er die Zinnen des Palastes sah, und daß ihm war, als hätte er dies schon alles einmal im Traume gesehen.

Niemand war auf den Straßen und Plätzen zu sehen, nur das Abendrot lag still auf aller Verlassenheit. Da ging er langsam weiter, bis er von einem Hof den Klang einer Axt vernahm, mit der Holz gespalten wurde. Da trat er leise näher und sah einen alten Mann. Vor dem verneigte er sich und fragte nach dem alten Diener, der an einem verlassenen Garten wohne.

Der Mann erschrak so, daß er die Axt fallen ließ. Dann starrte er ihn an, als wäre er ein Geist, fiel vor ihm auf die Knie, küßte seine Hände und sagte weinend: »O mein junger König und Herr! Bist du von den Toten auferstanden?«

Der Knabe verstand ihn nicht und stand verwirrt da, bis die Frau und die Kinder des Mannes aus dem Hause kamen. Die taten ebenso mit ihm und zogen ihn dann schnell ins Haus, damit er dort die Dunkelheit erwarte. Sie baten ihn, mit seinen Fragen zu warten, bis sie ihn zu dem Diener geführt haben würden, aber sie wuschen ihm die Füße und sahen ihn immerzu in Tränen und Seligkeit an. »O Königin«, schluchzte die Frau, »o vielliebe Herrin, die du ihn geboren hast ,...«

In der Nacht führten sie ihn dann um die Stadt herum zu einem verlassenen Garten, der war von einem süßen und wunderbaren Blumenduft erfüllt, und dort stand die Hütte, an deren Tür sie leise klopften. Als der alte Diener öffnete, gingen sie schnell und heimlich davon.

Da saß nun der Knabe am Herdfeuer und vernahm die Geschichte seiner Mutter und seiner Brüder und wie er auf wunderbare Weise gerettet worden war. Und ließ sich zu den Gräbern führen und legte die Stirn in die blühenden Blumen und wünschte zunächst, daß auch er dort unten liegen könnte.

Aber dann erkannte er aus den Worten des Dieners, wie die Stadt und das ganze Land niemals an seinen Tod geglaubt hätten und wie nur die Hoffnung auf seine Wiederkehr die Stadt der Toten am Leben erhalten hätte. Die Hoffnung auf Wiederkehr und diejenige auf Rache.

»Was ist Rache?« fragte der Königssohn.

Und dann schüttelte er leise den Kopf. Nein, dazu sei er wohl nicht bewahrt worden, aber dazu wohl, daß Recht wieder Recht werde und Gewalt aufhöre, die Armen in den Staub zu beugen. Darauf sah er lange den Vogel an, der in seinem goldenen Käfig schlummerte, und sagte endlich, er glaube nun zu erkennen, wie gut die Zwerge es mit ihm gemeint hätten.

Er hielt sich nun stiller, als man von ihm erwartet hatte, und das erste, was er tat, war, daß er den wüsten Garten umzugraben und anzupflanzen begann, und so gesegnet war seine Hand, daß schon ein paar Wochen später überall die Blumen aus der Erde kamen und die ersten Früchte von der niedergelegten Mauer niederhingen. Allen denen aber, die zu jeder Nacht zu ihm kamen, um ihn zu begrüßen, sagte er, daß es noch nicht Zeit sei und sie sich in Geduld zu fassen hätten.

Doch war nicht zu vermeiden, daß bei aller Vorsicht und Treue ein dunkles Gerücht allmählich zum König gelangte, daß ein fremder Jüngling in dem verfemten Garten lebe und daß er einen seltsamen bunten Vogel in einem goldenen Käfig besitze. Und da jene blutige Tat vor dreizehn Jahren niemals mehr aus seinem Gedächtnis geschwunden war, erschrak er und schickte seinen Kämmerer mit einem Teil der Leibwache aus, daß sie den Fremden mitsamt dem bunten Vogel zu ihm führten.

Er saß auf seinem Thron, finster und bleich, seine zweite Gemahlin neben sich, als der Königssohn die Halle betrat. Dieser trug den Käfig in der Hand, neigte sich und trat ruhig vor die Stufen des Thrones.

Auf die Frage, wer er sei und woher er komme, erwiderte er, daß er seinen Namen nicht wisse und daß er aus einem großen Walde komme.

Woher er den Goldreif an seinem Handgelenk habe?

Das sei ein Reif des Blutes, erwiderte der Knabe, und mehr habe man ihm nicht gesagt.

Was das für ein Vogel sei?

Das sei der Vogel »Niemalsmehr«, und es heiße, daß er aus dem Paradiese komme.

Da lachte die Königin spöttisch, aber der König stützte das Kinn in seine rechte Hand und sagte: »Da du einen Garten in Besitz genommen hast, der dir nicht gehört, und da du in meine Stadt gekommen bist, ohne um Erlaubnis zu fragen, so sollst du, ehe ich dich an Leib und Leben strafe, den Vogel mit dem Käfig hier lassen, als ein Pfand, daß du nicht fliehen wirst.«

Der Knabe verneigte sich, sagte, er sei es zufrieden, nur müsse er an jedem Morgen wiederkommen und zu dem Vogel sprechen, sonst würde er sterben.

Das wurde ihm gewährt, und so verließ er den Palast.

Am Abend aber, nachdem der König den ganzen Tag schweigend und finster in seinen Gemächern verweilt hatte, befahl er, ein großes Fest zu rüsten, zu Ehren des Boten aus dem Paradiese.

Und als alle Großen des Reiches um die Tafel saßen und sich verwunderten, daß nichts auf ihr zu sehen war als eine Silberschale mit Erde und ein Silberbecher mit Wasser, drehte der König den Zauberring an seiner Hand, und im Augenblick verwandelte die Erde in der Schale sich in die herrlichsten Speisen und Früchte und das Wasser im Becher in duftenden Wein, der füllte goldene Gefäße und Trinkschalen, und dazwischen lagen Blumen über das weiße Tafeltuch verstreut, daß die Gäste vor Freude in die Hände klatschten und dem König jubelnd zuriefen.

Dieser lachte und befahl, auch dem Vogel von den Früchten zu reichen, damit er sehe, was des Königs Paradies vermöge.

Aber kaum hatte der Kämmerer eine Schale mit Früchten gefüllt und war aufgestanden, um sie zu dem Vogel zutragen, der abseits der Tafel auf einer hohen Marmorsäule saß, als ein leiser klagender Flötenruf die weite Halle erfüllte, aus drei Tönen bestehend, die in einer schmerzlichen Folge langsam niederfielen, leise, aber von solcher Gewalt, daß die Flammen der tausend Kerzen zu flackern begannen.

Und im gleichen Augenblick versanken Speisen, Früchte, Blumen und Wein, wie ausgelöscht von einer unsichtbaren Hand, und auf der leeren Tafel stand nichts als eine Schale mit Erde und ein Becher mit Wasser. Der König hatte sich halb erhoben von seinem Sitz, starrte mit erloschenen Augen auf die verödete Tafel und drehte mit zitternder Hand den Ring an seinem Finger. Aber soviel er drehen mochte, das Wunder versagte sich, die Tafel blieb leer, und die Gäste saßen da, die Hände noch erhoben, in denen sie Speise oder Trank gehalten hatten.

»Niemals mehr ,...«, flüsterte eine bebende Stimme, und dann schlichen die Gäste sich lautlos davon. Die Vorhänge an den Türen schlugen wieder zusammen, die Kerzen brannten wieder hell und still, und der König und die Königin saßen über der weißen, leeren Tafel wie über einem Leichentuch.

»Töte ihn!« flüsterte die Königin, aber der König hörte nicht.

Und von da an verwandelte sich jede Speise an des Königs Tisch, die die Köche und Pastetenbäcker auftrugen, in Erde und jeder Wein, den der Mundschenk einfüllte, in Wasser.

Der Knabe aber erschien an jedem Morgen in der Halle des Palastes, neigte sich vor dem Vogel und sagte leise: »Ich armer, sündiger Mensch bitte dich, daß du schweigst oder singst, wie Gott es will.«

Und das Volk stand nun mitunter am Ende des weiten Platzes vor dem Palast und blickte schweigend und lange zu den leeren Fenstern empor, hinter denen eine unsichtbare Hand zu richten begonnen hatte.

Nach einer Woche aber befahl der König wieder, die Großen des Reiches auf den Abend zu laden und den fremden Knaben dazu. Die Tafel war nicht gedeckt, und die Großen standen hinter dem Thron des Königs und warteten schweigend auf den Knaben.

Als dieser aber eintrat und ruhig auf den Thron zuzuschreiten begann, hob der König das Zauberschwert, das nackt auf seinen Knien gelegen hatte, und warf es in die Luft, zum Zeichen, daß es schlagen sollte. Aber während es sich gehorsam erhob und dann auf den Knaben blitzend niederstürzte, erfüllte der leise, klagende Flötenruf von neuem die weite Halle, so daß die Flammen der tausend Kerzen zu flackern begannen. Da zerbrach das Schwert mitten in der Luft, und die Stücke fielen klirrend auf den weißen Marmor des Fußbodens.

Der Knabe stieß sie mit dem Fuß zur Seite, verneigte sich vor den Stufen des Thrones und verließ langsam die totenstille Halle.

»Niemals mehr ,...«, flüsterte eine bebende Stimme, und wieder schlichen die Gäste sich lautlos davon. Die Vorhänge an den Türen schlugen wieder zusammen, die Kerzen brannten wieder hell und still, und der König und die Königin saßen über den tausend stillen Flammen wie in einem Totensaal.

In der Nacht wurde der König sehr krank, und keiner der Ärzte wußte ein Mittel gegen seinen Schmerz. Da befahl er, den Knaben wieder vor sich zu rufen, und fragte ihn mit heiserer Stimme: »Was ist es, das du an jedem Morgen zu dem Vogel sprichst?«

Und der Knabe wiederholte die Worte, die er in der Halle der Zwerge vernommen hatte: »Ich armer, sündiger Mensch bitte dich, daß du schweigst oder singst, wie Gott es will.«

Da befahl der König ihm, dem Vogel zu sagen, daß er nie mehr singe.

»Das kann ich nicht, und das will ich auch nicht«, erwiderte der Königssohn.

»Weshalb willst du das nicht?«

»Wer das Recht bricht, wird selbst gebrochen werden, und wer Blut vergießt, des Blut wird wieder vergossen werden!«

Der König schwieg, und nach langer Zeit sagte er: »So bitte wenigstens, daß ich wieder gesund werde und lachen und schlafen kann wie in alter Zeit.«

Aber als er das gesagt hatte, klang von der fernen Halle, durch alle Türen und Riegel hindurch, der klagenden Flötenruf bis an das prunkvolle Krankenbett des Königs, und er verhüllte sein Haupt mit den Kissen und stöhnte vor Qual.

Und von diesem Morgen ab hörte man den Vogel jede Stunde sein trauriges Lied singen, und er saß nun auf der höchsten Zinne des Palastes, so daß sein Ruf weithin über die große Stadt ging. Denn es hatte der König gleich am Morgen befohlen, den Vogel zu töten, aber als die Knechte gekommen waren, hatten die goldenen Stäbe des Käfigs sich geöffnet, und der Vogel hatte sich in seinem blitzenden Gefieder aufgehoben und saß nun über der Stadt, wie ein funkelndes Juwel über einer ungeheuren Krone.

Und wenn der König zu trinken begehrte gegen seinen Fieberdurst, so sang der Vogel. Und wenn der König zu sprechen begann, so sang er. Und wenn er verlangte, daß man den Schweiß von seiner glühenden Stirn wische oder daß man ihm ein Stück Brot in Wein reiche, oder daß man die Fenster weit öffne, weil er ersticke: immer sang der Vogel. Und so geschah es, wie die Zwerge verkündet hatten, daß derjenige, dem er sich zugeselle, was er gerade bei dem Liede tue oder leide, wünsche oder verlange, dieses zum letzten Male tun oder leiden, wünschen oder verlangen werde.

Das Volk aber stand nun vom Morgen bis zum Abend auf dem weiten Platz vor dem Palast, sah den Vogel in der Sonne funkeln, hörte sein trauriges Lied immer öfter sich wiederholen und gedachte jener Stunde, in der das Blut von dem Eichenblock heruntergetropft war und die ferne Stimme zum erstenmal aus den Wäldern gerufen hatte.

Am Abend aber ließ der König sich von seinen Großen auf den Söller tragen, stand dort mühsam und gestützt im hellen Abendschein, verfluchte das Volk und stürzte sich in sein Schwert.

Da sahen alle, wie der Vogel mit einem hellen Ruf sich in die Lüfte erhob, einmal über dem Palast kreiste und dann in das Abendrot hineinflog, immer weiter und weiter, und nur die Farben des sterbenden Himmels überglühten ihn, bis er wie ein funkelnder Stern gen Untergang erschien und dann verschwand.

Da zog das Volk zu dem blühenden Garten, beugte seine Knie vor dem Königssohn, der an der Mauer stand und in das Abendrot blickte, küßte seine Hände und huldigte ihm und trug ihn auf den Schultern zu dem verlassenen Palast. Und wie sie in die Halle traten, brannten wie sonst die tausend stillen Kerzen. Die Königin und alle Großen des Reiches standen gebunden vor den Stufen des Thrones, und vor ihnen standen schweigend eine alte Frau, ein goldfarbenes Pferd und ein alter Zwerg mit einem grauen Bart, der hielt den goldenen Käfig des Vogels in der Hand.

Und sie neigten sich vor dem jungen König, und die alte Frau sagte: »Gib uns nun das Unsrige wieder, denn du bedarfst seiner nicht mehr. Du bedarfst nichts als eines reinen Herzens, und das hast du von deiner Mutter empfangen. Bewahre es gut und lebe wohl!«

Da zog der junge König den Tannenzapfen und das goldene Haar aus seinem Kleid, reichte es ihnen und strich einmal mit der Hand über den goldenen Käfig.

Und darnach grüßten die drei ihn und gingen durch die Halle und die breite Treppe hinunter, und die Gebundenen folgten ihnen schweigend nach, und noch lange hörte man ihre traurigen Schritte auf den abendlichen, verlassenen Straßen der Stadt, bis sie sich in der Heide und der Nacht immer ferner verloren.

* * *


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