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12.
Ostrog

Graham konnte seine Lage jetzt klarer überschauen. Noch lange Zeit wanderte er umher, aber nach den Worten des Alten stand es ihm klar als die endgültige, unvermeidliche Entscheidung vor dem Geist, daß er diesen Ostrog finden mußte. Eins war klar, diejenigen, die im Hauptquartier des Aufstands waren, hatten es ausgezeichnet fertig gebracht, die Tatsache seines Verschwindens zu unterdrücken. Aber jeden Moment erwartete er, den Bericht von seinem Tode oder seiner Wiederergreifung durch den Rat zu hören.

Plötzlich stand jemand vor ihm still. »Haben Sie schon gehört?« sagte er.

»Nein!« sagte Graham und fuhr zusammen.

»Fast ein Dutzend,« sagte der Mann, »ein Dutzend Mann!« und er eilte weiter.

Eine Anzahl Männer kamen im Dunkel mit einem Mädchen vorbei; sie gestikulierten und riefen: »Kapituliert! Aufgegeben!« »Ein Dutzend Mann!« »Zwei Dutzend Mann!« »Ostrog, hurra! Ostrog, hurra!« Diese Rufe wichen zurück und wurden undeutlich.

Andere Rufende folgten. Eine Zeitlang wurde seine Aufmerksamkeit von den Fragmenten von Sätzen in Anspruch genommen, die er hörte. Er zweifelte, ob alle Englisch sprachen. Ihm flogen Fetzen zu, Fetzen wie Chinaenglisch, wie »Nigger«-Dialekt, verstümmelte und verwischte Entstellungen. Er wagte niemand mit Fragen anzusprechen. Der Eindruck, den ihm das Volk machte, stand in absolutem Mißklang mit seinen Vorurteilen über den Kampf, und er bekräftigte das Vertrauen des Alten auf Ostrog. Nur langsam konnte er sich zu dem Glauben durchringen, daß all diese Leute sich über die Niederlage des Rates freuten, daß der Rat, der ihn mit solcher Energie verfolgt hatte, doch von den beiden Seiten im Kampf die schwächere gewesen war. Und wenn das der Fall war, wie berührte es ihn? Mehrere Male zögerte er am Rande von fundamentalen Fragen. Einmal machte er kehrt und ging lange Zeit einem kleinen Mann von rundlichem, einladendem Umriß nach, aber er war außerstande, so viel Zuversicht zusammenzubringen, daß er ihn anzureden wagte.

Nur langsam ging ihm auf, daß er nach dem Windfahnenamt fragen konnte, was das Windfahnenamt auch sein mochte. Seine erste Frage hatte einfach die Anweisung zum Ergebnis, nach Westminster zu zu gehen. Seine zweite führte zu der Entdeckung eines abkürzenden Weges, auf dem er sich bald verirrte. Man wies ihn an, die Straßen, auf die er sich bisher beschränkt hatte – denn er kannte kein anderes Verkehrsmittel – zu verlassen und eine der mittleren Treppen ins Dunkel eines Kreuzwegs hinabzutauchen. Darauf folgten einige kleine Abenteuer; das hauptsächlichste die Begegnung mit einem rauhstimmigen unsichtbaren Geschöpf, das in einem fremden Dialekt sprach, der erst eine fremde Sprache schien, ein dicker Redestrom, in dem Leichen englischer Worte trieben, der Dialekt des modernen Pöbels. Dann näherte sich eine andere Stimme, die Stimme eines Mädchens, das »tralala, tralala« sang. Sie sprach mit Graham, und ihr Englisch zeigte etwas von dem gleichen Ton. Sie beteuerte, ihre Schwester verloren zu haben; sie lief, wie er meinte, unnötigerweise, gegen ihn, faßte ihn an und lachte. Aber ein Wort unbestimmten Protestes sandte sie wieder ins Unsichtbare zurück.

Die Geräusche um ihn mehrten sich. Stolpernde Leute kamen an ihm vorbei; sie redeten aufgeregt. »Sie haben sich ergeben!« »Der Rat! Doch nicht der Rat!« »Man sagt es auf den Straßen.« Der Gang schien weiter zu werden. Plötzlich wich die Mauer zurück. Er befand sich auf einem großen Platz, und fern regte sich Volk. Er fragte eine undeutliche Gestalt nach dem Wege. »Grad quer durch,« sagte eine Frauenstimme. Er verließ seine führende Mauer und war gleich darauf gegen einen kleinen Tisch gestolpert, auf dem Glasutensilien lagen. Grahams Augen, die sich jetzt ans Dunkel gewöhnten, erkannten eine lange Perspektive mit blassen Tischen auf beiden Seiten. Er ging sie entlang. An einem oder zweien der Tische hörte er ein Glasklingen und das Geräusch des Essens. Hier gab es Leute, die kühl genug waren, um zu essen, oder verwegen genug, sich trotz des sozialen Umsturzes und der Dunkelheit eine Mahlzeit zu stehlen. Dann sah er weit weg in der Höhe ein blasses Licht von halbkreisförmiger Gestalt. Als er sich ihm näherte, zog ein schwarzer Rand herauf und verbarg es. Er stolperte über Stufen und befand sich in einer Galerie. Er hörte ein Schluchzen und fand zwei verängstigte kleine Mädchen neben einem Gitter kauernd. Diese Kinder verstummten beim nahen Geräusch von Schritten. Er versuchte sie zu trösten, aber sie blieben sehr still, bis er sie verließ. Dann, als er sich entfernte, konnte er sie wieder schluchzen hören.

Schließlich sah er sich am Fuß einer Treppe und nahe bei einer weiten Öffnung. Er sah ein dunkles Zwielicht darüber und stieg aus dem Dunkel wieder auf eine Straße gleitender Wege hinauf. Auf ihr marschierte lärmend ein ungeordneter Volksschwarm hin. Sie sangen Stücke aus dem Aufstandslied, die meisten sangen falsch. Hier und dort brannten Fackeln, die kurze, hysterische Schatten schufen. Er fragte nach einem Weg, und zweimal gab ihm jener schwere Dialekt zu raten. Der dritte Versuch trug ihm eine Antwort ein, die er verstehen konnte. Er war noch zwei Meilen weit vom Windfahnenamt in Westminster entfernt, aber der Weg war leicht zu finden.

Als er schließlich dem Distrikt der Windfahnenämter nahe kam, schien es ihm nach den jubelnden Prozessionen, die die Straßen entlang kamen, nach dem Tumult der Freude und schließlich nach der Wiederherstellung der Beleuchtung der Stadt, daß die Niederwerfung des Rates schon vollzogen sein mußte. Und noch kam ihm keine Nachricht von seinem Fehlen zu Ohren.

Die Wiederbeleuchtung der Stadt trat mit erschreckender Plötzlichkeit ein. Er stand plötzlich blinzelnd still, rings um ihn blieb man geblendet stehen, und die Welt war in Glut. Das Licht traf ihn erst am Rand der aufgeregten Mengen, die die Wege in der Nähe der Windratsämter erstickten, und die Empfindung der Sichtbarkeit und der Gefahr des Erkanntwerdens, die mit ihm kam, verwandelte seine farblose Absicht, zu Ostrog zu stoßen, in scharfes Verlangen.

Eine Zeitlang wurde er von Menschen, die vom Rufen seines Namens heiser, von denen manche in seiner Sache verbunden und blutbespritzt waren, hin und her gestoßen, gehindert und gefährdet. Die Fassade des Windfahnenamts war mit einem sich bewegenden Bild illuminiert, aber was es war, konnte er nicht sehen, weil die Dichtigkeit der Menge ihn trotz seiner emsigsten Bemühungen hinderte, ihr näher zu kommen. Nach den Fragmenten von Worten, die er auffing, schloß er, daß es Bilder vom Kampf um das Ratshaus brachte. Unwissenheit und Unentschiedenheit machten ihn in seinen Bewegungen langsam und kraftlos. Eine Zeitlang konnte er sich nicht vorstellen, wie er in die undurchbrochene Fassade dieses Baus eintreten sollte. Er arbeitete sich langsam in die Mitte der Volksmasse, bis er einsah, daß die hinabführende Treppe des Mittelwegs in das Innere der Gebäude ging. Das gab ihm ein Ziel, aber das Gedränge im Mittelweg war so dicht, daß es lange dauerte, ehe er sie erreichte. Und selbst dann traf er auf komplizierte Schwierigkeiten und hatte eine Stunde lang erst in diesem Wachtraum und dann in jenem lebhaft zu streiten, ehe er es bis dahin bringen konnte, daß man dem Mann, den es von allen Menschen am meisten verlangte, ihn zu sehen, eine Nachricht brachte. Seine Geschichte wurde an einer Stelle ausgelacht, und dadurch klüger gemacht, beteuerte er, als er schließlich eine zweite Treppe erreichte, einfach, er habe Nachrichten von außerordentlicher Wichtigkeit für Ostrog. Was es war, wollte er nicht sagen. Sie schickten diesen Bescheid widerstrebend hinauf. Lange Zeit wartete er in einem kleinen Zimmer am Fuß des Liftschachts, und dahin kam zuletzt, eifrig, mit Entschuldigungen, erstaunt, Lincoln herab. Er blieb in der Tür stehen und blickte Graham forschend an; dann stürzte er überströmend auf ihn zu.

»Ja,« rief er. »Sie sind es. Und Sie sind nicht tot!«

Graham gab eine kurze Erklärung.

»Mein Bruder wartet,« sagte Lincoln. »Er ist allein im Windfahnenamt. Wir fürchteten, Sie seien im Theater getötet. Er zweifelte – und die Dinge sind trotz allem, was wir ihnen da erzählen, noch sehr dringend – sonst wäre er selbst zu Ihnen gekommen.«

Sie fuhren im Lift empor, gingen einen schmalen Gang entlang, durch eine große Halle, die abgesehen von zwei eilenden Boten leer war, und traten in ein verhältnismäßig kleines Zimmer, dessen einzige Einrichtung eine lange Ruhebank und eine große ovale Scheibe von wolkigem, veränderlichem Grau war, die an Kabeln an der Wand hing. Da verließ Lincoln Graham eine Zeitlang, und er blieb allein, ohne die veränderlichen, rauchigen Gestalten zu verstehen, die langsam über diese Scheibe trieben.

Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Ton unterbrochen, der unvermittelt einsetzte. Es war ein Jubeln, das wahnsinnige Jubeln einer ungeheuren, aber sehr fernen Menge, ein brüllendes Frohlocken. Es endete ebenso scharf, wie es begonnen hatte, wie ein Geräusch, das man zwischen dem Öffnen und Schließen einer Tür hört. Im äußeren Zimmer hörte er ein Geräusch eilender Schritte und ein melodisches Klinken, wie wenn eine lose Kette über die Zähne eines Rades läuft.

Dann hörte er die Stimme einer Frau, das Rascheln unsichtbarer Gewänder. »Es ist Ostrog!« hörte er sie sagen. Eine kleine Glocke läutete ruckweise, und dann war alles wieder still.

Draußen folgten Stimmen, Schritte und Bewegungen. Die Schritte eines einzelnen lösten sich von den anderen Geräuschen und näherten sich, feste, gleichgemessene Schritte. Der Vorhang hob sich langsam. Ein großer, weißhaariger Mann in Gewändern aus cremefarbener Seide erschien und blickte Graham unter dem gehobenen Arm her an.

Einen Moment blieb die weiße Gestalt stehen, während sie den Vorhang hielt, dann ließ sie ihn fallen und trat vor ihn hin. Grahams erster Eindruck war der einer sehr breiten Stirn, sehr blasser, blauer Augen, die tief unter weißen Brauen versunken lagen, einer Adlernase und eines entschlossenen Mundes von schweren Linien. Die Fleischfalten unter den Augen, die gesunkenen Mundwinkel widersprachen der aufrechten Haltung und sagten, der Mann war alt. Graham stand instinktiv auf, und einen Moment standen die beiden Männer sich schweigend gegenüber und maßen sich mit den Blicken.

»Sie sind Ostrog?« sagte Graham.

»Ich bin Ostrog.«

»Der Boß?«

»So nennt man mich.«

Graham empfand das Unpassende des Schweigens. »Ich höre, ich habe hauptsächlich Ihnen für meine Rettung zu danken,« sagte er alsbald.

»Wir fürchteten, Sie seien getötet,« sagte Ostrog. »Oder wieder schlafen geschickt – auf ewig. Wir haben alles getan, unser Geheimnis zu bewahren – das Geheimnis Ihres Verschwindens. Wo sind Sie gewesen? Wie sind Sie hierher gekommen?«

Graham erzählte es ihm kurz.

Ostrog hörte schweigend zu.

Er lächelte leicht. »Wissen Sie, womit ich beschäftigt war, als man kam, um mir zu sagen, Sie seien da?«

»Wie kann ich das raten?«

»Ich bereitete Ihren Doppelgänger vor.«

»Meinen Doppelgänger?«

»Einen Mann, der Ihnen so ähnlich sieht, wie wir ihn nur finden konnten. Wir wollten ihn hypnotisieren, um ihm die Schwierigkeit des Schauspielens zu ersparen. Es war unumgänglich. Dieser ganze Aufstand hängt von dem Gedanken ab, daß Sie wach, lebendig und mit uns sind. Schon jetzt hat sich eine große Volksmenge im Theater versammelt und schreit danach, Sie zu sehen. Sie trauen uns nicht ... Sie wissen natürlich – etwas von Ihrer Stellung?«

»Sehr wenig,« sagte Graham.

»Sie ist etwa so.« Ostrog ging ein oder zwei Schritte ins Zimmer und drehte sich dann um. »Sie sind absoluter Eigentümer,« sagte er, »von mehr als der Hälfte der Welt. Infolgedessen sind Sie dem Wesen nach König. Ihre Macht ist auf viele komplizierte Arten begrenzt, aber Sie sind das Bild, das populäre Symbol der Regierung. Dieser weiße Rat, der Verwaltungsrat, wie man ihn nennt –«

»Die vagen Umrisse dieser Dinge habe ich gehört.«

»Ich fragte mich gerade.«

»Ich traf auf einen geschwätzigen alten Mann.«

»Ich verstehe ... Unsere Massen – das Wort stammt aus Ihren Tagen – Sie wissen natürlich, daß wir immer noch Massen haben – sehen Sie als unsern tatsächlichen Herrscher an. Genau wie zu Ihrer Zeit sehr viele Leute die Krone als den Herrscher ansahen. Sie sind unzufrieden – die Massen über der ganzen Erde – mit der Herrschaft Ihrer Verwalter. Zum großen Teil ist es die alte Unzufriedenheit, der alte Streit des gewöhnlichen Menschen mit seiner Gewöhnlichkeit – das Elend der Arbeit und Zucht und Untauglichkeit. Aber Ihre Verwalter haben schlecht regiert. In gewissen Dingen, in der Verwaltung der Arbeitsgesellschaften zum Beispiel sind sie unklug gewesen. Sie haben endlose Gelegenheiten gegeben. Schon arbeiteten wir von der Volkspartei für Reformen – da kam Ihr Erwachen. Es kam! Wenn alles beabsichtigt gewesen wäre, es hätte nicht gelegener kommen können.« Er lächelte. »Die öffentliche Meinung, die Ihre Jahre der Ruhe nicht bedachte, war schon auf den Gedanken verfallen, Sie zu wecken und an Sie zu appellieren, und – Blitz!«

Er deutete den Ausbruch durch eine Geste an, und Graham machte zum Zeichen, daß er verstand, eine Kopfbewegung.

»Der Rat stiftete Verwirrung – zankte sich. Sie tun das immer. Sie konnten sich nicht schlüssig werden, was sie mit Ihnen anfangen sollten. Sie wissen, wie sie Sie gefangen setzten?«

»Ich verstehe. Ich verstehe. Und jetzt – wir gewinnen?«

»Wir gewinnen. Freilich, wir gewinnen. Heut abend, in fünf schnellen Stunden. Plötzlich schlugen wir überall zu. Die Windfahnenleute, die Arbeitsgesellschaft mit ihren Millionen brachen die Fesseln. Wir gewannen die Aeropilen.«

Er hielt inne. »Ja,« sagte Graham und erriet, daß Aeropilen Flugmaschinen waren.

»Das war natürlich wesentlich. Sonst hätten sie fortkommen können. Die ganze Stadt erhob sich, jeder dritte Mann beinahe war beteiligt! All die Blauen, alle öffentlichen Beamten, ausgenommen nur ein paar Aeronauten und die halbe rote Polizei. Sie wurden befreit, und ihre eigene Wegpolizei – nicht die Hälfte von ihnen konnte im Rathaus gesammelt werden – ist zersprengt, entwaffnet oder getötet. Ganz London ist unser – jetzt. Nur das Rathaus bleibt noch.«

»Die Hälfte von dem, was ihnen von der roten Polizei bleibt, ging bei dem törichten Versuch zu Grunde, Sie wiedereinzufangen. Sie verloren den Kopf, als sie Sie verloren hatten. Sie warfen alles, was sie hatten, gegen das Theater. Da haben wir sie vom Rathaus abgeschnitten. Diese Nacht ist wahrlich eine Nacht des Sieges gewesen. Überall ist Ihr Stern erstrahlt. Vor einem Tage – da herrschte der Weiße Rat noch, wie er seit einem Gros Jahren geherrscht hat, seit anderthalb Jahrhunderten, und dann – nur mit ein wenig Flüstern, einem heimlichen Bewaffnen hier und dort, plötzlich – So!«

»Ich bin sehr unwissend,« sagte Graham. »Ich vermute – ich verstehe die Verhältnisse dieses Kampfes nicht klar. Wenn Sie erklären könnten. Wo ist der Rat? Wo ist der Kampf?«

Ostrog trat durch das Zimmer, es ertönte ein Klinken, und plötzlich waren sie, abgesehen von einem ovalen Schein, im Dunkeln. Einen Moment war Graham verwirrt.

Dann sah er, daß die wolkige graue Scheibe Tiefe und Farbe angenommen hatte und das Aussehen eines ovalen Fensters zeigte, das auf eine seltsame, ungewohnte Szene hinaussah.

Im ersten Moment war er außerstande zu sagen, was diese Szene darstellen mochte. Es war eine Tageslichtszene, das Tageslicht eines grauen und klaren Wintertags. Quer über das Bild und halbwegs, wie es schien, zwischen ihm und der ferneren Szene streckte sich senkrecht ein kräftiges Kabel gewundenen, weißen Drahtes. Dann bemerkte er, daß die Reihen großer Windräder, die er sah, die weiten Intervalle, die gelegentlichen Abgründe des Dunkels denen verwandt waren, durch die er vom Rathaus entflohen war. Er erkannte eine geordnete Linie roter Gestalten, die zwischen Reihen von Männern in Schwarz über einen offenen Platz marschierten, und ihm wurde klar, ehe Ostrog noch sprach, daß er auf die obere Fläche des modernen London hinabblickte. Der Schnee der Nacht war verschwunden. Er nahm an, dieser Spiegel sei ein moderner Ersatz der Camera obscura, aber das wurde ihm nicht erklärt. Er sah, obgleich die Linie von roten Gestalten von links nach rechts marschierte, verschwanden sie nach links hin aus dem Bilde. Er wunderte sich einen Moment und sah dann, daß das Bild langsam wie ein Panorama über das Oval zog.

»In einem Moment werden Sie den Kampf sehen,« sagte Ostrog an seinem Ellbogen. »Diese Kerle in Rot, die Sie sehen, sind Gefangene. Dies ist der Dachraum von London – alle Häuser hängen jetzt zusammen. Die Straßen und öffentlichen Plätze sind eingedeckt. Die Risse und Spalten Ihrer Zeit sind verschwunden.«

Etwas, was außer Brennweite stand, verlöschte das halbe Bild. Die Form deutete auf einen Menschen. Man sah ein metallenes Glitzern, einen Blitz, etwas, was über das Oval hinfegte, wie das Augenlid eines Vogels über sein Auge fegt, und das Bild war wieder klar. Und jetzt sah Graham Leute unter den Windrädern hinlaufen und Waffen richten, aus denen kleine unruhige Blitze hervorspritzten. Sie wimmelten nach rechts hin dichter und dichter, gestikulierten – riefen vielleicht auch, doch davon sagte das Bild ihm nichts. Sie und die Windräder zogen langsam und stetig über das Spiegelfeld.

»Jetzt«, sagte Ostrog, »kommt das Rathaus,« und langsam kam eine schwarze Kante in Sicht und fesselte Grahams Aufmerksamkeit. Bald war es nicht mehr eine Kante, sondern eine Höhlung, ein riesiger geschwärzter Raum zwischen den Gebäuden, und aus ihm stiegen dünne Rauchsäulen in den blassen Winterhimmel empor. Hagere Ruinenmassen des Baues, mächtige zu Stümpfen gewordene Pfosten und Strebepfeiler stiegen finster aus dem Höhlendunkel. Und über diese Spuren eines prachtvollen Gebäudes kletterten, sprangen, wimmelten zahllose winzige Menschen.

»Das ist das Rathaus,« sagte Ostrog. »Ihre letzte Festung. Und die Narren haben genug Munition verschwendet, um einen Monat auszuhalten, indem sie die Gebäude rings herum in die Luft sprengten – es sollte unsern Sturm aufhalten. Sie hörten den Krach? Er hat die Hälfte des zerbrechlichen Glases in der Stadt zerschmettert.«

Und während er sprach, sah Graham, daß hinter diesem Bereich von Ruinen, sie überragend und zu großer Höhe steigend, eine zackige Masse weißer Gebäude stand. Diese Masse war durch die erbarmungslose Zerstörung ihrer Umgebung isoliert worden. Schwarze Lücken zeigten die Gänge, die das Unheil auseinandergerissen hatte; große Hallen waren aufgeschlitzt, und der Schmuck ihres Inneren zeigte sich elend im Wintergrauen, und die abgerissenen Wände hinunter hingen Festons geteilter Kabel und gewundene Enden von Leinen und metallischen Drähten. Und mitten in all den riesigen Einzelheiten bewegten sich kleine rote Flecken, die rotröckigen Verteidiger des Rates. Hin und wieder beleuchteten matte Blitze die finsteren Schatten. Beim ersten Blick schien es Graham, als rücke ein Angriff auf dieses isolierte, weiße Gebäude vor, aber dann sah er, daß die Aufstandspartei nicht vorrückte, sondern unter den kolossalen Trümmern, die diese letzte, zerfetzte Festung der rotgewandeten Leute umgaben, geschützt, ein ununterbrochenes Feuern unterhielten.

Und vor nicht zehn Stunden hatte er in einem kleinen Zimmer in jenem fernen Bau unter den Ventilationsfächern gestanden und sich gefragt, was wohl in der Welt vorging.

Als er aufmerksamer hinblickte, während diese kriegerische Episode langsam über das Zentrum des Spiegels zog, sah Graham, daß das weiße Gebäude auf allen Seiten von Ruinen umgeben war, und Ostrog fuhr fort und beschrieb in konzisen Sätzen, wie seine Verteidiger durch solche Zerstörung versucht hatten, sich gegen einen Sturm zu isolieren. Von dem Menschenverlust, den der riesige Einsturz zur Folge gehabt hatte, sprach er in einem gleichgiltigen Ton. Er zeigte auf eine improvisierte Begräbnisstätte zwischen den Trümmern, zeigte Ambulanzen, die eine Trümmerrinne, die einst eine Straße gleitender Wege gewesen war, Käsemaden gleich entlang wimmelten. Mit mehr Interesse wies er auf die Teile des Rathauses, die Verteilung der Belagerer hin. In kurzer Zeit war der Bürgerkampf, der London umgewälzt hatte, Graham kein Geheimnis mehr. Es war kein wirrer Aufstand, was in dieser Nacht stattgefunden hatte, kein gleichmäßiger Krieg, sondern ein glänzend organisierter coup d'état. Ostrogs Beherrschung der Einzelheiten war erstaunlich; er schien das Amt selbst der kleinsten Schar schwarzer und roter Flecken zu kennen, die an diesen Orten umherkrochen.

Er streckte einen riesigen schwarzen Arm über das Bild und zeigte das Zimmer, aus dem Graham entkommen war, und über den Trümmerabgrund den Lauf seiner Flucht. Graham erkannte den Abgrund wieder, über den die Rinne hinlief, und die Windräder, unter denen er vor der Flugmaschine gekauert hatte. Der Rest seines Pfades war der Explosion erlegen. Er blickte noch einmal aufs Rathaus, und es war schon halb verborgen, und rechts glitt ein Hügelhang mit einem Gedränge von Kuppeln und Zinnen, undeutlich und fern, in Sicht.

»Und der Rat ist wirklich überwunden?« sagte er.

»Überwunden,« sagte Ostrog.

»Und ich – ist es wirklich wahr –?«

»Sie sind Herr der Welt.«

»Aber diese weiße Flagge da –«

»Das ist die Flagge des Rats – die Flagge der Weltherrschaft. Sie wird fallen. Der Kampf ist vorüber. Ihr Angriff aufs Theater war ihr letztes, rasendes Ringen. Sie haben nur noch tausend Mann oder so, und manche von denen werden nicht treu bleiben. Sie haben wenig Munition. Und wir erneuern die alten Künste. Wir gießen Kanonen.«

»Aber – Hilfe. Ist diese Stadt die Welt?«

»Tatsächlich ist sie alles, was sie von ihrem Reich noch hatten. Im Ausland haben die Städte sich entweder mit uns erhoben, oder sie warten den Ausgang ab. Ihr Erwachen hat sie verwirrt, gelähmt.«

»Aber hat der Rat keine Flugmaschinen? Warum gibt es keinen Kampf mit denen?«

»Sie hatten welche. Aber der größere Teil der Aeronauten war mit uns im Aufstand. Sie wollten nicht das Risiko laufen, auf unserer Seite zu kämpfen, aber sie wollten sich nicht gegen uns rühren. Wir mußten ein Scharmützel mit den Aeronauten kämpfen. Reichlich die Hälfte war für uns, und die anderen wußten es. Sowie sie wußten, daß Sie fort waren, fielen die, die nach Ihnen ausschauten. Wir haben den Mann, der auf Sie schoß, getötet – vor einer Stunde. Und wir besitzen die Flugbühnen in allen Städten, wo wir konnten, gleich im Beginn, und so hielten wir auch die Aeronauten auf und nahmen sie, und was die kleinen Flugmaschinen angeht, die hinauskamen – denn einige kamen hinaus – so unterhielten wir ein zu stetiges und direktes Feuer, als daß sie sich dem Rathaus hätten nähern können. Wenn sie sich senkten, konnten sie nicht wieder steigen, weil dort herum kein offener Raum zum Aufstieg vorhanden ist. Mehrere haben wir zerschmettert, mehrere andere fielen und ergaben sich, der Rest ist zum Kontinent davon, um eine befreundete Stadt zu finden, wenn ihnen das gelingt, ehe ihre Heizung ausgeht. Die meisten von diesen Leuten waren nur zu froh, sich gefangen nehmen zu lassen und vor Unheil bewahrt zu werden. Mit einer Flugmaschine umschlagen, das ist keine sehr reizvolle Aussicht. Von der Seite hat der Rat nichts zu erwarten. Seine Tage sind vorbei.«

Er lachte und wandte sich wieder zu dem ovalen Bild, um Graham zu zeigen, was er mit Flugbühnen meinte. Selbst die vier nächsten waren fern und von dichtem Morgennebel verdunkelt. Aber Graham konnte erkennen, daß es sehr riesenhafte Bauten waren, selbst nach dem Maßstab der Dinge rings um ihn beurteilt.

Und dann, als diese dunklen Gestalten nach links strichen, kam wieder die Fläche in Licht, über die die Entwaffneten in Rot marschiert waren. Und dann die schwarzen Ruinen, und dann wieder die belagerte weiße Festung des Rates. Sie erschien nicht mehr als gespenstischer Turm, sondern sie glühte bernsteinfarben im Sonnenschein, denn ein Wolkenschatten war vorübergezogen. Rings hing der Pygmäenkampf noch in der Schwebe, aber jetzt feuerten die roten Verteidiger nicht mehr.

So sah der Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert in dämmriger Stille die Schlußszene des großen Aufstandes, die gewaltsame Aufrichtung seiner Herrschaft. Mit einem Gefühl erschreckender Entdeckung ging es in ihm auf, daß dies seine Welt war, und nicht jene andere, die er hinter sich gelassen hatte; daß dies kein Schauspiel war, das zu einem Höhepunkt führt und aufhört; daß in dieser Welt lag, was vom Leben noch vor ihm stand; hier lagen seine Pflichten, Gefahren und Verantwortungen. Er wandte sich mit frischen Fragen um, Ostrog begann sie zu beantworten und brach dann plötzlich ab. »Aber diese Dinge muß ich Ihnen später ausführlicher erklären. Zunächst sind – Pflichten vorhanden. Das Volk kommt auf den gleitenden Wegen von allen Seiten der Stadt in diesen Bezirk herbeigeströmt – die Märkte und Theater sind gedrängt voll. Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Sie lärmen und wollen Sie sehen. Und auswärts will man Sie sehen. Paris, New York, Chikago, Denver, Capri – Tausende von Städten haben sich erhoben, sind in Aufruhr, unentschieden, und verlangen lärmend, Sie zu sehen. Sie haben seit Jahren verlangt, man solle Sie wecken, und jetzt, wo es geschehen ist, werden sie kaum glauben –«

»Aber ich kann – doch nicht hingehen ...«

Ostrog antwortete von der anderen Seite des Zimmers, und das Bild auf der ovalen Scheibe verblich und verschwand, als das Licht wieder aufsprang. »Es gibt Kinetotelephotographien,« sagte er. »Wenn Sie sich hier gegen das Volk verbeugen – werden in der ganzen Welt Myriaden von Menschen, die in verdunkelten Sälen gedrängt und still stehen, Sie gleichfalls sehen. In Schwarz und Weiß natürlich – nicht so. Und Sie werden ihr Rufen, das Rufen in der Halle verstärken hören.«

»Und dann werden wir eine optische Vorrichtung benutzen,« sagte Ostrog, »die manche von den Akrobaten und Tänzerinnen anwenden. Sie ist Ihnen vielleicht neu. Sie stehen in sehr hellem Licht und sie sehen ein vergrößertes Bild von Ihnen auf einen Schirm geworfen – so daß selbst der fernste Mann auf der letzten Galerie, wenn er will, ihre Wimpern zählen kann.«

Graham griff verzweifelt nach einer der Fragen, die ihm im Geist lagen. »Wieviel Einwohner hat London?« sagte er.

»Achtundzwaindig Myriaden.«

»Acht und was?«

»Mehr als dreiunddreißig Millionen.«

Diese Ziffern überstiegen Grahams Phantasie.

»Man wird erwarten, daß Sie etwas reden,« sagte Ostrog. »Nicht, was Sie früher eine Rede nannten, sondern was unser Volk ein Wort nennt – nur einen Satz, sechs oder sieben Worte. Eine Formel. Wenn ich raten dürfte: ›Ich bin erwacht, und mein Herz ist mit euch.‹ Das ist etwa, was sie wollen.«

»Wie war das?« fragte Graham.

»›Ich bin erwacht, und mein Herz ist mit euch.‹ Und verbeugen Sie sich – verbeugen Sie sich königlich. Aber erst müssen Sie schwarze Kleider haben – denn schwarz ist Ihre Farbe. Ist es Ihnen unangenehm? Und dann werden Sie sich zerstreuen.«

Graham zögerte. »Ich bin in Ihrer Hand,« sagte er.

Ostrog war klärlich auch dieser Meinung. Er dachte einen Moment nach, wandte sich zu dem Vorhang und rief einigen unsichtbaren Dienern kurze Anweisungen zu. Fast sofort wurde ein schwarzes Gewand gebracht, das dem, was Graham im Theater getragen, zum Verwechseln ähnlich sah. Und als er es über die Schulter warf, kam aus dem äußeren Zimmer das Schrillen einer hohen Glocke. Ostrog wandte sich fragend zu dem Diener, schien dann plötzlich anderen Sinnes zu werden, zog den Vorhang zur Seite und verschwand.

Einen Moment stand Graham mit dem achtungsvollen Diener da und lauschte auf Ostrogs sich entfernende Schritte. Man hörte rasche Fragen und Antworten und laufende Menschen. Der Vorhang wurde zurückgezogen, und Ostrog kam zurück: sein massives Gesicht glühte vor Erregung. Er ging mit großen Schritten durchs Zimmer, machte das Zimmer dunkel, faßte Grahams Arm und zeigte auf den Spiegel.

»Gerade, als wir uns abwendeten,« sagte er.

Graham sah seinen Zeigefinger, schwarz und kolossal, über dem gespiegelten Rathaus. Einen Moment verstand er nicht. Und dann sah er, daß der Flaggenstab, der das weiße Banner getragen hatte, leer war.

»Wollen Sie sagen –?« begann er.

»Der Rat hat sich ergeben. Seine Herrschaft ist auf ewig zu Ende.«

»Sehen Sie!« und Ostrog zeigte auf eine schwarze Windung, die den leeren Fahnenmast in kleinen Sprüngen emporstieg und sich im Steigen entfaltete.

Das ovale Bild blich, als Lincoln den Vorhang beiseite zog und eintrat.

»Sie lärmen,« sagte er.

Ostrog hielt Grahams Arm gefaßt.

»Wir haben das Volk aufgereizt,« sagte er. »Wir haben ihm Waffen gegeben. Für heute wenigstens müssen seine Wünsche Gesetz sein.«

Lincoln hielt den Vorhang offen, damit Graham und Ostrog passieren konnten ...

Auf dem Weg zu den Märkten bekam Graham flüchtig einen langen, schmalen weißwandigen Raum zu sehen, in dem Leute in der allgemeinen blauen Leinwand verdeckte bahrenartige Dinge trugen, und die Männer im ärztlichen Purpur hin und her eilten. Aus diesem Raum drang Stöhnen und Klagen hervor. Er sah ein Bild von einem leeren, blutbefleckten Lager, von Leuten auf anderen Lagern, bandagiert und blutbefleckt. Es war nur ein flüchtiger Blick von einem schienenbelegten Fußpfad aus, und dann verbarg ein Pfeiler den Ort, und sie gingen zu den Märkten weiter ...

Jetzt war das Gebrüll der Menge nah, es stieg zum Donner. Und sein Auge fesselnd, kam am Ende eines langen Ganges ein Flattern schwarzer Banner, ein Schwenken blauer Leinwand und brauner Lumpen und der wimmelnde Riesenbau des Theaters in der Nähe der öffentlichen Märkte in Sicht. Das Bild erweiterte sich. Er sah, sie betraten das große Theater seines ersten Auftretens, das große Theater, das er auf seiner Flucht vor der roten Polizei zuletzt als ein Schachwerk von Licht und Schatten gesehen hatte. Diesmal betrat er es durch eine Galerie hoch über der Bühne. Das Gebäude war jetzt wieder glänzend erleuchtet. Er suchte den Gang, den er hinaufgeflohen war, aber konnte ihn von Dutzenden seinesgleichen nicht unterscheiden; auch konnte er nichts von den zerschmetterten Sitzen, den aufgeschlitzten Kissen und ähnlichen Spuren des Kampfes sehen, weil das Volk zu dicht stand. Abgesehen von der Bühne war der ganze Bau gedrängt voll. Als er hinabsah, sah er eine riesige Fläche getüpfelten Rosas, jedes Pünktchen ein emporgewandtes Gesicht, das ihn ansah. Als er mit Ostrog erschien, erstarb der Jubel, erstarb das Singen, ein gemeinsames Interesse beruhigte und einigte den Wirrwarr. Es schien, als beachte ihn aus diesen Myriaden jeder einzelne.


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