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7.
In den stillen Zimmern

Dann nahm Graham die Untersuchung seiner Zimmer wieder auf. Die Neugier hielt ihn trotz seiner Ermüdung in Bewegung. Das innere Zimmer, sah er, war hoch, und seine Decke kuppelförmig, mit einer länglichen Öffnung in der Mitte, die in einen Schacht ging, in dem ein Rad breiter Fächer zu rotieren schien, die offenbar die Luft in den Schacht hinauftrieben. Der leise, summende Ton dieser leichten Bewegung war der einzige deutliche Schall an diesem stillen Ort. Da diese Fächer einer nach dem anderen hochsprangen, konnte Graham flüchtig Stücke des Himmels sehen. Er war erstaunt, einen Stern zu sehen.

Das zog seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die helle Beleuchtung dieser Zimmer durch eine Menge sehr schwacher Glühlampen erzielt wurde, die unter das Gesims gesetzt waren. Fenster waren nicht vorhanden. Und er begann sich darauf zu besinnen, daß er in all den ungeheuren Gemächern und Gängen, durch die er mit Howard gekommen war, überhaupt keine Fenster bemerkt hatte. Waren Fenster dagewesen? Freilich gingen Fenster auf die Straße, aber waren sie fürs Licht? Oder war die ganze Stadt ewig, Tag und Nacht erleuchtet, so daß es keine Nacht gab?

Und noch etwas dämmerte ihm auf. In keinem Zimmer war ein Kamin. War es Sommer, und waren dies nur Sommerwohnungen, oder wurde die ganze Stadt gleichmäßig geheizt oder gekühlt? Er begann, sich für diese Fragen zu interessieren, fing an, die glatte Struktur der Wände zu prüfen, das einfach konstruierte Bett, die sinnreichen Einrichtungen, durch die die Mühe des Schlafzimmerdienstes praktisch abgeschafft war. Und über allem lag eine seltsame Abwesenheit gewollter Ornamentik, eine nackte Anmut der Form und Farbe, die er fürs Auge sehr angenehm fand. Er hatte mehrere sehr bequeme Stühle und einen leichten Tisch auf geräuschlosen Rollen, der mehrere Flaschen mit Flüssigkeiten und Gläsern und zwei Teller mit einer klaren, geleeartigen Substanz trug. Dann fiel ihm auf, daß keine Bücher, keine Zeitungen, kein Schreibmaterial vorhanden war. »Die Welt hat sich freilich verändert,« sagte er.

Er sah, daß eine ganze Seite des äußeren Zimmers mit Reihen eigenartiger Doppelzylinder besetzt war, die Inschriften mit grüner Schrift auf Weiß trugen, wie es mit dem dekorativen Grundzug des Zimmers stimmte, und in der Mitte dieser Seite sprang ein kleiner Apparat etwa einen Quadratmeter vor; er zeigte nach dem Zimmer zu eine glatte, weiße Fläche. Davor stand ein Stuhl. Er hatte einen flüchtigen Gedanken, diese Zylinder könnten Bücher oder ein moderner Ersatz für Bücher sein, aber erst schien es nicht so.

Die Schrift auf den Zylindern machte ihm zu schaffen. Erst sah sie wie Russisch aus. Dann bemerkte er eine Spur von verstümmeltem Englisch in gewissen Worten.

»'i Man huwdbi Ki',«

drängte sich ihm auf als »The Man, who would be King« (»Der Mann, der gern König sein wollte«). »Phonetische Schrift,« sagte er. Er entsann sich, daß er eine Geschichte des Titels gelesen hatte, dann fiel ihm die Geschichte lebhaft ein, eine der besten Geschichten von der Welt. Aber dieses Ding da vor ihm war kein Buch, wie er es verstand. Er klügelte die Titel zweier benachbarter Zylinder heraus. »Das dunkle Herz«, davon hatte er noch nie gehört, auch nicht von der »Madonna der Zukunft« – ohne Zweifel waren sie, wenn es wirklich Geschichten waren, von nachviktorianischen Autoren.

Über diesen einen Zylinder zerbrach er sich einige Zeit den Kopf, dann stellte er ihn zurück. Darauf wandte er sich zu dem viereckigen Apparat und untersuchte ihn. Er öffnete eine Art Deckel und fand einen der Doppelzylinder darin, und am oberen Rand einen kleinen Knopf, ähnlich dem Knopf einer elektrischen Schelle. Er drückte darauf, und ein rasches Klinken begann und hörte wieder auf. Er hörte Stimmen und Musik und bemerkte ein Farbenspiel auf der glatten Vorderfläche. Plötzlich wurde ihm klar, was dies sein mochte, und er trat zurück, um sie anzusehen.

Auf der ebenen Fläche lag jetzt ein kleines Bild von sehr lebhaften Farben, und in diesem Bild bewegten sich Gestalten. Nicht nur bewegten sie sich, sondern sie sprachen auch mit klaren leisen Stimmen. Es war genau wie die Wirklichkeit, gesehen durch ein umgekehrtes Opernglas. Sein Interesse war sofort durch die Situation gefesselt, die einen jungen Mann darstellte, der auf und ab schritt und einer hübschen aber übermütigen Frau zornige Worte zuschrie. Beide waren in dem malerischen Kostüm, das Graham so fremd erschien. »Ich habe gearbeitet,« sagte der Mann, »aber was hast du getan?«

»Ah!« sagte Graham. Er vergaß alles andere und setzte sich in den Stuhl. Ehe fünf Minuten vergangen waren, hörte er sich nennen, hörte er den Satz »wenn der Schläfer erwacht« scherzhaft als ein Sprichwort für fernen Aufschub gebrauchen und sich selber als etwas Fernes und Unglaubliches abtun. Aber in kurzer Zeit kannte er diese beiden Leute wie intime Freunde.

Schließlich war das Miniaturdrama zu Ende, und die viereckige Fassade des Apparates war wieder leer.

Es war eine seltsame Welt, in die er hatte blicken dürfen, unbedenklich, genußsüchtig, energisch, scharfsinnig, eine Welt auch furchtbaren, wirtschaftlichen Kampfes; er hörte Anspielungen, die er nicht verstand, Ereignisse, die von veränderten moralischen Ideen sprachen, Blitze zweifelhafter Aufklärung. Die blaue Leinwand, die in seinem ersten Eindruck von den Straßen der Stadt einen so großen Raum einnahm, erschien immer wieder als das Kostüm des gewöhnlichen Volkes. Er zweifelte nicht, daß die Geschichte zeitgenössisch war, und ihr intensiver Realismus war unbestreitbar. Und der Schluß war eine Tragödie gewesen, die ihn bedrückte. Er saß da und starrte auf die weiße Fläche.

Er fuhr zusammen und rieb sich die Augen. Er war so in den modernen Ersatz des Romans versunken gewesen, daß er zu dem grün und weißen Zimmer mit mehr als einer Spur der Überraschung seines ersten Erwachens erwacht war.

Er stand auf, und plötzlich war er wieder in seinem eigenen Wunderland. Die Klarheit des Kinetoskopdramas schwand, und der Kampf auf dem ungeheuren Straßenplatz, der zweifelhafte Rat, die schnellen Phasen seiner wachen Stunden kehrten wieder. Diese Leute hatten vom Rat mit Andeutungen einer unbestimmten Allgemeinheit der Macht gesprochen. Und sie hatten vom Schläfer gesprochen; es war ihm im Moment nicht wirklich lebendig klar gewesen, daß er der Schläfer war. Er mußte sich genau zurückrufen, was sie gesagt hatten ...

Er ging in das Schlafzimmer und spähte durch die schnellen Intervalle des rotierenden Fächers empor. Wie der Fächer herumfegte, klang in rhythmischen Wirbel ein dunkler Tumult gleich dem Lärm von Maschinen herab. Sonst war alles Schweigen. Obgleich der dauernde Tag seine Zimmer noch immer durchstrahlte, sah er, daß das kleine intermittierende Stück des Himmels jetzt tiefblau war – fast schwarz, mit einem Staub kleiner Sterne besät ...

Er begann seine Untersuchung der Zimmer von neuem. Er konnte keinen Weg finden, die gepolsterte Tür zu öffnen, keine Glocke und kein anderes Mittel, um nach Bedienung zu rufen. Sein Gefühl des Staunens war unvermindert, aber er war neugierig, neugierig auf Auskunft. Er wollte genau wissen, wie er zu diesen Dingen stand. Er versuchte, sich zu fassen, bis jemand zu ihm kommen würde. Plötzlich wurde er rastlos und ungeduldig neugierig auf Auskunft, Zerstreuung, frische Sensationen.

Er ging zu dem Apparat im andern Zimmer zurück und hatte bald die Methode ausgeklügelt, wie man die Zylinder durch andere ersetzte. Als er es tat, fiel ihm ein, diese kleinen Erfindungen müßten das sein, was die Sprache so fixiert hatte, daß sie noch nach zweihundert Jahren klar und verständlich war. Die Zylinder, die er aufs Geratewohl einschaltete, brachten eine musikalische Phantasie. Erst war sie schön, dann wurde sie sinnlich. Bald erkannte er, was ihm eine veränderte Vision der Geschichte Tannhäusers zu sein schien. Die Musik war ungewohnt. Aber die Darstellung war realistisch, mit einer zeitgenössischen Änderung. Tannhäuser ging nicht in den Venusberg, sondern in eine Freudenstadt. Was war eine Freudenstadt? Sicherlich ein Traum, die Erfindung eines phantastischen, wollüstigen Dichters.

Er wurde interessiert, neugierig. Die Geschichte entwickelte sich mit einem Beigeschmack seltsam verschlungener Sentimentalität. Plötzlich mochte er sie nicht mehr. Je weiter sie kam, um so weniger gefiel sie ihm.

Seine Gefühle empörten sich. Dies waren keine Bilder, keine Idealisationen, sondern photographische Wirklichkeiten. Er wollte nichts mehr vom Venusberg des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts hören. Er vergaß die Rolle, die das Modell in der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts gespielt hatte, und gab sich archaischer Entrüstung hin. Er stand zornig und halb beschämt auf, daß er dem selbst in der Einsamkeit zusah. Er zog den Apparat nach vorn und suchte mit einiger Gewalt nach einem Mittel, seine Tätigkeit zu unterbrechen. Irgend etwas schnappte. Ein violetter Funke stach und krampfte ihm den Arm, und die Maschine war still. Als er am nächsten Tag versuchte, die Tannhäuser-Zylinder durch ein anderes Paar zu ersetzen, fand er den Apparat zerbrochen ...

Er schlug einen Weg schräg durchs Zimmer ein und schritt hin und her, während er mit unerträglich riesenhaften Eindrücken rang. Die Dinge, die er den Zylindern entnommen hatte, und die Dinge, die er gesehen hatte, kämpften, verwirrten ihn. Ihm erschien es als das Erstaunlichste von allem, daß er in seinen dreißig Jahren nie versucht hatte, sich von diesen kommenden Zeiten ein Bild zu machen. »Wir schufen die Zukunft,« sagte er, »und kaum jemand von uns gab sich die Mühe, darüber nachzudenken, was für eine Zukunft wir schufen. Und hier ist sie!«

»Wohin sind sie gekommen? Was ist vollbracht? Wie komme ich da mitten hinein?« Auf das Riesige der Straße und des Hauses war er gefaßt, auf die Volksmassen auch. Aber Kämpfe auf den Straßen der Stadt? Und die systematisierte Sinnlichkeit einer Klasse reicher Leute!

Er dachte an Bellamy, an die Helden seiner sozialistischen Utopie, der dieses gegenwärtige Erlebnis so sonderbar vorweggenommen hatte. Aber dies war keine Utopie, kein sozialistischer Staat. Er hatte schon genug gesehen, um sich darüber klar zu sein, daß der alte Gegensatz des Luxus, der Verschwendung und Sinnlichkeit einerseits und der verworfenen Armut andererseits noch immer herrschte. Er wußte genug von den wesentlichen Faktoren des Lebens, um diese Wechselbeziehung zu verstehen. Und nicht nur waren die Gebäude der Stadt gigantisch und die Massen auf der Straße gigantisch, sondern die Stimmen, die er auf den Wegen gehört hatte, Howards Unruhe, die ganze Atmosphäre – alles sprach von gigantischer Unzufriedenheit. In was für einem Lande war er. Noch schien es England und doch seltsam »unenglisch«. Sein Geist warf einen Blick auf den Rest der Welt, und er sah nur einen Rätselschleier.

Er lief in seinem Zimmer umher und prüfte alles, wie ein gefangenes Tier es tun könnte. Er fühlte sich sehr müde, fühlte jene fieberische Erschöpfung, die keine Ruhe zuläßt. Er lauschte lange Minuten unter dem Ventilator, um irgend ein fernes Echo des Tumults aufzufangen, der, wie er fühlte, in der Stadt herrschen mußte.

Er begann mit sich selber zu reden. »Zweihundert und drei Jahre!« sagte er immer wieder vor sich hin, indem er sinnlos lachte. »Also bin ich zweihundertdreiunddreißig Jahre alt! Der älteste Mensch. Sie werden doch nicht die Tendenz unserer Zeit umgekehrt haben und zu der Herrschaft der Ältesten zurückgekehrt sein? Meine Ansprüche wären unbestreitbar. Schrumm, schrumm. Ich erinnere mich der Bulgarischen Ungeheuerlichkeiten, als wäre es gestern gewesen. Es ist ein Alter! Haha!« Erst war er erstaunt, sich lachen zu hören, und dann lachte er von neuem mit Absicht und lauter. »Ruhig,« sagte er. »Ruhig!«

Sein Schritt wurde regelmäßiger. »Diese neue Welt,« sagte er. »Ich verstehe es nicht. Warum? ... Aber alles heißt warum!»

Ich denke mir, sie können fliegen und alles mögliche. Ich will versuchen und mich besinnen, wie es noch eigentlich anfing.«

Er fand mit Erstaunen, wie unbestimmt die Erinnerungen aus seinen ersten dreißig Jahren gewesen waren. Er besann sich auf Fragmente, zumeist auf triviale Momente, auf Dinge ohne große Bedeutung, die er beobachtet hatte. Seine Knabenzeit schien zunächst die zugänglichste, er entsann sich der Schulbücher und gewisser Lektionen im Vermessen. Dann erweckte er die springendsten Züge seines Lebens, Erinnerungen an seine längst tote Frau, an ihren magischen Einfluß, der jetzt über die Korruption hinaus war, an seine Rivalen und Freunde und Verräter, an die schnelle Entscheidung dieser Sache und jener, und dann an seine letzten Jahre des Elends, an schwankende Entschlüsse und zuletzt an seine emsigen Studien. Nach kurzer Zeit sah er, daß er alles wieder hatte; dunkel vielleicht, wie lange bei Seite gelegtes Metall, aber keineswegs mangelhaft oder beschädigt, der Neupolitur noch fähig. Und die Farbe war ein immer tiefer werdendes Elend. War es die Neupolitur noch wert? Durch ein Wunder war er aus einem Leben gehoben worden, das unerträglich geworden war ...

Er kam auf seine gegenwärtige Lage zurück. Er rang vergebens mit den Tatsachen. Es wurde ein unentwirrbarer Wirrwarr. Er sah den Himmel durch den Ventilator vom Sonnenaufgang gerötet. Eine alte Überzeugung kam aus den dunklen Schlupfwinkeln seines Gedächtnisses hervor. »Ich muß schlafen,« sagte er. Das erschien als eine köstliche Befreiung aus dieser geistigen Not und aus dem wachsenden Schmerz und der Schwere seiner Glieder. Er ging zu dem seltsamen, kleinen Bett, legte sich hin und schlief sofort ein ...

Er sollte freilich mit diesen Zimmern sehr vertraut werden, ehe er sie verließ, denn er blieb drei Tage lang gefangen. Während dieser Zeit betrat außer Howard niemand sein Gefängnis. Das Wunder seines Schicksals mischte sich mit dem Wunder seines Erwachens und äffte es auf irgendeine Weise nach. Er war zur Menschheit nur erwacht, so schien es, um in diese unerklärliche Einsamkeit hinweggerafft zu werden. Howard kam regelmäßig mit feinen stärkenden und nährenden Flüssigkeiten und mit leichten und angenehmen Nahrungsmitteln, die Graham ganz fremd waren. Er schloß, wenn er eintrat, stets mit großer Sorgfalt die Tür. In Dingen des Details wurde er immer liebenswürdiger, aber Grahams Verhältnis zu den großen Dingen, die offenbar jenseits der schalldichten Wände, die ihn einschlossen, so eifrig erörtert wurden, wollte er nicht aufklären. Er wich jeder Frage über den Stand der Dinge in der Außenwelt so höflich wie möglich aus.

Und in diesen drei Tagen schweiften Grahams unaufhörliche Gedanken weit und breit umher. Alles, was er gesehen hatte, all diese umständlichen Vorkehrungen, ihn am Sehen zu hindern, arbeiteten ihm im Kopf herum. Fast jede mögliche Interpretation seiner Lage erwog er – sogar, wie es sich traf, die richtige Interpretation. Dinge, die ihm bald begegnen sollten, wurden ihm zuletzt kraft seiner Abschließung glaublich. Als dann der Moment seiner Befreiung kam, fand er ihn gerüstet ...

Howards Gebaren trug viel dazu bei, Grahams Eindruck von seiner eigenen sonderbaren Bedeutung zu vertiefen, die Tür schien zwischen ihrem Auf- und Zuschlagen mit ihm einen Hauch gewichtigen Geschehens einzulassen. Seine Fragen wurden bestimmter und forschender. Howard zog sich hinter Proteste und Schwierigkeiten zurück. Das Erwachen war unvorhergesehen, wiederholte er; es sei zufällig mit dem Strom einer sozialen Umwälzung zusammengefallen. »Um das zu erklären, müßte ich Ihnen die Geschichte von anderthalb Gros Jahren erzählen,« protestierte Howard.

»Die Sache ist die,« sagte Graham, »Sie fürchten sich vor etwas, was ich tun werde. Irgendwie bin ich ein Gewalthaber – könnte ich ein Gewalthaber sein.«

»Es ist nicht das. Aber Sie haben – ich kann Ihnen soviel sagen – das automatische Anwachsen ihres Besitzes legt Ihnen große Möglichkeiten der Störung in die Hand. Und noch auf gewisse andere Arten haben Sie mit Ihren Begriffen aus dem achtzehnten Jahrhundert Einfluß.«

»Dem neunzehnten Jahrhundert,« verbesserte Graham.

»Mit Ihren Begriffen aus der alten Welt, auf jeden Fall, da Sie keinen einzigen Zug unseres Staates kennen.«

»Bin ich denn ein Narr?«

»Sicherlich nicht.«

»Scheine ich der Mann dazu zu sein, übereilt zu handeln?«

»Es war nie erwartet, daß Sie überhaupt handeln würden. Niemand rechnete auf Ihr Erwachen. Niemand träumte davon, daß Sie je erwachen würden. Der Rat hatte Sie mit antiseptischen Vorrichtungen umgeben. Wir hielten Sie für tatsächlich tot – glaubten, es sei nichts als ein Aufhalten des Verfalls. Und – aber es ist zu kompliziert. Wir dürfen nicht plötzlich – während Sie erst halb wach sind ...«

»So geht es nicht,« sagte Graham. »Angenommen, es ist, wie Sie sagen, warum werden mir nicht Tag und Nacht Tatsachen und die ganze Weisheit der Zeit eingepaukt, um mich für meine Verantwortung vorzubereiten? Bin ich jetzt klüger, als ich vor zwei Tagen war, wenn es zwei Tage her ist, daß ich erwachte?«

Howard zog sich an der Lippe.

»Ich beginne, eine Empfindung komplizierten Versteckens zu haben, in der Sie der springende Punkt sind – habe sie mit jeder Stunde klarer. Heckt dieser Rat oder dies Komitee, oder was es ist, die Abrechnung über meinen Besitz erst aus? Ist es das?«

»Dieser Ton des Argwohns« – sagte Howard.

»Uh!« machte Graham. »Nun hören Sie auf meine Worte, es wird denen, die mich hierhergebracht haben, schlecht gehen. Es wird ihnen schlecht gehen. Ich lebe. Zweifeln Sie nicht daran, ich lebe. Mit jedem Tag wird mein Puls kräftiger, mein Geist klarer und stärker. Keine Ruhe mehr. Ich bin ein Mensch, der ins Leben zurückgekommen ist. Und ich will leben –«

» Leben!«

Howards Gesicht leuchtete von einem Gedanken auf. Er ging auf Graham zu und sprach in leichtem, vertraulichem Ton.

»Der Rat schließt Sie hier zu Ihrem Wohle ab. Sie sind rastlos. Von Natur – ein energischer Mann! Sie finden es hier langweilig. Aber wir werden dafür sorgen, daß alles, was Sie wünschen mögen – jeder Wunsch – jede Art von Wunsch ... Vielleicht finden Sie etwas. Irgendwelche Gesellschaft?«

Er hielt bedeutsam inne.

»Ja,« sagte Graham nachdenklich. »Ich habe etwas.«

»Ah! Jetzt! Wir haben Sie nachlässig behandelt.«

»Die Massen in jener Straße.«

»Das«, sagte Howard, »fürchte ich – Aber –«

Graham begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Howard stand nah an der Tür und beobachtete ihn. Was Howards Andeutung meinte, war Graham nur halb klar. Gesellschaft? Wie, wenn er den Vorschlag annahm und irgendwelche Gesellschaft verlangte? Würde es möglich sein, der Unterhaltung dieser Person eine unbestimmte Ahnung von dem Kampf zu entnehmen, der so lebhaft ausgebrochen war, als er erwachte? Er sann wieder nach, und der Vorschlag nahm Farbe an. Er wandte sich plötzlich an Howard.

»Was meinen Sie mit Gesellschaft?«

Howard hob die Augen und zuckte die Schultern. »Menschliche Wesen,« sagte er mit einem merkwürdigen Lächeln auf dem schweren Gesicht.

»Unsere sozialen Ideen«, sagte er, »sind vielleicht im Vergleich mit Ihren Zeiten von einer gesteigerten Liberalität. Wenn sich ein Mann eine Langeweile wie diese – zum Beispiel durch weibliche Gesellschaft vertreiben will, so halten wir das für keinen Skandal. Wir haben die Formeln aus unserm Geist verbannt. In unserer Stadt existiert eine Klasse, eine notwendige Klasse, die nicht mehr verachtet wird – nicht mehr heimlich –.

Graham blieb stehen.

»Es würde die Zeit vertreiben,« sagte Howard. »Es ist etwas, woran ich vielleicht schon früher hätte denken sollen, aber es geschieht wirklich so viel –«

Er deutete auf die äußere Welt.

Graham zögerte. Einen Moment beherrschte die Gestalt einer möglichen Frau, die seine Phantasie plötzlich erschuf, seinen Geist mit intensivem Reiz. Dann blitzte er zornig auf.

»Nein!« rief er.

Er begann rasch im Zimmer auf und ab zu gehen. »Alles, was Sie sagen, alles, was Sie tun, überzeugt mich – von irgendwelchen großen Ereignissen, an denen ich beteiligt bin. Ich will mir nicht die Zeit vertreiben, wie Sie es nennen. Ja, ich weiß. Verlangen und Ausschweifung sind in gewissem Sinne das Leben – und der Tod! Erlöschen! In meinem Leben. ehe ich einschlief, hatte ich diese erbärmliche Frage ausgearbeitet. Ich will nicht von neuem beginnen. Hier ist eine Stadt, eine Menge – Und inzwischen sitze ich hier wie ein Kaninchen im Sack.«

Seine Wut brauste auf. Er erstickte einen Moment und begann, die geballten Fäuste zu schwingen. Er gab einem Wutanfall nach, er schwor archaische Flüche. Seine Gesten waren wie physische Drohungen.

»Ich weiß nicht, welches Ihre Partei sein mag. Ich bin im Dunkeln, und Sie halten mich im Dunkeln. Aber dies weiß ich, daß ich hier zu keinem guten Zweck abgeschlossen werde. Ich warne Sie, ich warne Sie vor den Folgen. Komme ich einmal zu meiner Macht –«

Er fühlte, solche Drohungen konnten ihm gefährlich werden. Er hielt inne. Howard stand da und sah ihn mit merkwürdigem Ausdruck an.

»Soll das eine Botschaft an den Rat sein?« fragte Howard.

Graham spürte den momentanen Impuls, auf den Mann loszuspringen, ihn zu fällen oder zu betäuben. Das muß sich auf seinem Gesicht gezeigt haben; auf jeden Fall war Howards Bewegung rasch. In einer Sekunde hatten sich die geräuschlosen Türen geöffnet und geschlossen, und der Mensch aus dem neunzehnten Jahrhundert war allein.

Einen Moment stand er starr, die geballten Fäuste halb gehoben. Dann ließ er sie fallen. »Was für ein Narr ich gewesen bin!« sagte er und gab sich von neuem seiner Wut hin, indem er im Zimmer umherstampfte und Flüche rief ... Lange Zeit blieb er in einer Art Wahnsinn, raste über seine Lage, über seine eigene Narrheit, über die Schurken, die ihn gefangen hatten. Er tat es, weil er seine Lage nicht ruhig betrachten wollte. Er klammerte sich an seine Wut – weil er sich vor der Furcht fürchtete.

Dann ertappte er sich, wie er mit sich debattierte. Diese Gefangenschaft war unerklärlich, aber ohne Zweifel erlaubten die gesetzlichen Formen – neue gesetzliche Formen – der Zeit. Natürlich mußte sie legal sein. Diese Leute waren im Marsch der Zivilisation zweihundert Jahre weiter als die viktorianische Generation. Es war unwahrscheinlich, daß sie weniger – human waren. Und doch hatten sie die Formeln aus ihrem Geist verbannt! War die Humanität ebenso wie die Keuschheit eine Formel?

Seine Phantasie begann ihre Arbeit, um Dinge zu erfinden, die man ihm antun konnte. Die Versuche seiner Vernunft, diese Andeutungen zu beseitigen, waren ganz wirkungslos, obgleich sie zum größten Teil logisch giltig waren. »Warum sollte mir etwas geschehen?«

»Wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kommt,« sagte er schließlich zu sich, »kann ich aufgeben, was sie haben wollen. Aber was wollen sie haben? Und warum verlangen sie es nicht von mir, statt mich einzusperren?«

Er kam auf seine früheren Gedanken über die möglichen Absichten des Rats zurück. Er begann die Einzelheiten in Howards Benehmen noch einmal zu erwägen, seine finsteren Blicke, sein unerklärliches Zögern. Dann kreiste sein Geist eine Zeitlang um die Idee, aus diesen Zimmern zu entkommen; aber wohin konnte er in dieser riesigen, übervollen Welt entkommen? Er würde schlimmer daran sein als ein sächsischer Freisasse, der plötzlich in das London des neunzehnten Jahrhunderts hineinversetzt worden wäre. Und dann, wie konnte jemand aus diesen Zimmern entkommen?

»Wie kann es irgend jemandem nützen, wenn mir etwas zu leide geschähe?«

Er dachte an den Aufruhr, die große, soziale Unruhe, deren Achse er so unerklärlicherweise war. Ein Text, der unerheblich genug war und sich doch merkwürdig beharrlich aufdrängte, kam aus der Dunkelheit seiner Erinnerung herauf, geschwommen. Auch ein Rat hatte folgendes gesagt:

»Es ist fördersam für uns, daß ein einzelner für das Volk sterbe.«


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