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22.
Der Kampf im Rathaus

Als Asano und Graham zu den Ruinen um das Rathaus dahineilten, sahen sie überall die Aufregung des Volkes sich erheben. »In eure Bezirke! In eure Bezirke!« Überall eilten Männer und Frauen in Blau von unbekannten, unterirdischen Beschäftigungen die Treppen des Mittelwegs herauf; an einer Stelle sah Graham ein Arsenal des Revolutionskomitees von einer Menge schreiender Leute belagert; an einer anderen ein paar Männer in der verhaßten gelben Uniform der Arbeitspolizei, von einem wachsenden Haufen verfolgt, jäh den schnellen Weg entlangfliehen, der in der entgegengesetzten Richtung lief.

Die Rufe: »Auf eure Posten!« wurden schließlich zu einem kontinuierlichen Schreien, als sie sich dem Regierungsquartier näherten. Viele von den Rufen waren unverständlich. »Ostrog hat uns verraten,« brüllte einer immer und immer wieder mit heiserer Stimme und donnerte Graham diesen Refrain ins Ohr, bis er ihn verfolgte. Dieser Mensch blieb auf dem schnellen Weg dicht neben Graham und Asano und rief den Leuten zu, die auf den unteren Plattformen wimmelten, an denen er vorbeistürmte. Sein Ruf über Ostrog wechselte mit unverständlichen Befehlen ab. Schließlich lief er springend hinunter und verschwand.

Grahams Geist war von dem Getöse erfüllt. Seine Pläne waren unbestimmt und ungeformt. Er hatte ein Bild von einer beherrschenden Stellung vor Augen, von der aus er die Massen anreden konnte, ein anderes, wie er Ostrog gegenübertrat. Er war voller Wut, und von gespannter Muskelaufregung; seine Hände waren geballt, seine Lippen zusammengepreßt.

Der Weg zum Rathaus durch die Trümmer war unpassierbar, aber Asano wußte dieser Schwierigkeit zu begegnen und nahm Graham auf das Grundstück des Zentralpostamts. Das Postamt arbeitete nominell, aber die blaugekleideten Austräger bewegten sich schläfrig oder waren stehen geblieben, um durch die Bögen ihrer Galerien auf die rufenden Leute zu blicken, die draußen vorüberliefen. »Jedermann auf seinen Posten! Jedermann auf. seinen Posten!« Hier gab Graham sich auf Asanos Rat zu erkennen.

Sie fuhren auf einer Kabelwiege zum Rathaus hinüber. Schon in der kurzen Zwischenzeit seit der Kapitulation des Rats war im Aussehen der Trümmer eine große Veränderung bewirkt. Die speienden Kaskaden der gebrochenen Seewasserleitungen waren eingefangen und bezwungen, und riesige provisorische Röhren liefen oben auf einem gebrechlich aussehenden Stützbau hin. Der Himmel war durchschnitten von wiederhergestellten Kabeln und Drähten, die dem Rathaus dienten, und links von dem weißen Bau sprang eine Masse neuen Bauwerks mit Kranen und anderen Baumaschinen in voller Tätigkeit hervor.

Die Gleitwege, die sich über dies Gebiet zogen, waren restauriert, obgleich sie unter offenem Himmel liefen. Dies waren die Wege, die Graham in der Stunde seines Erwachens vor noch nicht neun Tagen von dem kleinen Balkon aus gesehen hatte, und die Halle seines Starrkrampfs lag auf der ferneren Seite, wo jetzt formlose Haufen zertrümmerten und zerschmetterten Mauerwerks aufgetürmt lagen.

Es war schon heller Tag, und die Sonne schien strahlend. Aus ihren großen Höhlen blauen elektrischen Lichtes kamen die schnellen Wege voller Volksmassen herangestürmt, die von ihnen niederströmten und sich immer dichter über dem Trümmer-Wirrwarr der Ruinen sammelten. Die Luft war voll von ihrem Rufen, und sie drängten und schoben auf den zentralen Bau zu. Zum größten Teil bestand diese schreiende Masse aus formlosen Schwärmen, aber hier und dort konnte Graham sehen, daß sich eine grobe Zucht zu behaupten strebte. Und jede Stimme schrie in dem Chaos nach Ordnung. »Auf eure Posten! Jedermann auf seinen Posten!«

Das Kabel trug sie in eine Halle, die Graham als das Vorzimmer der Halle des Atlas erkannte, um dessen Galerie er vor Tagen mit Howard gegangen war, um sich eine Stunde nach seinem Erwachen dem verschwundenen Rat zu zeigen. Jetzt war der Raum, abgesehen von zwei Kabeldienern, leer. Diese Leute schienen ungeheuer erstaunt, als sie in dem Mann, der sich vom Kreuzsitz herabschwang, den Schläfer erkannten.

»Wo ist Helene Wotton?« fragte er. »Wo ist Helene Wotton?«

Sie wußten es nicht.

»Dann, wo ist Ostrog? Ich muß Ostrog sofort sprechen. Er hat mir nicht gehorcht. Ich bin zurückgekommen, um ihm die Dinge aus der Hand zu nehmen.« Ohne auf Asano zu warten, ging er quer durch einen Raum, stieg am anderen Ende die Stufen empor, zog den Vorhang beiseite und sah sich vor dem ewig ringenden Titanen.

Die Halle war leer. Ihre Erscheinung war sehr verändert, seit er sie zuerst gesehen hatte. Sie hatte in dem heftigen Kampf des ersten Ausbruchs schwer gelitten. Auf der rechten Seite der großen Figur war die obere Mauerhälfte fast zweihundert Fuß weit fortgerissen, und über die Lücke hatte man ein Stück von demselben glasigen Häutchen gezogen, das ihn bei seinem Erwachen umgeben hatte. Das dämpfte das Brüllen des Volkes draußen, wenn es auch nicht völlig ausschloß. »Posten! Posten! Posten!« schienen sie zu sagen. Dahinter sah man die Balken und Stützen der Metallgerüste, die sich je nach den Erfordernissen einer großen Schar von Werkleuten hoben und senkten. Eine träge Baumaschine mit hageren Armen aus rot angestrichenem Metall, die die noch bildsamen Blöcke mineralischen Teigs faßte und sauber an ihre Stelle schwang, erstreckte sich schlank über dieses grüngetönte Bild. Von ihr herab starrten noch ein paar Arbeiter auf die Menge unten. Einen Moment stand er still und sah diese Dinge an. Asano holte ihn ein.

»Ostrog«, sagte Asano, »wird in den kleinen Büros da hinten sein.« Der kleine Mann sah setzt fahl aus und seine Augen forschten in Grahams Gesicht.

Sie waren kaum zehn Schritt weit von dem Vorhang gegangen, als ein kleines Panel links vom Atlas aufrollte, und Ostrog, von Lincoln begleitet, gefolgt von zwei schwarz und gelb gekleideten Negern, erschien und ging quer durch den entfernten Winkel der Halle auf ein zweites Panel zu, das gehoben und offen war. »Ostrog,« rief Graham, und beim Klang seiner Stimme drehte sich die kleine Gesellschaft erstaunt um.

Ostrog sagte etwas zu Lincoln und kam allein herbei.

Graham war der erste, der sprach. Seine Stimme war laut und diktatorisch. »Was ist dies, was ich höre?« fragte er. »Holen Sie die Neger herbei – um das Volk niederzuhalten?

»Es ist nicht zu früh,« sagte Ostrog. »Sie sind seit dem Aufstand immer unbändiger geworden. Ich unterschätzte – –+«

»Wollen Sie sagen, diese verdammten Neger sind unterwegs?«

»Unterwegs. Schon so – Sie haben das Volk gesehen – draußen?«

»Kein Wunder! Aber – nach dem, was gesagt war. Sie haben zuviel auf sich genommen, Ostrog.«

Ostrog sagte nichts, sondern kam näher.

»Diese Neger dürfen nicht nach London kommen,« sagte Graham. »Ich bin Herr, und sie sollen nicht kommen.«

Ostrog warf einen Blick auf Lincoln, der mit seinen zwei Begleitern dicht hinter sich sofort auf sie zukam. »Warum nicht?« fragte Ostrog.

»Weiße Menschen müssen von weißen Menschen bewältigt werden. Außerdem –«

»Die Neger sind nur ein Werkzeug.«

»Aber das ist nicht die Frage. Ich bin der Herr. Ich gedenke, Herr zu sein. Und ich sage Ihnen, die Neger sollen nicht kommen.«

»Das Volk –«

»Ich glaube ans Volk.«

»Weil Sie ein Anachronismus sind. Sie sind ein Mann aus der Vergangenheit – ein Zufall. Sie sind vielleicht Eigentümer des halben Besitzes der Welt. Aber Sie sind kein Herr. Sie wissen nicht genug, um Herr zu sein.«

Er warf wieder einen Blick auf Lincoln. »Ich weiß jetzt, wie Sie denken – ich kann einiges von dem erraten, was Sie zu tun gedenken. Noch ist es nicht zu spät, Sie zu warnen. Sie träumen von menschlicher Gleichheit – von einer sozialistischen Ordnung – Sie haben all die abgebrauchten Träume des neunzehnten Jahrhunderts frisch und lebendig im Geist, und Sie möchten diese Zeit regieren, die Sie nicht verstehen!«

»Hören Sie!« sagte Graham. »Sie können es hören – ein Geräusch wie das Meer. Keine Stimmen, sondern eine Stimme. Verstehen Sie sie ganz?«

»Das haben wir sie gelehrt,« sagte Ostrog.

»Vielleicht. Können Sie sie lehren, es zu vergessen? Aber genug davon! Diese Neger dürfen nicht kommen.«

Es folgte eine Pause, und Ostrog sah ihm ins Auge.

»Sie kommen,« sagte er.

»Ich verbiete es,« sagte Graham.

»Sie sind unterwegs.«

»Ich will es nicht haben.«

»Nein,« sagte Ostrog. »So leid es mir tut, der Methode des Rates folgen zu müssen – Zu ihrem eigenen Wohl – Sie dürfen sich nicht mit – dem Aufruhr verbünden. Und jetzt, da Sie hier sind – Es war freundlich von Ihnen, hierherzukommen.«

Lincoln legte Graham die Hand auf die Schulter. Plötzlich wurde Graham klar, welchen ungeheuren Fehler er begangen hatte, daß er ins Rathaus gekommen war. Er wandte sich zu den Vorhängen, die die Halle vom Vorzimmer trennten. Die packende Hand Asanos hinderte ihn. Im nächsten Moment hatte Lincoln Grahams Mantel gefaßt.

Er drehte sich um, schlug Lincoln ins Gesicht, und sofort hatte ihn ein Neger an Kragen und Arm. Er rang sich los, sein Ärmel riß geräuschvoll auf, und er taumelte zurück, um von dem anderen Diener geworfen zu werden. Er fiel schwer auf den Boden und starrte auf die ferne Decke der Halle.

Er rief, wand sich herum, rang wild, packte einen der Diener am Bein, warf ihn hin und sprang auf die Füße.

Lincoln tauchte vor ihm auf und flog mit einem Schlag unter die Kieferspitze wieder hin und blieb liegen. Graham tat zwei Sätze und stolperte. Und dann lag Ostrogs Arm ihm um den Hals, er wurde nach hinten gerissen, fiel schwer hin, und seine Arme waren auf den Boden geheftet. Nach ein paar heftigen Anstrengungen hörte er zu ringen auf und blieb liegen und starrte auf Ostrogs schwer arbeitende Kehle.

»Sie – sind – ein Gefangener,« keuchte Ostrog frohlockend. »Sie – waren ein ziemlicher Narr – zurückzukommen.«

Graham wandte den Kopf und sah durch das unregelmäßige grüne Fenster in der Wand der Halle die Leute, die an den Baukrahnen gearbeitet halten, aufgeregt gegen das Volk unter ihnen gestikulieren. Sie hatten es gesehen!

Ostrog folgte seinem Blick und fuhr zusammen. Er rief Lincoln etwas zu, aber Lincoln rührte sich nicht. Eine Kugel zerschmetterte die Stuckskulpturen über dem Atlas. Die beiden Flächen durchsichtigen Stoffs, die sich über die Lücke erstreckt hatten, zerrissen, die Ränder der gerissenen Öffnung wurden dunkel, krümmten sich, liefen rasch auf das Rahmenwerk zu, und im Nu stand das Ratszimmer der Luft offen. Ein kalter Windstoß blies durch die Lücke herein und brachte einen Tumult von Stimmen aus den Trümmerräumen draußen mit, ein wildes Schreien: »Rettet den Herrn!« »Was tun sie dem Herrn?« »Der Herr ist verraten!«

Und dann wurde ihm klar, daß Ostrogs Aufmerksamkeit abgelenkt war, daß Ostrogs Griff nachließ, und indem er die Arme losriß, arbeitete er sich auf die Knie. Im nächsten Moment hatte er Ostrog zurückgeworfen, und er stand auf einem Fuß, seine Hand um Ostrogs Hals, und Ostrogs Hand in der Seite um seinen Nacken.

Aber setzt kamen vom Podium her Leute auf sie zu – Leute, deren Absichten er mißverstand. Er sah jemanden in der Ferne auf die Vorhänge des Vorzimmers zulaufen, und dann war Ostrog ihm entschlüpft, und diese Neugekommenen waren über ihm. Zu seinem unendlichen Erstaunen packten sie ihn. Sie gehorchten Ostrogs Rufen.

Er war schon ein Dutzend Meter weit geschleppt, ehe ihm klar war, daß es keine Freunde waren – daß sie ihn zu dem offenen Panel hinzerrten. Als er das sah, ruckte er zurück, er versuchte sich niederzuwerfen, er rief mit aller Kraft nach Hilfe. Und diesmal kamen Antwortrufe.

Der Griff an seinem Nacken ließ locker, und siehe! in der unteren Ecke des Risses der Mauer erschien erst eine, dann eine ganze Zahl kleiner, schwarzer Gestalten, die riefen und die Arme schwenkten. Sie kamen aus dem Riß in die leichte Galerie herabgesprungen, die in die stillen Zimmer führte. Sie liefen sie entlang, sie waren so nah, daß Graham die Waffen in ihren Händen sehen konnte. Dann schrie Ostrog dicht vor seinem Ohr den Leuten zu, die ihn hielten, und noch einmal rang er mit allen Kräften gegen ihre Bemühungen, ihn auf die Öffnung zuzuschleppen, die ihn aufzunehmen gähnte. »Sie können nicht herunter,« keuchte Ostrog. »Sie wagen nicht zu schießen. Es ist alles in Ordnung.« »Wir wollen ihn noch vor ihnen retten.«

Lange Minuten hindurch schien es Graham, dauerte dieser ruhmlose Kampf noch. Seine Kleider waren an einem Dutzend Stellen zerrissen, er war vom Staub bedeckt, auf seine eine Hand hatte man ihm getreten. Er konnte die Rufe seiner Helfer hören, und einmal hörte er Schüsse. Er konnte seine Kraft versagen fühlen, fühlte, daß seine Anstrengungen wild und ziellos waren. Aber es kam keine Hilfe, und sicher, unvermeidlich kam jene schwarze, gähnende Öffnung näher.

Der Druck auf ihm ließ nach und er arbeitete sich hoch. Er sah Ostrogs grauen Kopf zurückweichen und merkte, daß man ihn nicht mehr hielt. Er drehte sich um und prallte auf einen Mann in Schwarz. Eine der grünen Waffen krachte dicht neben ihm, ein Strahl stechenden Rauchs strich ihm übers Gesicht, und eine Stahlklinge blitzte auf. Der riesige Saal drehte sich um ihn.

Er sah keine drei Meter weit von seinem Gesicht einen Mann in Blaßblau einen der schwarz und gelben Diener erstechen. Dann lagen wieder Hände auf ihm.

Jetzt wurde er in zwei Richtungen gezogen. Es schien, die Leute riefen ihm zu. Er wollte verstehen und konnte nicht. Irgend jemand faßte ihn um die Schenkel, er wurde trotz seines kräftigen Widerstands gehoben. Plötzlich verstand er und rang nicht mehr. Er wurde auf die Schultern genommen und von der gähnenden Tür fortgetragen. Zehntausend Kehlen jubelten.

Er sah Leute in Blau und Schwarz hinter den fliehenden Ostrogiten herlaufen und feuern. Emporgehoben, sah er nun über die ganze Saalfläche unter dem Atlasbild, sah, daß er auf die Estrade in der Mitte des Raumes zugetragen wurde. Das ferne Ende der Halle war schon voller Leute, die auf ihn zuliefen. Sie sahen ihn an und jubelten.

Er merkte, daß ihn eine Art Leibwache umgab. Eifrige Leute um ihn riefen unbestimmte Befehle. Ganz nah sah er den Mann in Gelb mit dem schwarzen Schnurrbart, der ihn in dem großen Theater begrüßt hatte; er rief Anweisungen. Die Halle war schon gedrängt voll Volk, die kleine Galerie senkte sich unter einer schreienden Last, die Vorhänge am Ende waren fortgezogen, und das Vorzimmer war gedrängt voll zu sehen. Er konnte sich dem Mann neben ihm durch den Tumult ringsum kaum verständlich machen. »Wohin ist Ostrog?« fragte er.

Der Mann zeigte über die Köpfe auf die ferneren Panele auf der Seite gegenüber dem Riß. Sie standen offen, und bewaffnete Leute in blauen Kleidern mit schwarzen Schärpen liefen durch sie hindurch und verschwanden in die Gemächer und Gänge dahinter. Es schien Graham, als dringe ein Feuerlärm durch den Aufruhr. Er wurde in schwankender Kurve durch die große Halle zu einer Öffnung unter dem Riß getragen.

Er sah Leute mit einer Art roher Disziplin an der Arbeit, um die Menge von ihm abzuhalten, um rings um ihn einen offenen Raum zu schaffen. Er kam aus der Halle heraus und sah eine rohe, neue Mauer leer vor sich aufsteigen, überwölbt vom blauen Himmel. Er wurde auf seine Füße gesetzt; jemand faßte ihn am Arm und führte ihn. Er sah den Mann in Gelb dicht neben sich. Man führte ihn eine schmale Treppe aus Backsteinen hinauf, und dicht neben ihm erhoben sich die großen, rot angestrichenen Massen, die Krahne und Hebel und die leisen Motore der großen Baumaschine.

Er stand am Kopf der Treppe. Er wurde einen schmalen vergitterten Fußpfad entlang gezogen, und plötzlich öffnete sich vor ihm mit ungeheurem Schreien das riesige Ruinenamphitheater. »Der Herr ist mit uns! Der Herr! Der Herr!« Der Ruf fegte wie eine Welle über das Meer von Gesichtern vor ihm, brach sich an den fernen Ruinenklippen und kam in schreiender Brandung zu ihm zurück. »Der Herr ist auf unserer Seite!«

Graham sah, daß er nicht mehr von Leuten umgeben war, daß er auf einer kleinen, improvisierten Plattform aus weißem Metall stand, einem Teil der scheinbar gebrechlichen Gerüste, die die große Maste des Rathauses umgaben. Über der ganzen riesigen Ruinenfläche drängte und wirbelte das rufende Volk; und hier und dort tauchten und wirbelten die schwarzen Banner der Revolutionsgesellschaften und bildeten vereinzelte Kerne der Organisation im Chaos. Die steilen Mauer- und Gerüsttreppen hinauf, auf denen seine Befreier die Öffnung des Atlassaales erreicht hatten, hing eine feste Volksmenge, und kleine energische schwarze Figuren, die sich an Pfeiler und Vorsprünge klammerten, waren emsig bemüht, diese gedrängten Masten zur Bewegung zu bringen. Hinter ihm rang sich an einem höheren Punkt des Gerüstes eine Anzahl von Leuten mit den schlagenden Falten einer riesigen schwarzen Standarte empor. Durch den gähnenden Riß in den Mauern unter sich konnte er auf die gedrängten, aufmerksamen Mengen in der Atlashalle niederblicken. Die fernen Flugbühnen im Süden traten hell und lebhaft hervor, näher gebracht, wie es schien, durch eine ungewöhnliche Durchsichtigkeit der Luft. Von der mittleren Bühne stieg ein einzelner Aeropil empor, als wolle er den kommenden Aeroplanen entgegen.

»Was war aus Ostrog geworden?« fragte Graham; und während er noch sprach, sah er, daß aller Augen sich von ihm zum First des Ratsgebäudes hoben. Auch er blickte in der Richtung der allgemeinen Aufmerksamkeit empor. Einen Moment sah er nichts als die zackige Kante einer Mauer, die hart und klar vor dem Himmel stand. Dann erkannte er im Schatten das Innere eines Zimmers und erkannte mit einem Schreck die grüne und weiße Dekoration seines früheren Gefängnisses. Und sehr schnell durch diesen offenen Raum kam bis hart an den Rand der Trümmerklippe eine kleine weißgekleidete Gestalt, der zwei andere scheinbar kleinere Gestalten in Schwarz und Gelb folgten. Er hörte den Namen neben sich »Ostrog« rufen und wandte sich um, um eine Frage zu stellen. Aber er tat es nicht, denn ein anderer von denen, die bei ihm waren, tat einen erschreckten Ausruf, und ein hagerer Finger zeigte plötzlich. Er blickte hin, und siehe, der Aeropil, der von der Flugbühne aufgestiegen war, als er zuletzt in die Richtung geblickt hatte, flog auf sie zu. Der rasche, stetige Flug war ihm noch neu genug, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln.

Näher kam er und wurde rasch größer und größer, bis er über den weiteren Rand der Ruinen hinweggefegt war, und für die dichten Mengen unten in Sicht kam. Er senkte sich über den Raum und stieg wieder und flog zu Häupten hin, steigend, um von der Masse des Rathauses klar zu bleiben – eine wolkig durchscheinende Gestalt, durch deren Rippen der einsame Aeronaut herabsah. Er verschwand über der Himmelslinie der Ruinen.

Graham wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ostrog zu. Er machte Zeichen mit den Händen, und seine Diener brachen geschäftig die Mauer neben ihm ab. Im nächsten Moment kam der Aeropil wieder in Sicht, ein kleines Ding in weiter Ferne, und er kam in einer weiten Kurve herum und flog langsamer.

Dann plötzlich rief der Mann in Gelb: »Was machen sie? Was tun die Leute? Warum läßt man Ostrog da? Warum ist er nicht gefangen? Sie werden ihn aufnehmen – der Aeropil wird ihn aufnehmen! Ah!«

Dem Ausruf tönte ein Schrei aus den Trümmern Echo. Der rasselnde Laut der grünen Waffen trieb über den Abgrund zu Graham herauf, und als er hinabsah, sah er eine Anzahl schwarz und gelber Uniformen eine der Galerien entlang laufen, die unter dem Vorsprung, auf dem Ostrog stand, der Luft offen lagen. Sie feuerten im Laufen auf unsichtbare Leute, und dann tauchten ein paar blaßblaue Gestalten auf der Verfolgung auf. Diese winzigen, kämpfenden Gestalten machten den wunderlichsten Eindruck; sie sahen in ihrem Lauf aus wie kleine Modellsoldaten aus Blei. Dieser wunderliche Anblick eines aufgeschnittenen Hauses gab jenem Kampf zwischen Möbeln und Gängen ein Ansehen der Unwirklichkeit. Er war vielleicht zweihundert Meter von ihm entfernt, und ziemlich fünfzig über den Köpfen in den Ruinen unten. Die schwarz und gelben Leute liefen in einen offenen Bogen hinein, machten kehrt und feuerten eine Salve. Einer von der blauen Verfolgung, der hart auf den Rand vorschritt, warf die Arme in die Höhe, taumelte zur Seite, schien für Grahams Empfindung mehrere Sekunden lang über dem Rand zu hängen und stürzte kopfüber hinab, Graham sah ihn auf eine vorspringende Ecke aufschlagen, herausprallen, sich überschlagen und zwischen den roten Armen der Baumaschine verschwinden.

Und dann trat zwischen Graham und die Sonne ein Schatten. Er blickte auf, und der Himmel war klar, aber er wußte, der Aeropil war durchgeflogen. Ostrog war verschwunden. Der Mann in Gelb vor ihm sprang auf, eifrig und schweißbedeckt, zeigte und schrie.

»Sie landen!« rief der Mann in Gelb, »sie landen! Sagt den Leuten, auf ihn zu schießen. Sagt ihnen, auf ihn zu schießen!«

Graham verstand nichts. Er hörte laute Stimmen diese rätselhaften Befehle wiederholen.

Plötzlich sah er über den Rand der Ruinen den Bug des Aeropils herübergeglitten kommen und mit einem Ruck stille stehen. Im Nu verstand Graham, daß das Ding gelandet war, damit Ostrog darauf fliehen konnte. Er sah einen blauen Nebel aus der Tiefe emporsteigen und merkte, daß die Leute unter ihm jetzt auf den vorspringenden Steven feuerten.

Ein Mann neben ihm jubelte heiser auf, und er sah, daß die blauen Rebellen den Torweg genommen hatten, der noch einen Moment vorher von den Leuten in Schwarz und Gelb verteidigt war, und nun liefen sie in ununterbrochenem Strom den offenen Gang entlang.

Und plötzlich schlüpfte der Aeropil über den Rand des Rathauses und fiel. Er sank, indem er im Winkel von fünfundvierzig Grad überkippte, und sank so steil, daß es Graham schien, daß es vielleicht den meisten unten schien, als könne er sich unmöglich wieder erheben.

Er jagte so nah an ihm vorbei, daß er Ostrog sehen konnte, wie er, sein graues Haar im Winde, die Führstangen seines Sitzes gepackt hielt; daß er den weißen Aeronauten sehen konnte, wie er den Hebel herüberriß, der die Maschine ihre Führstangen entlangtrieb. Er hörte den unbestimmten Angstschrei unzähliger Menschen unten.

Graham packte das Gitter vor sich und keuchte. Die Sekunde schien eine Ewigkeit. Der untere Fächer des Aeropils ging um ein Haar an den Leuten vorbei, die unten schrien und kreischten und einander niedertraten.

Und dann hob er sich.

Einen Moment sah es aus, als könne er unmöglich von der Klippe gegenüber klar kommen, und dann, als könne er unmöglich vom Windrad klar kommen, das dahinter rotierte.

Und siehe! er war klar und schwang sich auf, noch seitlich gekippt, höher und höher in den windgefegten Himmel.

Die schwebende Angst des Moments machte einer Wut der Erbitterung Platz, als das wimmelnde Volk einsah, daß Ostrog ihm entgangen war. Mit verspätetem Eifer erneuerten sie ihr Feuern, bis sich das Rasseln zu einem Gebrüll verwob, bis das ganze Gebiet dunkel und blau wurde, und die Luft stechend vom dünnen Rauch ihrer Waffen.

Zu spät! Der Aeropil wurde kleiner und wendete sich und fegte anmutig zu der Flugbühne nieder, von der er erst so kurz aufgestiegen war. Ostrog war entkommen.

Eine Weile stieg aus den Ruinen ein wirres Gerede empor, und dann kehrte die allgemeine Aufmerksamkeit wieder zu Graham zurück, der hoch oben im Gerüst stand. Er sah die Gesichter des Volkes sich zugewandt und hörte ihren Jubel über seine Rettung. Aus dem Schlund der Wege herauf ertönte das Revolutionslied und breitete sich wie eine Brise über das wogende Meer von Menschen aus.

Die kleine Gruppe von Männern rings rief ihm Glückwünsche zu seiner Rettung zu. Der Mann in Gelb stand dicht neben ihm, mit gefaßtem Gesicht und leuchtenden Augen. Und das Lied stieg, lauter und lauter: eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei.

Langsam nur ging ihm die volle Bedeutung dieser Dinge für ihn auf, erkannte er den schnellen Wandel in seiner Stellung. Ostrog, der neben ihm gestanden hatte, so oft er bisher vor diese rufende Menge getreten war, war jetzt da hinten – als Gegner. Jetzt herrschte niemand mehr für ihn. Selbst das Volk ringsum, die Führer und Organisatoren der Menge blickten empor, was er tun würde, warteten, daß er handelte, erwarteten seine Befehle. Er war wirklich König. Seine Marionettenherrschaft war zu Ende.

Er war sehr bereit, zu tun, was man von ihm erwartete. Seine Nerven und Muskeln zitterten, sein Geist war vielleicht ein wenig wirr, aber er fühlte weder Furcht noch Zorn. Die Hand, auf die man getreten hatte, war heiß und pochte. Er war ein wenig nervös inbetreff seiner Haltung. Er wußte, er hatte keine Angst, aber ihn verlangte, nicht ängstlich auszusehen. In seinem früheren Leben war er oft bei bloßen Geschicklichkeitsspielen aufgeregter gewesen. Ihn verlangte nach sofortigem Handeln, er wußte, er durfte nicht zu sehr im einzelnen an die ungeheure Kompliziertheit des Kampfes denken, um nicht eben durch die Empfindung von seiner Kompliziertheit gelähmt zu werden. Da drüben jene viereckigen, blauen Formen, die Flugbühnen – das hieß Ostrog; gegen Ostrog kämpfte er für die Welt.


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