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9.
Das Volk marschiert

Er merkte, wie jemand seiner Aufmerksamkeit ein Glas klarer Flüssigkeit aufdrängte, blickte auf und entdeckte, daß es ein dunkler junger Mann in gelbem Gewande war. Er nahm die Dosis alsbald, und im Moment glühte er. Ein großer Mensch in einem schwarzen Kleid stand ihm an der Schulter und zeigte auf die halboffene Tür zur Halle. Dieser Mann rief ihm nah am Ohr, und doch war, was er sagte, durch den riesigen Aufruhr aus dem großen Theater undeutlich. Hinter dem Mann stand ein Mädchen in einem silbergrauen Kleid, das, wie Graham selbst in dieser Verwirrung sah, schön war. Ihre dunklen Augen waren voll Staunen und Neugier auf ihn geheftet, ihre Lippen zitterten geöffnet. Eine teilweise offene Tür erlaubte einen Blick in die volle Halle und ließ einen ungeheuren wilden Tumult herein, ein Hämmern, Klappen und Schreien, das hinstarb und neu begann und sich zu Donnerhöhe erhob und so all die Zeit, die Graham in dem kleinen Zimmer blieb, intermittierend fortdauerte. Er beobachtete die Lippen des Mannes in Schwarz und erriet, daß er eine schwerfällige Erklärung gab.

Er starrte einige Momente auf diese Dinge und stand dann unvermittelt auf; er faßte diesen rufenden Menschen am Arm.

»Sagen Sie mir!« rief er. »Wer bin ich? Wo bin ich?«

Die anderen kamen heran, um seine Worte zu hören. »Wer bin ich?« Seine Augen suchten in ihren Gesichtern.

»Sie haben ihm nichts gesagt!« rief das Mädchen.

»Sagen Sie es mir, sagen Sie es mir!« rief Graham.

»Sie sind der Herr der Erde. Sie besitzen die halbe Welt.«

Er glaubte nicht, daß er recht gehört hatte. Er widersetzte sich der Überzeugung. Er tat, als verstehe, als höre er nicht. Er erhob die Stimme von neuem. »Ich bin seit drei Tagen wach – seit drei Tagen gefangen gewesen. Ich nehme an, es findet ein Kampf zwischen gewissen Leuten in dieser Stadt statt – ist dies London?«

»Ja,« sagte der jüngere Mann.

»Und die, die sich in dem großen Saal mit dem weißen Atlas versammeln? Was geht das mich an? Irgendwie hat es mit mir zu tun. Warum, weiß ich nicht. Gifte? Mir scheint, während ich schlief, ist die Welt wahnsinnig geworden. Ich bin wahnsinnig geworden.«

»Wer sind diese Räte unter dem Atlas? Warum sollten sie versuchen, mich zu vergiften?«

»Um Sie bewußtlos zu halten,« sagte der Mann in Gelb.

»Um Ihr Dazwischentreten zu hindern.«

»Aber warum?«

»Weil Sie der Atlas sind, Sire,« sagte der Mann in Gelb. »Auf ihren Schultern liegt die Welt. Sie beherrschen sie in Ihrem Namen.«

Die Töne aus der Halle waren zu einer von einer einzelnen, eintönigen Stimme durchzogenen Stille erstorben. Jetzt plötzlich, auf diese letzten Worte unmittelbar folgend, kam ein betäubender Tumult, ein Brüllen und Donner, Jubel auf Jubel, heisere und schrille Stimmen, die sich schlugen und übersprangen, und solange das dauerte, konnten die Leute im kleinen Zimmer einander nicht schreien hören.

Graham stand da, und sein Intellekt klammerte sich hilflos an das, was er eben gehört hatte. »Der Rat,« wiederholte er leer; und dann griff er nach einem Namen, der ihm aufgefallen war. »Aber wer ist Ostrog?« sagte er.

»Das ist der Organisator – der Organisator des Aufstandes. Unser Führer – in Ihrem Namen.«

»In meinem Namen? – Und Sie? Warum ist er nicht hier?«

»Er – hat uns abgeordnet. Ich bin sein Bruder – sein Halbbruder, Lincoln. Er will, Sie sollen sich diesem Volk zeigen und dann zu ihm kommen. Deshalb hat er geschickt. Er ist auf dem Windfahnensamt und trifft Anordnungen. Das Volk marschiert.«

»In Ihrem Namen,« rief der jüngere Mann. »Sie haben geherrscht, zermalmt, tyrannisiert. Zuletzt war sogar –«

»In meinem Name! Mein Name! Herr?«

Der jüngere Mann wurde plötzlich in einer Pause des äußeren Donners hörbar, entrüstet und durchdringend, eine hohe, schrille Stimme unter seiner roten Adlernase und dem buschigen Schnurrbart hervor. »Niemand erwartete, daß Sie erwachen würden. Sie waren schlau. Die verdammten Tyrannen! Aber sie wurden überrumpelt. Sie wußten nicht, ob sie Sie narkotisieren, hypnotisieren oder töten sollten.«

Wieder beherrschte die Halle alles.

»Ostrog ist auf dem Windfahnenamt bereit. – Schon jetzt läuft ein Gerücht um, daß der Kampf beginnt.«

Der Mann, der sich Lincoln genannt hatte, trat dicht an ihn heran. »Ostrog hat den Plan fertig. Vertrauen Sie ihm. Wir haben unsere Organisationen bereit. Wir werden die Flugbühnen nehmen – Vielleicht tut er das schon jetzt. Und dann –«

»Dieses öffentliche Theater,« schrie der Mann in Gelb, »ist nur ein Kontingent. Wir haben fünf Myriaden gedrillter Leute –«

»Wir haben Waffen,« rief Lincoln. »Wir haben Pläne. Einen Führer. Ihre Polizei hat die Straßen verlassen und ist in den –« (unhörbar). »Jetzt oder nie. Der Rat schwankt – Sie können nicht einmal ihren gedrillten Leuten trauen –«

»Hören Sie das Volk, es ruft nach Ihnen!«

Grahams Geist war wie eine Mondnacht mit schnellen Wolken, bald dunkel und hoffnungslos, bald klar und gespenstisch. Er war Herr der Erde, er war ein Mann, naß von tauendem Schnee. Von all seinen schwankenden Eindrücken stellten die herrschenden einen Antagonismus dar; auf der einen Seite stand der Weiße Rat, mächtig, diszipliniert, gering an Zahl, der Weiße Rat, dem er gerade entgangen war; und auf der anderen ungeheure Mengen, gedrängte Massen unterschiedlosen Volkes, das seinen Namen schrie, das ihn den Herrn nannte. Die andere Seite hatte ihn gefangen gesetzt und beriet seinen Tod. Diese schreienden Tausende hinter der kleinen Tür hatten ihn befreit. Aber warum das so war, konnte er nicht verstehen.

Die Tür ging auf, Lincolns Stimme wurde fortgefegt und ertränkt, und ein Schwarm von Leuten folgte dem Aufruhr. Diese Eindringlinge kamen gestikulierend auf ihn und Lincoln zu. Die Stimmen draußen erklärten ihre klanglosen Lippen. »Zeigt uns den Schläfer, zeigt uns den Schläfer!« war der Refrain des Tumultes. Man schrie nach: »Ordnung! Stille!«

Graham blickte auf die offene Tür und sah ein hohes, viereckiges Bild von der Halle dahinter, einen schwankenden, unaufhörlichen Wirrwarr von gedrängten, schreienden Gesichtern, Männern und Frauen durcheinander, winkende blaue Gewänder, ausgestreckte Hände. Viele standen, ein Mann in dunkelbraunen Lumpen, eine hagere Gestalt, stand auf dem Stuhl und schwenkte ein schwarzes Tuch. Er sah das Staunen und die Erwartung in den Augen des Mädchens. Was erwarteten diese Leute von ihm? Er war sich dunkel bewußt, daß der Tumult draußen den Charakter geändert hatte, daß er irgendwie pochte, marschierte. Auch sein eigener Sinn war verändert. Eine Zeitlang erkannte er den Einfluß nicht, der ihn umformte. Aber ein Moment, der der Panik nahe kam, ging vorüber. Er versuchte, hörbar zu fragen, was von ihm verlangt werde.

Lincoln schrie ihm ins Ohr, aber dagegen war Graham taub geworden. Alle anderen, außer dem Mädchen, gestikulierten nach der Halle hin. Er merkte, was mit dem Aufruhr geschehen war. Die ganze Volksmenge sang zusammen. Es war nicht nur ein Lied, die Stimmen wurden von einem Strom von Instrumentalmusik zusammengefaßt und emporgetragen, einer Musik, wie der einer Orgel, einem verschlungenen Tongewebe, voll von Trompeten, voll von wehenden Bannern, voll vom Marsch und Aufzug beginnender Schlacht. Und die Füße des Volkes stampften den Takt – ein, zwei; eins, zwei!

Er wurde zur Tür gedrängt. Er gehorchte mechanisch. Die Kraft dieses Singens faßte ihn, rührte ihn auf, gab ihm Kühnheit. Die Halle öffnete sich vor ihm, ein ungeheures Wogen flatternder Farbe, die zur Musik schwankte.

»Schwenken Sie den Arm über sie hin,« sagte Lincoln. »Schwenken Sie den Arm über sie hin.«

»Dies,« sagte eine Stimme auf der andern Seite, »dies muß er haben.« Um seinen Hals schlangen sich Arme, die ihn in der Tür zurückhielten, und ihm fiel ein schwarzer, fein gefältelter Mantel über die Schultern. Er machte den Arm aus ihm los und folgte Lincoln. Er sah das Mädchen in Grau mit flammendem Gesicht und vorwärts weisender Geste dicht neben sich. Für den Moment wurde sie ihm, erregt und eifrig, wie sie war, zu einer Verkörperung des Liedes. Er tauchte wieder in den Alkoven hinaus. Sofort brachen bei seinem Erscheinen die steigenden Wogen des Singens und blitzten in einem Schaum von Rufen auf. Von Lincolns Hand geführt, ging er schräg über die Mitte der Bühne, die vor dem Volke lag.

Die Halle war ein riesiger und komplizierter Raum – Galerien, Balkone, breite Fluchten amphitheatralischer Stufen und große Bogen. Weit fort und hoch oben schien die Mündung eines riesigen Ganges zu liegen, der voll von ringenden Menschen war. Die ganze Menge wogte in gedrängten Massen. Aus dem Aufruhr sprangen einzelne Gestalten heraus, die ihn flüchtig beeindruckten und ihre Bestimmtheit wieder verloren. Nah bei der Bühne neigte sich eine wundervolle blonde Frau, die von drei Männern getragen wurde, das Haar quer übers Gesicht, einen grünen Stab in der Hand. Neben dieser Gruppe behauptete ein vergrämter Mann in blauer Leinwand seinen Platz im Gedränge mit Mühe, und dahinter schrie ein haarloses Gesicht, eine große Höhle zahnlosen Mundes. Eine Stimme rief jenes rätselhafte Wort »Ostrog«. Alle seine Eindrücke waren unbestimmt, abgesehen von der massiven Erregung jenes stampfenden Gesanges. Die Menge schlug den Takt mit ihren Füßen – eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei. Die grünen Waffen winkten, blitzten, neigten sich. Dann sah er die ihm Nächsten auf gleicher Höhe vor der Bühne marschieren, auf ein großes Bogentor zu ziehen, während sie schrien: »Zum Rat!« Eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei. Er hob den Arm, und das Gebrüll verdoppelte sich. Er besann sich, er mußte rufen: »Marschiert!« Sein Mund formte unhörbare heroische Worte. Wieder schwenkte er den Arm und zeigte auf das Bogentor und rief: »Vorwärts!« Sie stampften nicht mehr den Takt, sie marschierten: eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei. In dieser Heerschar waren bärtige Männer, alte Männer, Jünglinge, nacktarmige Frauen in flatternden Gewändern, Mädchen. Männer und Frauen der neuen Zeit! Reiche Gewänder und graue Lumpen flatterten zusammen im Wirbel unter dem herrschenden Blau. Rechts sah er ein ungeheures schwarzes Banner vorwärts rücken. Er sah einen blaugekleideten Neger, ein verschrumpftes Weib in Gelb, dann eine Gruppe großer, blondhaariger, weißgesichtiger, blaugekleideter Männer, theatralisch an sich vorüberdrängen. Er bemerkte zwei Chinesen. Ein großer, bleicher, dunkelhaariger Jüngling mit leuchtenden Augen, vom Kopf bis zu den Zehen weiß gekleidet, kletterte mit kräftigen Rufen zur Bühne hinauf und sprang wieder zurück und verschwand, indem er nach rückwärts blickte. Köpfe, Schultern, Hände, die Waffen gepackt hielten, alles schwang mit den marschierenden Kadenzen.

Gesichter lösten sich aus dem Wirrwarr, als er dastand, Augen trafen seine und zogen vorüber und verschwanden. Männer gestikulierten ihm zu und riefen unhörbare, persönliche Dinge. Die meisten der Gesichter waren gerötet, doch manche gespenstisch weiß. Und Krankheit sah er, und manche Hand, die ihm zuwinkte, war hager und dürr. Männer und Frauen der neuen Zeit! Seltsame und unglaubliche Bewegung! Wie der breite Strom vor ihm nach rechts vorüberfloß, strömten die Nebengänge von den fernen Hochpartien der Halle in unaufhörlichem Ersatz des Volks herab; eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei. Der Einklang des Singens wurde vom massiven Echo der Bogen und Gänge bereichert und kompliziert. Männer und Frauen mischten sich in den Reihen; eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei. Die ganze Welt schien zu marschieren. Eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei; ihm stampfte das Gehirn. Die Gewänder winkten vorwärts, die Gesichter strömten reichlicher vorbei.

Eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei; auf Lincolns Druck wandte er sich zum Torweg, indem er unbewußt in jenem Rhythmus ging und in der Melodie und der Gewalt seiner Erregung kaum merkte, daß er sich bewegte. Die Menge, die Gesten, das Singen, alles bewegte sich in der Richtung, die Flut des Volkes senkte sich, bis die nach oben gewandten Gesichter unter dem Niveau seiner Füße waren. Er war sich eines Weges vor sich bewußt, eines Gefolges um sich, der Wachen und Würdenträger, und auf seiner Linken ging Lincoln. Begleiter traten dazwischen und sperrten immer von Zeit zu Zeit den Blick auf die Menge nach links. Vor sich sah er die Rücken der schwarzen Wache – zu dritt, zu dritt und dritt. Er wurde einen schmalen, schienenbelegten Weg geführt und ging über dem Torweg hinüber, während unten der flutende Strom tauchte und zu ihm emporrief. Er wußte nicht, wohin er ging, er wollte es auch nicht wissen. Er blickte quer durch den flammenden Raum der Halle zurück. Eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei.


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