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15.
Das Ende der alten Ordnung

Die Staatsgemächer des Windfahnenamts wären Graham erstaunlich kompliziert erschienen, hätte er sie frisch aus seinem neunzehnten Jahrhundert heraus betreten, aber schon gewöhnte er sich an den Maßstab der neuen Zeit. Sie lassen sich kaum als Säle und Zimmer beschreiben, da ein kompliziertes System von Bogen, Brücken, Gängen und Galerien alle Teile des großen Baues trennte und verband. Er trat durch eins der bekannten gleitenden Paneele auf einen Vorplatz am Kopf einer Flucht sehr breiter und niederer Stufen hinaus, auf denen Männer und Frauen in weit glänzenderer Kleidung, als er sie bisher gesehen hatte, auf und ab stiegen. Von dieser Stelle aus blickte er eine Perspektive komplizierter Ornamente in glanzlosem Weiß und Mauve und Purpur hinab, die von scheinbar aus Porzellan und Filigran gefertigten Brücken überspannt waren und weithin in einem wolkigen Geheimnis durchbrochener Schirme endete.

Als er nach oben blickte, sah er Gang über Gang steigender Galerien mit zu ihm hinabblickenden Gesichtern. Die Luft war erfüllt vom Murmeln zahlloser Stimmen und von einer Musik, die von oben kam, einer heiteren, aufheiternden Musik, deren Quelle er nie entdeckte.

Der Mittelflügel war voller Menschen, aber keineswegs unbequem gedrängt; im ganzen muß diese Versammlung nach vielen Tausenden gezählt haben. Sie waren glänzend, selbst phantastisch gekleidet, die Männer ebenso wie die Frauen, denn der ernüchternde Einfluß des puritanischen Begriffs von Würde auf die männliche Kleidung war längst geschwunden. Auch das Haar der Männer wurde zwar selten lang getragen, war aber meist auf eine Art gelockt, die an den Friseur gemahnte, und die Kahlheit war von der Erde verschwunden. Krause, grade geschnittene Massen, die Rossetti entzückt hätten, herrschten vor, und ein Herr, der Graham unter dem geheimnisvollen Titel eines »Amoristen« gezeigt wurde, trug sein Haar in zwei kleidsamen Flechten à la Marguerite. Der Zopf war häufig; es schien, Bürger chinesischer Herkunft schämten sich ihrer Rasse nicht mehr. In den Formen der getragenen Kleidung zeigte sich wenig Gleichförmigkeit der Mode. Die stattlicheren Männer entfalteten ihre Symmetrie in Pumphosen, und man sah Puffs und Schlitze, und dort einen Mantel und dort ein Kleid. Die Moden der Tage Leos des Zehnten gaben vielleicht den herrschenden Einfluß ab, aber auch die ästhetischen Begriffe des fernen Ostens waren vertreten. Männlicher Embonpoint, der in Viktorianischen Zeiten den Gefahren der engen Knopfung unterworfen worden wäre, der erbarmungslosen Übertreibung engbeiniger, engarmiger Fracks, bildete setzt nur die Basis für einen Reichtum der Würde und fallender Falten. Auch anmutige Schlankheit war viel vertreten. Graham, einem typisch steifen Menschen aus einer typisch steifen Periode, erschienen diese Männer nicht nur persönlich anmutig, sondern überhaupt in ihren lebhaft ausdrucksvollen Gesichtern zu ausdrucksvoll. Sie gestikulierten, sie gaben der Überzeugung Ausdruck, dem Interesse, dem Vergnügen, vor allem, sie gaben den Empfindungen, die von den Damen rings in ihrer Seele erregt wurden, mit erstaunlicher Offenheit Ausdruck. Auf den ersten Blick erkannte man, daß die Frauen in großer Majorität vorhanden waren.

Die Damen in Gesellschaft dieser Herren entfalteten in Kleidung, Haltung und Wesen zugleich weniger Emphase und mehr Kompliziertheit. Einige affektierten eine klassische Einfachheit der Gewandung und Feinheit der Falten nach Art des ersten französischen Kaiserreichs, und sie ließen erobernde Arme und Schultern blitzen, als Graham vorbeikam. Andere trugen enganliegende Kleider ohne Naht oder Gürtel über den Hüften, bisweilen mit langen Falten, die von den Schultern niederfielen. Die köstlichen Vertraulichkeiten des Abendanzuges waren durch die Zeit von zwei Jahrhunderten nicht vermindert worden.

Jedermanns Bewegungen schienen anmutig. Graham bemerkte gegen Lincoln, er sehe Männer, als seien Raffaels Kartons lebendig geworden, und Lincoln sagte ihm, die Erlernung einer angemessenen Reihe von Gesten gehöre zur Erziehung jedes reichen Menschen. Der Eintritt des Herrn wurde mit einer Art zwitschernden Beifalls begrüßt, aber diese Leute zeigten ihre vornehmen Manieren, indem sie sich nicht um ihn drängten noch auch ihn durch fortwährende, forschende Blicke ärgerten, als er die Stufen zum Boden des Flügels herabschritt.

Er hatte schon von Lincoln erfahren, daß dies die Führer der gegenwärtigen Londoner Gesellschaft waren; fast jeder, der diesen Abend da war, war entweder ein mächtiger Beamter oder die unmittelbare Verbindung eines mächtigen Beamten. Viele waren eigens aus den europäischen Freudenstädten zurückgekehrt, um ihn zu bewillkommnen. Die aeronautischen Autoritäten, deren Abfall bei der Überwindung des Rats eine Rolle gespielt hatte, die nur der Grahams nachstand, taten sich sehr hervor, und ebenso die Verwaltung der Windfahnenämter. Unter anderen waren auch mehrere hervorragende Beamte des Nahrungsmitteltrusts anwesend; der Leiter der Europäischen Schweinezüchtereien zeigte eine besonders melancholische und interessante Physiognomie und ein artig zynisches Wesen. Ein Bischof in vollem Ornat strich vor Grahams Augen vorüber; er sprach mit einem Herrn, der genau wie der traditionelle Chaucer gekleidet war, selbst den Lorbeerkranz eingeschlossen.

»Wer ist das?« fragte er unwillkürlich.

»Der Bischof von London,« sagte Lincoln.

»Nein – den andern meine ich.«

»Der Poeta laureatus

»Sie haben noch – –?«

»Er dichtet natürlich nicht. Er ist ein Vetter Wottons eines der Räte. Aber er gehört zu den Royalisten der Roten Rose – einem entzückenden Klub – und die halten die Tradition dieser Dinge hoch.«

»Asano sagte mir, es gebe einen König.«

»Der König ist nicht im Klub. Sie mußten ihn hinaussetzen. Es ist das Blut, die Stuarts, glaube ich; aber wirklich –«

»Zu viel?«

»Viel zu viel.«

Graham verstand all das nicht ganz, aber es schien ein Teil der allgemeinen Umkehrung der neuen Zeit zu sein. Er verneigte sich herablassend bei der ersten Vorstellung. Es war klar, daß selbst in dieser Versammlung noch feine Klassenunterschiede herrschten, daß Lincoln es nur für passend hielt, ihn einen kleinen Bruchteil der Gäste, einer inneren Gruppe vorzustellen. Der zuerst Vorgestellte war der Oberaeronaut, ein Mann, dessen sonnengegerbtes Gesicht sonderbar mit den zarten Teints ringsum konstrastierte. Gerade im Moment machte ihn freilich sein kritischer Abfall vom Rat zu einer sehr wichtigen Persönlichkeit.

Sein Wesen kontrastierte Grahams Ideen nach sehr günstig mit der allgemeinen Haltung. Er machte ein paar Gemeinplatzbemerkungen, versicherte seine Ergebenheit und erkundigte sich offen nach des Herrn Gesundheit. Sein Wesen war frisch, sein Akzent entbehrte des leichten Staccato des modernen Englisch. Er machte es Graham wundervoll klar, daß er ein derber »Lufthund« war – das war ein Wort – daß er keinen Unsinn um sich duldete, daß er ein durchaus männlicher Kerl und darin altmodisch war, daß er auf kein großes Wissen Anspruch machte, und daß das, was er nicht wußte, des Wissens nicht verlohnte. Er machte eine männliche, ostentativ von Dienerei freie Verbeugung und ging weiter.

»Ich sehe mit Freude, daß der Typus noch vorhanden ist,« sagte Graham.

»Phonographen und Kinematographen,« sagte Lincoln ein wenig bissig. »Er hat nach dem Leben studiert.« Graham warf noch einen Blick auf die kräftige Gestalt. Sie weckte sonderbare Erinnerungen.

»Eigentlich haben wir ihn gekauft,« sagte Lincoln. »Zum Teil. Und zum Teil hatte er Angst vor Ostrog. Alles stand bei ihm.«

Er drehte sich scharf um und stellte den Generalinspektor des Schultrusts vor. Das war eine weidenartige Gestalt in blaugrauem, akademischem Ornat, er strahlte durch ein Pincenez Viktorianischen Musters auf Graham herab und illustrierte seine Bemerkungen durch Gesten einer schön gepflegten Hand. Graham interessierte sich unmittelbar für die Funktionen dieses Herrn und stellte ihm eine Reihe merkwürdig direkter Fragen. Der Generalinspektor schien über des Herrn fundamentale Plumpheit still amüsiert. Er sprach über das Erziehungsmonopol, das seine Gesellschaft besaß, ein wenig unbestimmt; es geschah im Einverständnis mit dem Syndikat, das die zahlreichen Londoner Munizipalitäten versorgte, aber er begeisterte sich über den Fortschritt der Erziehung seit den Zeiten der Viktoria. »Wir haben das Pauken besiegt,« sagte er, »das Pauken vollständig besiegt – es gibt kein Examen mehr in der Welt. Freuen Sie sich nicht?«

»Wie bekommen Sie die Arbeit getan?« fragte Graham.

»Wir machen sie anziehend – so anziehend wie möglich. Und wenn sie dann nicht anzieht – so lassen wir sie. Wir bearbeiten ein ungeheures Feld.«

Er ging zu Einzelheiten über, und sie hatten ein langes Gespräch. Der Generalinspektor nannte die Namen Pestalozzi und Froebel mit tiefer Achtung, obgleich er keine Vertrautheit mit ihren epochemachenden Werken entfaltete. Graham erfuhr, daß Universitäten in einer modifizierten Form noch immer existierten. »Es gibt eine bestimmte Art Mädchen, zum Beispiel,« sagte der Generalinspektor, der vom Gefühl seiner Nützlichkeit schwoll, »mit einer direkten Leidenschaft für ernste Studien – wenn sie nicht zu schwierig sind, wissen Sie. Wir verproviantierten sie nach Tausenden. In diesem Augenblick«, sagte er mit Napoleonischem Anflug, »tragen in verschiedenen Teilen Londons fast fünfhundert Phonographen über den von Plato und Swift auf die Liebesaffären Shelleys, Hazlitts und Burns' ausgeübten Einfluß vor. Und nachher schreiben sie Essays über die Vorträge, und ihre Namen werden in der Reihenfolge des Verdienstes an auffälligen Orten angeschlagen. Sie sehen, wir Ihr kleiner Keim gewachsen ist? Die ungebildete Mittelklasse Ihrer Tage ist ganz verschwunden.«

»Von den Elementarschulen –« sagte Graham. »Kontrollieren Sie die?«

Der Generalinspektor tat es »gründlich«. Nun hatte Graham sich in seinen späteren, demokratischen Tagen sehr für sie interessiert, und seine Fragen wurden schneller. Gewisse, gelegentliche Worte, die dem Alten entfallen waren, mit dem er im Dunkel gesprochen hatte, fielen ihm wieder ein. Der Generalinspektor bestätigte die Worte des Alten. »Wir haben die Pauke abgeschafft,« sagte er, eine Phrase, die Graham als die Abschaffung aller strengen Arbeit zu deuten begann. Der Generalinspektor wurde sentimental. »Wir versuchen, die Elementarschulen für die kleinen Kinder sehr angenehm zu machen. Sie werden so bald zu arbeiten haben. Nur ein paar einfache Prinzipien – Gehorsam – Fleiß.«

»Sie lehren sie sehr wenig?«

»Warum sollten wir? Es führt nur zu Unruhe und Unzufriedenheit. Wir amüsieren sie. Selbst so noch – gibt es Unruhen – Agitationen. Woher die Arbeiter die Ideen bekommen, kann man nicht sagen. Sie reden miteinander. Es existieren sozialistische Träume – sogar Anarchie! Agitatoren machen sich unter ihnen immer wieder an die Arbeit. Ich nehme an – ich habe es stets angenommen – daß meine erste Pflicht ist, gegen die Unzufriedenheit des Volks zu kämpfen. Warum sollte man die Leute unglücklich machen?«

»Ja, ja,« sagte Graham nachdenklich. »Aber ich möchte noch sehr vieles wissen.«

Lincoln, der während all der Zeit dagestanden und Grahams Gesicht beobachtet hatte, trat dazwischen. »Wir haben noch andere,« sagte er im Flüsterton.

Der Generalinspektor der Schulen gestikulierte sich fort. »Vielleicht«, sagte Lincoln, der einen zufälligen Blick auffing, »möchten Sie einige von den Damen kennen lernen?«

Die Tochter des Geschäftsführers der Schweinezüchtereien des Europäischen Nahrungsmitteltrusts war eine besonders reizende kleine Person mit rotem Haar und lebhaften blauen Augen. Lincoln ließ ihn eine Zeitlang allein, um mit ihr zu plaudern, und sie zeigte sich ganz begeistert für die »lieben alten Zeiten«, wie sie sie nannte, die den Anfang seines Starrkrampfes gesehen hatten. Sie lächelte beim Reden, und ihr Augen lächelten auf eine Art, die Erwiderung verlangte.

»Ich habe«, sagte sie, »zahllose Male versucht – mir diese alten romantischen Tage vorzustellen. Und für Sie – sind es Erinnerungen. Wie sonderbar und überfüllt Ihnen die Welt erscheinen muß! Ich habe Photographien und Bilder aus den alten Zeiten gesehen, die kleinen, einzelnen Häuser aus Steinen, die man aus gebranntem Schlamm machte, ganz schwarz vom Ruß aus ihren Öfen; die Eisenbahnbrücken, die einfachen Reklamen, die feierlichen, wilden Puritaner in sonderbaren, schwarzen Röcken, und ihre hohen Hüte, Eisenbahnzüge auf eisernen Brücken hoch oben, Pferde und Rinder und sogar Hunde, die halb wild in den Straßen herumliefen! Und plötzlich sind Sie hier hereingekommen!«

»Hier herein,« sagte Graham.

»Aus Ihrem Leben – aus allem heraus, was Ihnen vertraut war.«

»Das alte Leben war kein glückliches,« sagte Graham. »Ich sehne mich nicht nach ihm zurück.«

Sie sah ihn schnell an. Es entstand eine kurze Pause. Sie seufzte ermutigend. »Nein?«

»Nein,« sagte Graham. »Es war ein kleines Leben – und sinnlos. Aber dies – Wir hielten die Welt für kompliziert und voll und zivilisiert genug. Aber ich sehe wohl – obgleich ich in dieser Welt kaum vier Tage alt bin – wenn ich auf meine eigene Zeit zurückblicke, daß es eine wunderliche, barbarische Zeit war – der bloße Anfang dieser neuen Ordnung. Der bloße Anfang dieser neuen Ordnung. Sie werden es kaum begreiflich finden, wie wenig ich weiß.«

»Sie können mich fragen, was Sie wollen,« sagte sie und lächelte ihn an.

»So sagen Sie mir, wer diese Leute sind. Ich bin noch sehr im Dunkeln über sie. Es ist verwirrend. Sind Generäle da?«

»Leute in Hüten und Federn?«

»Natürlich nicht. Nein. Ich denke mir, es sind die Leute, die die großen öffentlichen Geschäfte leiten. Wer ist der vornehm aussehende Mann da?«

»Der da? Das ist ein höchst wichtiger Beamter. Das ist Morden. Er ist geschäftsführender Direktor der Gesellschaft zur Fabrikation gallabtreibender Pillen. Ich habe gehört, seine Arbeiter drehen mitunter an einem Tag in den vierundzwanzig Stunden eine Myriade Myriaden Pillen. Stellen Sie sich vor, eine Myriade Myriaden!«

»Eine Myriade Myriaden. Kein Wunder, wenn er so stolz aussieht!« sagte Graham. »Pillen! Was für eine wunderbare Zeit! Jener Mann in Purpur?«

»Der gehört nicht ganz zum inneren Zirkel, wissen Sie. Aber wir mögen ihn. Er ist wirklich sehr gescheit und sehr amüsant. Er gehört zu den Spitzen der Medizinischen Fakultät unserer Londoner Universität. Alle Ärzte, wissen Sie, sind Aktionäre der Medizinischen Fakultätsgesellschaft und tragen diesen Purpur. Man muß – man muß befähigt sein. Aber natürlich, Leute, die Honorare erhalten, weil sie etwas tun –« Sie lächelte die sozialen Prätensionen all solcher Leute fort.

»Sind ein paar von Ihren großen Künstlern oder Autoren hier?«

»Keine Autoren. Sie sind meist so wunderliche Leute – und so von sich eingenommen. Und sie zanken sich so furchtbar! Sie kämpfen – manche von ihnen – um den Vortritt auf Treppen! Schrecklich, nicht wahr? Aber ich denke, Wraysbury, der elegante Kapillotom, ist hier. Von Capri.«

»Kapillotom,« sagte Graham. »Ah! ich entsinne mich. Ein Künstler! Warum nicht?«

»Wir müssen ihn hofieren,« sagte sie entschuldigend. »Unser Kopf liegt in seinen Händen.« Sie lächelte.

Graham zögerte bei dem herausgeforderten Kompliment, aber sein Blick war ausdrucksvoll. »Sind die Künste mit den anderen zivilisierten Dingen gewachsen?« sagte er. »Welches sind ihre großen Maler?«

Sie sah ihn zweifelhaft an. Dann lachte sie. »Einen Moment,« sagte sie, »dachte ich, Sie meinten –« Sie lachte wieder. »Sie meinen natürlich jene guten Leute, von denen Sie so viel hielten, weil sie große Leinwandflächen mit Ölfarben bedecken konnten? Große Vierecke. Und diese Dinge taten die Leute in Goldrahmen und hingen sie in ihren viereckigen Zimmern in Reihen auf. Wir haben keine. Dieser Art Dinge ist man müde geworden.«

»Aber was dachten Sie, daß ich meinte?«

Sie legte einen Finger bedeutsam auf eine Backe, deren Glut über jeden Argwohn erhaben war, und lächelte und blickte sehr schelmisch und hübsch und einladend. »Und hier,« und sie zeigte auf ihr Augenlid.

Graham hatte einen abenteuernden Moment. Dann blitzte ihm die groteske Erinnerung an ein Bild von Onkel Toby und der Witwe, das er irgendwo gesehen hatte, durch den Geist. Ihn überkam eine archaische Scham. Er wurde sich scharf bewußt, daß er einer großen Zahl interessierter Leute sichtbar war. »Ich verstehe,« bemerkte er unangemessen. Er wandte sich verlegen von ihrer faszinierenden Leichtfertigkeit ab. Er blickte um sich und traf auf eine Anzahl Augen, die sich sofort mit anderen Dingen beschäftigten. Vielleicht errötete er ein wenig. »Wer ist der, der mit der Dame in Safran redet?« fragte er, indem er ihre Augen mied.

Die fragliche Person, erfuhr er, war einer von den großen Organisatoren der amerikanischen Theater, die gerade frisch von einer riesenhaften Produktion in Mexiko zurückkamen. Sein Gesicht erinnerte Graham an eine Caligulabüste. Ein weiterer auffallender Mann war der Schwarze Arbeitsmeister. Im Moment machte der Name keinen tiefen Eindruck, aber später tauchte er wieder empor; – der Schwarze Arbeitsmeister? Die kleine Dame zeigte ihm, keineswegs verlegen, eine entzückende kleine Dame als eine der Subsidiarfrauen des anglikanischen Bischofs von London. Sie fügte Lobsprüche auf den bischöflichen Mut hinzu – bisher hatte in der Geistlichkeit die Monogamie als Regel gegolten – »weder ein natürlicher noch ein praktischer Stand der Dinge. Warum sollte man die natürliche Entwicklung der Triebe verkümmern und hemmen, wenn jemand Priester ist?«

»Und nebenbei,« sagte sie, »sind Sie Anglikaner?« Graham stand am Rande zögernder Fragen über den Status einer »Subsidiarfrau« –, offenbar ein euphemistischer Ausdruck – als Lincolns Rückkehr dieses sehr anregende und interessante Gespräch abbrach. Sie gingen quer durch den Saal zu einem großen Mann in Scharlach, und zwei entzückende Leute in birmanischen Kostümen (wie es ihm schien) erwarteten ihn mißtrauisch. Von ihren Höflichkeiten ging er zu anderen Vorstellungen weiter.

In kurzem begannen sich diese vielfachen Eindrücke zu einer Gesamtwirkung zu organisieren. Zuerst hatte das Glitzern der Versammlung den ganzen Demokraten in Graham geweckt; er hatte sich feindlich und satirisch gefühlt. Aber es ist der Menschennatur nicht gegeben, einer Atmosphäre höflicher Achtung zu widerstehen. Bald hatten sich die Musik, das Licht, das Farbenspiel, die leuchtenden Arme und Schultern rings, die Berührung der Hände, das flüchtige Interesse lächelnder Gesichter, der schäumende Klang geschickt modulierter Stimmen, die Atmosphäre des Kompliments, Interesses und der Achtung in ein Gewebe unbestreitbaren Vergnügens verwoben. Graham vergaß auf eine Zeitlang seine geräumigen Vorsätze. Er gab unmerklich dem Rausch der Stellung nach, die man ihm einräumte, sein Wesen wurde weniger bewußt, überzeugender königlich, sein Fuß trat sicher auf, das schwarze Gewand fiel mit kühnerer Falte, und der Stolz veredelte seine Stimme. Schließlich war dies eine glänzende, interessante Welt.

Sein Blick glitt beifällig über die wechselnden Farben der Leute, er blieb hier und dort in freundlicher Kritik auf einem Gesicht ruhen. Dann fiel ihm ein, daß er der reizenden kleinen Person mit dem roten Haar und den blauen Augen eine Entschuldigung sagen mußte. Er fühlte sich einer plumpen Abfertigung schuldig. Es war nicht fürstlich, ihr Entgegenkommen zu ignorieren, selbst, wenn seine Politik ihre Abweisung notwendig machte. Er fragte sich, ob er sie wiedersehen werde. Und plötzlich berührte eine Kleinigkeit den Zauber dieser Versammlung und veränderte ihren Charakter.

Er blickte nach oben und sah ein Gesicht über eine Porzellanbrücke gehen und auf ihn niederblicken, ein Gesicht, das fast sofort verborgen war, das Gesicht des Mädchens, das er abends nach seiner Flucht aus dem Hause des Rats in dem kleinen Zimmer hinter dem Theater gesehen hatte. Und sie blickte ziemlich mit demselben Ausdruck neugieriger Erwartung, unsicherer Gespanntheit auf sein Tun herab. Im Moment entsann er sich nicht, wo er sie gesehen hatte, und dann kam mit dem Wiedererkennen eine unbestimmte Erinnerung an die aufregenden Gefühle ihrer ersten Begegnung. Aber das tanzende Gewebe der Melodie rings um ihn hielt seinem Gedächtnis den Gang jenes großen Marschliedes fern.

Die Dame, mit der er sprach, wiederholte ihre Bemerkung, und Graham entsann sich des quasi-königlichen Flirts, mit dem er beschäftigt war.

Aber von dem Moment an trat eine unbestimmte Rastlosigkeit, ein Gefühl, das zur Unzufriedenheit anwuchs, in seinen Geist. Ihn beunruhigte etwas wie eine halbvergessene Pflicht, wie die Empfindung, als entschlüpften ihm mitten in diesem Licht und Glanz wichtige Dinge. Der Reiz, den diese glänzenden Damen, die sich um ihn drängten, auszuüben begannen, hörte auf. Er gab keine unbestimmten und plumpen Antworten mehr auf die feinen Liebesanträge, die ihm, wie er jetzt überzeugt war, gemacht wurden, und sein Auge suchte nach einem zweiten Anblick jenes Gesichtes, das so stark an seinen Schönheitssinn appelliert hatte. Aber er sah sie nicht eher wieder, als bis er auf Lincolns Rückkehr wartete, um diese Versammlung zu verlassen. Als Antwort auf seine Bitte hatte Lincoln versprochen, es solle nachmittags ein Versuch gemacht werden, zu fliegen, wenn das Wetter es erlaubte. Er war fortgegangen, um noch gewisse notwendige Vorkehrungen zu treffen.

Graham stand auf einer der oberen Galerien im Gespräch mit einer helläugigen Dame über das Eadhamit – das Thema war seine Wahl, nicht ihre. Er hatte ihre warmen Versicherungen persönlicher Ergebenheit mit einer Tatsachenfrage unterbrochen. Er fand sie, wie er schon mehrere moderne Frauen gefunden hatte, weniger gut unterrichtet als reizend. Plötzlich drang, im Kampf gegen den wirbelnden Strom näherer Melodie, das Aufstandslied, der große Gesang, den er in der Halle gehört hatte, heiser und massiv auf ihn herab.

Er blickte erschreckt in die Höhe und sah über sich ein oeil de boeuf, durch das dieses Lied gekommen war, und dahinter die oberen Kabelgänge, den blauen Nebel und den hängenden Bau der Lichter der öffentlichen Straßen. Er hörte das Lied in einem Tumult von Stimmen zerbröckeln und aufhören. Aber jetzt nahm er ganz deutlich das Summen und den Aufruhr der gleitenden Plattformen und ein Gemurmel vieler Menschen wahr. Er hatte die unbestimmte Überzeugung, die er sich nicht erklären konnte, eine Art instinktiven Gefühls, daß draußen auf den Straßen eine riesige Menge dies Haus bewachen müsse, in dem sich ihr Herr amüsierte. Er fragte sich, was sie wohl denken mochten.

Obgleich das Lied so unvermittelt aufgehört hatte, obgleich die besondere Musik dieser Versammlung sich wieder durchsetzte, blieb doch das Motiv des Marschliedes, nachdem es einmal begonnen hatte, in seinem Geist hangen.

Die helläugige Dame rang immer noch mit den Geheimnissen des Eadhamits, als er das Mädchen bemerkte, das er im Theater gesehen hatte. Sie kam jetzt die Galerie entlang auf ihn zu. Sie war in ein mattleuchtendes Grau gekleidet, ihr dunkles Haar lag wie eine Wolke um ihre Stirn, und als er sie sah, fiel das kalte Licht der runden Öffnung nach den Straßen hinaus auf ihr gesenktes Gesicht.

Die Dame, die sich mit dem Eadhamit quälte, sah den Wechsel in seinem Ausdruck und ergriff diese Gelegenheit zur Rettung. »Möchten Sie das Mädchen kennen lernen, Sire?« fragte sie kühn. »Es ist Helene Wotton – eine Nichte Ostrogs. Sie weiß eine Menge ernsthafter Dinge. Sie ist eine von den ernsthaftesten Personen der Welt. Ich glaube sicher, Sie werden sie mögen.«

Im nächsten Moment sprach Graham mit dem Mädchen, und die helläugige Dame war davon geflattert.

»Ich erinnere mit Ihrer sehr gut,« sagte Graham. »Sie waren in dem kleinen Zimmer. Als das ganze Volk sang und den Takt mit den Füßen stampfte. Ehe ich durch die Halle ging.«

Ihre momentane Verlegenheit verging. Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht war ruhig. »Es war wundervoll,« sagte sie, zögerte und sprach mit plötzlicher Anstrengung. »All dies Volk wäre für Sie gestorben, Sire. Zahllose Menschen sind in jener Nacht für Sie gestorben.«

Ihr Gesicht glühte. Sie warf einen raschen Blick zur Seite, um zu sehen, daß auch niemand sonst ihre Worte hörte.

Lincoln erschien etwas entfernt auf der Galerie und kam durch das Gedränge auf sie zu. Sie sah ihn und wandte sich seltsam eifrig mit raschem Wechsel zur Vertraulichkeit und Intimität zu Graham. »Sire,« sagte sie schnell, »ich kann es Ihnen nicht jetzt und hier erzählen. Aber das gewöhnliche Volk ist sehr unglücklich; es wird bedrückt – es wird schlecht regiert. Vergessen Sie das Volk nicht, das dem Tod entgegentrat – dem Tod, damit Sie leben konnten.«

»Ich weiß nicht –« begann Graham.

»Ich kann es Ihnen jetzt nicht erzählen.«

Lincolns Gesicht erschien dicht neben ihnen. Er verbeugte sich entschuldigend gegen das Mädchen.

»Sie finden die neue Welt angenehm, Sire?« fragte Lincoln mit lächelnder Ehrfurcht und zeigte mit umfassender Geste auf Raum und Glanz der Gesellschaft. »Auf jeden Fall finden Sie sie verändert.«

»Ja,« sagte Graham, »verändert. Und doch schließlich nicht so sehr verändert.«

»Warten Sie, bis Sie in der Luft sind,« sagte Lincoln. »Der Wind hat sich gelegt; schon wartet ein Aeropile auf Sie.«

Die Haltung des Mädchens erwartete die Entlassung.

Graham blickte auf ihr Gesicht, stand am Rande einer Frage, sah eine Warnung in ihrem Ausdruck, verneigte sich gegen sie und machte kehrt, um Lincoln zu begleiten.


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