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10.
Die Schlacht des Dunkels

Er war nicht mehr in der Halle. Er marschierte eine Galerie entlang, die über einer der großen Straßen mit den gleitenden Plattformen hing, wie sie die Stadt durchzogen. Vor ihm und hinter ihm stampfte seine Wache. Das ganze Hohl der gleitenden Wege unten war eine gedrängte Volksmasse, die nach links hin stampfte, schrie, mit Händen und Armen winkte, endlos eine riesige Perspektive hinströmte, schrie, wenn sie in Sicht kam, schrie, wo sie vorüberging, schrie, wenn sie verschwand, bis die Kugeln elektrischen Lichtes, die in der Perspektive hinzogen, scheinbar niedersanken und die wimmelnden bloßen Köpfe verbargen. Eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei.

Der Gesang brüllte jetzt zu Graham empor, nicht mehr von Musik getragen, sondern heiser und lärmend; und das Stampfen der marschierenden Füße, eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei, verwob sich mit einem unregelmäßigen Donner der Schritte des undisziplinierten Pöbels, der die höheren Wege hinströmte.

Plötzlich fiel ihm ein Gegensatz auf. Die Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schienen verlassen, die Kabel und Brücken, die über den Flügel hingen, waren leer und schattig. Graham schien, auch sie hätten vom Volke wimmeln sollen.

Er fühlte eine merkwürdige Erregung – ein Pochen – sehr rasch! Er blieb noch einmal stehen. Die Wachen vor ihm marschierten weiter; die hinter ihm machten gleich ihm halt. Er sah die Richtung ihrer Gesichter. Das Pochen hatte etwas mit den Lichtern zu tun. Auch er blickte auf.

Erst schien es ihm etwas, was nur die Lichter anging, ein isoliertes Phänomen, das mit den Dingen unten nichts zu tun hatte. All die großen Bälle blendender Weiße wurden gleichsam gepackt, wie in einem Zusammenzucken komprimiert, wie in einem fester werdenden Griff, Dunkel, Licht, Dunkel in raschem Wechsel.

Es wurde Graham klar, daß dieses seltsame Vorhaben der Lichter mit dem Volke unten zu tun hatte. Die Erscheinung der Häuser und Straßen, die Erscheinung der gedrängten Massen unten änderte sich, wurde ein Wirrwarr lebhafter Lichter und springender Schatten. Er sah, eine Menge von Schatten war zu aggressivem Dasein erwacht, schien herbeizustürzen, sich zu verbreitern, zu erweitern, mit stetiger Schnelligkeit zu wachsen – plötzlich zurückzuspringen und verstärkt wiederzukommen. Das Singen und das Stampfen hatte aufgehört. Der einmütige Marsch, entdeckte er, hatte aufgehört, er sah Wirbel, Seitenfluten, hörte Rufe: »Die Lichter!« Viele Stimmen riefen durcheinander ein und dasselbe. »Die Lichter!« riefen diese Stimmen. »Die Lichter!« Er blickte hinab. In diesem tanzenden Tod des Lichts war das Gebiet der Straße plötzlich zu einem ungeheuren Ringen geworden. Die riesigen weißen Bälle wurden purpurweiß, purpurn mit rötlichem Schein, flackerten, flackerten schneller und schneller, schwankten zwischen Leuchten und Erlöschen, hörten auf zu flackern und wurden zu bloßen erblassenden Flecken glühenden Rots in ungeheurer Finsternis. In zehn Sekunden war das Erlöschen vollzogen, und es blieb nur dieses brüllende Dunkel, eine schwarze Ungeheuerlichkeit, die plötzlich all die glitzernden Myriaden von Menschen verschlungen hatte.

Er fühlte unsichtbare Gestalten um sich; seine Arme wurden ergriffen. Irgend etwas schlug ihm scharf gegen das Schienbein. Eine Stimme schrie ihm ins Ohr: »Es sei alles in Ordnung – alles in Ordnung!«

Graham schüttelte die Lähmung seines ersten Erstaunens ab. Er schlug mit der Stirn gegen die Lincolns und rief: »Was bedeutet diese Dunkelheit?«

»Der Rat hat die Ströme abgeschnitten, die die Stadt beleuchten. Wir müssen warten – halten. Das Volk wird weitergehen. Es wird –«

Seine Stimme wurde ertränkt. Andere Stimmen riefen: »Rettet den Schläfer. Habt acht auf den Schläfer.« Eine Wache stolperte gegen Graham und verletzte ihm die Hand durch einen unachtsamen Stoß ihrer Waffe. Ein wilder Aufruhr tobte und wirbelte um ihn, wurde, wie es schien, mit jedem Moment lauter, dichter, wütender. Fragmente erkennbarer Töne erreichten ihn und wurden fortgewirbelt, wenn sein Geist ausgriff, um sie zu fassen. Stimmen schienen sich widerstreitende Befehle zu rufen, andere Stimmen antworteten. Plötzlich ertönte dicht unter ihnen eine Folge durchdringender Schreie.

Eine Stimme schrie ihm ins Ohr: »Die rote Polizei,« und dann wich sie zurück, so daß seine Fragen sie nicht mehr erreichten.

Ein prasselnder Laut wuchs bis zur Deutlichkeit, und zugleich erschienen blasse springende Blicke am Rande der weiteren Straße hin. Bei ihrem Licht sah Graham die Köpfe und Körper einer Anzahl von Männern, die mit Waffen gleich denen seiner Wache bewaffnet waren, einen Moment in dunkle Sichtbarkeit emporblitzen. Das ganze Gebiet begann zu prasseln, von kleinen, flüchtigen Lichtstreifen zu blitzen, und dann rollte plötzlich wie ein Vorhang das Dunkel zurück.

Ein Lichtglanz blendete ihm die Augen, eine ungeheure, siedende Fläche ringender Menschen verwirrte ihm den Geist. Ein Schrei, ein Jubelausbruch klang über die Straßen her. Er blickte in die Höhe, um die Quelle des Lichtes zu sehen. Hoch zu Häupten hing ein Mann vom oberen Ende eines Kabels herab und hielt an einem Tau den blendenden Stern, der das Dunkel zurückgetrieben hatte. Er trug eine rote Uniform.

Grahams Auge fiel wieder auf die Straßen. Ein roter Keil, ein wenig die Perspektive hinauf, fesselte seinen Blick. Er sah, es war eine dichte Masse rotgekleideter Männer, die auf dem höheren Weg eingeklemmt waren, den Rücken gegen die erbarmungslose Klippe von Gebäuden, umringt von einer dichten Menge von Gegnern. Sie kämpften. Waffen blitzten und stiegen und sanken, Köpfe verschwanden am Rande des Ringens, und andere Köpfe traten an ihre Stelle, die kleinen Blitze aus den grünen Waffen wurden zu kleinen Strahlen rauchigen Graus, solange das Licht dauerte.

Plötzlich verlosch der Schein, und die Straßen waren noch einmal ein tintiges Dunkel, ein geheimnisvoller Aufruhr.

Er fühlte etwas gegen sich stoßen. Er wurde die Galerie entlanggeschoben. Jemand schrie – vielleicht war es für ihn gemeint. Er war zu verwirrt, um zu hören. Er wurde gegen die Mauer gestoßen, und eine Anzahl von Leuten strauchelte an ihm vorüber. Ihm schien, seine Wachen rangen miteinander.

Plötzlich erschien der am Kabel hängende Sternträger von neuem, und die ganze Szene war weiß und blendend. Der Streif von Rotjacken schien breiter und näher; die Spitze stand die Straßen halbwegs zum Zentralschiff hinunter.

Und als er die Augen aufhob, sah Graham, daß eine Anzahl dieser Männer jetzt auch in den verdunkelten unteren Galerien der gegenüberliegenden Gebäude erschienen war und über die Köpfe ihrer Genossen unten hin auf den kochenden Volkswirrwarr der unteren Plattformen feuerte. Die Bedeutung dieser Dinge dämmerte ihm auf. Der Marsch des Volkes war gleich im Beginn auf einen Hinterhalt gestoßen. Durch das Verlöschen der Lichter in Verwirrung gebracht, wurden sie jetzt von der roten Polizei angegriffen. Dann merkte er, daß er allein stand, daß seine Wachen und Lincoln die Galerie in der Richtung, aus der sie gekommen waren, ehe das Dunkel hereinbrach, weitergegangen waren. Er sah, daß sie ihm zugestikulierten und zu ihm zurückgelaufen kamen, über die Straßen her kam ein lautes Rufen. Dann schien es, als sei die ganze Fassade des dunklen Gebäudes gegenüber mit rotgekleideten Menschen bedeckt und gesprenkelt. Und sie zeigten zu ihm herüber und riefen. »Der Schläfer! Rettet den Schläfer!« rief eine Vielheit von Kehlen.

Irgend etwas schlug über seinem Kopf gegen die Mauer. Er blickte bei dem Schlag nach oben und sah silbriges Metall sternförmig auseinanderspritzen. Er sah Lincoln neben sich. Fühlte seinen Arm gepackt. Dann scht! scht! er war zweimal gefehlt.

Einen Moment verstand er das nicht. Die Straße war verborgen, alles war verborgen, als er hinsah. Die zweite Leuchte war ausgebrannt.

Lincoln hatte Graham am Arm gepackt und zog ihn die Galerie entlang. »Vor dem nächsten Licht!« rief er. Seine Eile steckte an. Grahams Instinkt der Selbsterhaltung überwand die Lähmung seines ungläubigen Staunens. Er wurde auf eine Zeitlang das blinde Geschöpf der Todesfurcht. Er lief und stolperte wegen der Ungewißheit des Dunkels und prallte auf seine Wachen, als sie sich umdrehten, um mit ihm zu laufen. Eile war sein einziges Verlangen, von dieser gefährlichen Galerie zu entkommen, auf der er bloßgestellt war. Eine dritte Leuchte folgte ihrer Vorgängerin rasch. Zugleich kam ein wildes Geschrei über die Straße her und von den Plattformen ein antwortender Aufruhr. Die Rotröcke unten, sah er, hatten jetzt fast den Mittelweg erreicht. Ihre zahllosen Gesichter wandten sich zu ihm herauf, und sie schrien. Die weiße Fassade gegenüber war dicht mit Rot getüpfelt. Alle diese wunderbaren Dinge gingen ihn an, drehten sich um ihn wie um einen Achsenpunkt. Dort waren die Wachen des Rates, die ihn wieder zu fangen suchten.

Es war ein Glück für ihn, daß diese Schüsse seit hundertundfünfzig Jahren die ersten waren, die im Ernst gefeuert wurden. Er hörte die Kugeln über dem Kopf hinpfeifen und fühlte, wie das Spritzen geschmolzenen Metalls sein Ohr stach; er sah, ohne hinzusehen, daß die ganze Fassade gegenüber, ein demaskierter Hinterhalt der roten Polizei, gedrängt voll, gegen ihn schrie und auf ihn schoß.

Eine seiner Wachen vor ihm stürzte, und Graham, außerstande anzuhalten, sprang über den sich windenden Körper weg.

In der nächsten Sekunde war er unverletzt in einen schwarzen Gang getaucht, und sofort prallte jemand, der vielleicht aus einer Querrichtung kam, heftig gegen ihn. Er wirbelte in absolutem Dunkel eine Treppe hinunter. Er taumelte und wurde noch einmal gestoßen und flog mit den Händen gegen eine Mauer. Ihn zermalmte ein Druck ringender Körper, er wurde herumgewirbelt und nach rechts gestoßen. Ein ungeheurer Druck klemmte ihn fest. Er konnte nicht atmen, die Rippen schienen ihm zu krachen. Er fühlte momentanes Nachlassen, und dann trug ihn die ganze Volksmasse in vereinter Bewegung zu dem großen Theater zurück, aus dem er erst so kürzlich gekommen war. Es gab Momente, in denen seine Füße den Boden nicht berührten. Dann stolperte und schob er. Er hörte Rufe: »Sie kommen!« und ein gedämpfter Schrei stieg zu ihm auf. Sein Fuß stieß gegen etwas Weiches, er hörte einen heiseren Schrei unter den Füßen. Er hörte Rufe: »Der Schläfer!« aber er war zu verwirrt, um zu reden. Er hörte die grünen Waffen prasseln. Eine Zeitlang verlor er seinen individuellen Willen, wurde zum Atom in einer Panik, blind, ohne Gedanken, mechanisch. Er stieß und drängte zurück und wand sich im Druck, stieß gegen eine Stufe und merkte, daß er einen Hang emporstieg. Und plötzlich sprangen all die Gesichter rings um ihn sichtbar aus dem Schwarz empor, gespenstisch weiß und erstaunt, erschreckt und voll Schweiß in fahlem Lichtschein. Ein Gesicht, das eines jungen Mannes, war ihm sehr nahe, keine zwanzig Zoll entfernt. In dem Moment war es nur ein flüchtiger Zwischenfall ohne Emotionswert, aber später suchte es ihn in seinen Träumen heim. Denn dieser junge Mann, der eine Zeitlang aufrecht in der Menge eingekeilt stand, war erschossen worden und war schon tot.

Ein vierter weißer Stern mußte von dem Mann am Kabel entzündet worden sein. Das Licht kam durch riesige Fenster und Bogen hereingestrahlt und zeigte Graham, daß er jetzt ein einzelner in einer dichten Masse schwarzer Gestalten war, die quer durch den unteren Raum des großen Theaters zurückgestaut wurde. Diesmal war das Bild fahl und fragmentarisch, von schwarzen Schatten verdunkelt und durchzogen. Er sah, daß ganz in seiner Nähe die roten Wachen einen Weg durchs Volk erkämpften. Er konnte nicht sagen, ob sie ihn sahen. Er blickte sich nach Lincoln und seinen Wachen um. Er sah Lincoln dicht bei der Bühne des Theaters von einer Schar schwarzer Revolutionäre umgeben und emporgehoben hin und her spähen, als suche er ihn. Graham merkte, daß er selber nahe am entgegengesetzten Rand der Menge stand, daß sich hinter ihm, durch eine Barriere abgetrennt, die jetzt leeren Sitze des Theaters erhoben. Ihm kam ein plötzlicher Gedanke, und er begann sich einen Weg zur Barriere zu bahnen. Als er sie erreichte, erlosch das Licht.

Im Nu hatte er den großen Mantel abgeworfen, der nicht nur seine Bewegungen hinderte, sondern ihn auch auffällig machte, und ließ ihn von den Schultern gleiten. Er hörte jemanden über seine Falten stolpern. Im nächsten Moment war er über die Barriere geklettert und in das Dunkel dahinter gesprungen. Dann tastete er sich vorwärts und kam zum unteren Ende eines steigenden Ganges. Im Dunkeln hörte der Lärm des Feuerns auf, und das Gebrüll der Stimmen und Füße ließ nach. Dann plötzlich kam er zu einer unerwarteten Stufe, stolperte und fiel. Als er das tat, sprangen um ihn wieder Lachen und Inseln in lebhaftes Licht empor, der Aufruhr brandete lauter, und der Schein des fünften Sternes leuchtete durch die riesigen Fensterwerke der Theaterwände.

Er rollte unter ein paar Sitze, hörte ein Rufen und das schwirrende Rasseln von Waffen und wurde wieder zurückgestoßen; er sah, daß rings um ihn eine Menge schwarzgezeichneter Leute auf die Roten unten feuerten, indem sie von Sitz zu Sitz sprangen und zum Wiederladen zwischen den Sitzen niederkauerten. Instinktiv kauerte auch er sich zwischen den Sitzen nieder, als verirrte Schüsse die pneumatischen Polster ritzten und helle Striche über die weichen metallenen Rahmen schnitten. Instinktiv merkte er sich die Richtung des Ganges, den brauchbarsten Weg zur Flucht für ihn, sobald sich der Schleier des Dunkels wieder senken würde.

Ein junger Mann in verblaßten blauen Gewändern kam über die Sitze gesprungen. »Hallo!« sagte er, als seine Füße sechs Zoll weit vom Gesicht des kauernden Schläfers vorüberflogen.

Er starrte ihn ohne Zeichen des Erkennens an, drehte sich ab, um zu feuern, feuerte und wollte gerade mit dem Ruf: »Zur Hölle mit dem Rat!« zum zweitenmal feuern. Da schien es Graham, als sei die Hälfte des Halses dieses Mannes verschwunden. Ein feuchter Tropfen fiel Graham auf die Backe. Die grüne Waffe blieb halb erhoben stehen. Einen Moment stand der Mann mit plötzlich ausdruckslosem Gesicht da, dann neigte er sich nach vorn. Seine Knie bogen sich. Mensch und Dunkelheit fielen zusammen nieder. Bei dem Geräusch seines Falles sprang Graham auf und lief um sein Leben, bis ihn eine Stufe zu dem Gang hinunter umwarf. Er sprang auf die Füße, wandte sich den Gang hinauf und lief weiter.

Als der sechste Stern aufleuchtete, war er schon dicht an dem gähnenden Schlund eines Korridors. Er lief im Licht nur um so schneller vorwärts und wandte sich um eine Ecke wieder in absolute Nacht. Er wurde zur Seite geschleudert, stürzte vornüber und kam wieder auf die Füße. Er merkte, daß er in einer Menge unsichtbarer Flüchtlinge dahinlief, die alle in einer Richtung drängten. Sein einziger Gedanke war jetzt auch ihr Gedanke; aus diesem Kampf zu entkommen. Er schob und stieß, stolperte, lief, wurde festgekeilt, verlor den Boden und kam wieder klar.

Einige Minuten lang lief er im Dunkeln einen gewundenen Gang entlang, und dann kam er über einen weiten und offenen Raum, lief eine lange Neigung hinab und kam schließlich auf einer Stufenflucht zu einem ebenen Platz hinunter. Viele Menschen riefen: »Sie kommen! Die Wachen kommen. Sie feuern. Fort aus dem Kampf. Die Wachen feuern. In Siebentweg wird es sicher sein. Hier entlang nach Siebentweg!« In der Menge waren so gut Frauen und Kinder wie Männer. Männer riefen ihm Namen zu. Die Menge strömte zu einem Torweg zusammen, drängte durch einen kurzen Schlund und tauchte wieder auf einem weiteren Raum auf, der dunkel erleuchtet war. Die schwarzen Gestalten um ihn breiteten sich aus und liefen etwas hinauf, was im Zwielicht als eine gigantische Treppenflucht erschien. Er folgte. Das Volk zerstreute sich nach rechts und links ... Er merkte, daß er nicht mehr in einer Menge mitlief. Er blieb kurz vor der obersten Stufe stehen. Vor ihm standen auf der Höhe Stuhlgruppen und ein kleiner Kiosk. Da stieg er hinauf, stellte sich in den Schatten seiner Dachrinne und sah sich atemlos um.

Alles war unbestimmt und grau, aber er erkannte, daß diese großen Stufen eine Reihe von Plattformen der »Straßen« waren, die jetzt wieder regungslos standen. Die Plattform stieg auf beiden Seiten schräg hoch, und dahinter erhoben sich die großen Gebäude, riesige undeutliche Gespenster, die Inschriften und Reklamen undeutlich sichtbar, und oben zwischen den Strebepfeilern und Kabeln lief ein durchbrochenes Band bleichen Himmels hin. Eine Anzahl von Leuten lief vorbei. Nach ihren Rufen und Stimmen schien es, sie eilten in den Kampf. Andere, weniger laute Gestalten schlüpften furchtsam unter dem Schatten hin.

Von sehr fern her, die Straße hinunter, konnte er den Lärm eines Ringens hören. Aber ihm war klar, dies war nicht die Straße, auf die das Theater ging. Jener andere Kampf, so schien es, war plötzlich außer Hör- und Schallweite gesunken. Und – welch grotesker Gedanke! – sie kämpften für ihn!

Eine Zeitlang glich er einem Menschen, der die Lektüre eines sehr lebhaften Buches unterbricht und plötzlich bezweifelt, was er ohne zu fragen hingenommen hat. Er hatte zur Zeit wenig Sinn für Einzelheiten; die Gesamtwirkung war ungeheures Erstaunen. Sonderbarerweise kostete es ihn Mühe, sein Erwachen und die nachdenkliche Zwischenzeit der stillen Zimmer einzuschalten, während die Flucht aus dem Ratsgefängnis, die große Masse in der Halle und der Angriff der roten Polizei auf das wimmelnde Volk in seinem Geist klar gegenwärtig war. Jene Dinge übersprang sein Gedächtnis zuerst und führte ihn zu dem Wasserfall bei Pentargen zurück, der im Winde zitierte, und zu all der düsteren Pracht der sonnenhellen cornischen Küste. Der Gegensatz tauchte alles in Unwirklichkeit. Und dann füllte die Lücke sich, und er begann seine Lage zu begreifen.

Sie war ihm nicht mehr absolut ein Rätsel, wie es in den stillen Zimmern gewesen war. Wenigstens hatte er jetzt den seltsamen, nackten Umriß. Er war irgendwie Eigentümer der halben Welt, und große politische Parteien kämpften um seinen Besitz. Auf der einen Seite stand der weiße Rat mit seiner roten Polizei, resolut entschlossen, wie es schien, sein Eigentum zu usurpieren und ihn vielleicht zu ermorden; auf der anderen die Revolution, die ihn befreit hatte, mit diesem noch nicht gesehenen »Ostrog« als Führer. Und diese ganze, gigantische Stadt war durch ihren Kampf in Aufruhr gebracht. Wahnsinnige Entwicklung seiner Welt! »Ich begreife nicht,« rief er. »Ich begreife nicht!«

Er war zwischen den kämpfenden Parteien in diese Freiheit des Zwielichts hinausgeschlüpft. Was würde nun geschehen? Er stellte sich vor, wie die rotgekleideten Leute geschäftig jagten, und wie sie die schwarzen Revolutionäre vor sich hertrieben.

Auf jeden Fall hatte ihm der Zufall einen Moment zum Aufatmen gegeben. Er konnte, von den Passanten unangefochten, herumschleichen und den Lauf der Dinge beobachten. Sein Auge folgte der verschlungenen, dunklen Riesenhaftigkeit der dämmernden Gebäude empor, und es erschien ihm unendlich wunderbar, daß da oben die Sonne aufging und die Welt erleuchtet wurde und im alten, vertrauten Tageslicht glühte. Binnen kurzem hatte er sich erholt. Seine Kleider waren ihm schon auf dem Leibe vom Schnee getrocknet.

Er wanderte diese Zwielichtwege meilenweit entlang, ohne mit jemand zu reden, ohne daß ihn jemand ansprach – eine dunkle Gestalt unter dunklen Gestalten – der begehrte Mann aus der Vergangenheit, der unschätzbare, unabsichtliche Besitzer der halben Welt. Wo immer Lichter waren oder dichte Volksmengen, oder wo ausnahmsweise Erregung herrschte, fürchtete er sich vor dem Erkanntwerden und beobachtete und machte kehrt oder ging die mittleren Stufenwege hinauf oder hinunter zu einem Quersystem von Wegen auf höherem oder niedrigerem Niveau. Und obgleich er auf keinen Kampf mehr stieß, war doch die ganze Stadt in Schlachterregung. Einmal mußte er laufen, um einer marschierenden Schar von Männern auszuweichen, die die Straße hinfegte. Jedermann, der unterwegs war, schien hineingezogen. Zum größten Teil waren es Männer, und sie trugen, was er für Waffen halten mußte. Es schien, als sei der Kampf hauptsächlich in dem Stadtquartier konzentriert, aus dem er kam. Hin und wieder erreichte ein fernes Brüllen, die entlegene Erinnerung an jenen Kampf, sein Ohr. Dann rangen seine Vorsicht und seine Neugier miteinander. Aber seine Vorsicht siegte, und er ging weiter vom Kampf fort – so weit er die Richtung beurteilen konnte. Er zog unbelästigt, unbeargwohnt durchs Dunkel. Nach einer Weile hörte er selbst kein fernes Echo der Schlacht mehr, immer weniger Leute kamen an ihm vorbei, bis schließlich die titanischen Straßen verlassen waren. Die Fassaden der Gebäude wurden klar und scharf; er schien in einen Distrikt leerer Warenhäuser gekommen zu sein. Die Einsamkeit überschlich ihn – sein Schritt verlangsamte sich.

Er merkte, daß er müde wurde. Zuzeiten wandte er sich zur Seite und setzte sich auf einen der zahllosen Sitze der oberen Wege. Aber eine fieberische Rastlosigkeit, das Wissen um seine vitale Rolle in diesem Kampf, ließ ihn nirgends lange ruhen. Drehte sich der Kampf allein um ihn?

Und dann kam auf einem einsamen Platz der Stoß eines Erdbebens – ein Brüllen und Donnern – ein gewaltiger Wind kalter Luft, der durch die Stadt hinblies, das Zersplittern von Glas, der Sturz und Stoß fallenden Mauerwerks – eine Reihe riesenhafter Erschütterungen. Eine Eisenwerk- und Glasmasse fiel von den fernen Dächern keine hundert Meter weit von ihm in die Mittelgalerie herab, und in der Ferne gab es Schreien und Laufen. Auch er fuhr zu einer ziellosen Aktivität empor und lief erst hierhin und dann ebenso ziellos zurück.

Ein Mensch kam auf ihn zugelaufen. Seine Selbstbeherrschung kehrte zurück. »Was haben sie in die Luft gesprengt?« fragte der Mensch atemlos. »Das war eine Explosion,« und ehe Graham reden konnte, war er weiter geeilt.

Die großen Gebäude erhoben sich dunkel, verschleiert von einem verwirrenden Zwielicht, obgleich der Himmelsstreif oben jetzt vom Tage hell war. Ihm fielen viele fremdartige Züge auf, und er verstand ihrer damals keinen; er buchstabierte sogar eine Menge der Inschriften in phonetischer Schrift zusammen. Aber was nützt es, einen Wirrwarr sonderbar aussehender Buchstaben zu entziffern, wenn sie sich nach mühsamer Anstrengung des Auges und Geistes zu: »Hier kauft man Eadhamit« auflösten, oder zu: »Arbeitsbüro – Kleinseite?« Grotesker Gedanke, daß höchstwahrscheinlich einige oder alle diese Häuser ihm gehörten!

Die Perversität seines Erlebnisses ging ihm lebhaft auf. Er hatte in wirklicher Wirklichkeit einen solchen Sprung in der Zeit gemacht, wie ihn sich Romanschriftsteller immer und immer wieder ausgemalt hatten. Und als ihm diese Tatsache klar geworden war, hatte er sich auf ein Schauspiel gefaßt gemacht gehabt, sein Geist hatte sich gleichsam zu einem Schauspiel gesetzt. Und kein Schauspiel kam, sondern eine große, unbestimmte Gefahr, teilnahmslose Schatten und Schleier des Dunkels. Irgendwo suchte ihn durch die labyrinthische Finsternis sein Tod. Würde er schließlich doch noch getötet werden, ehe er gesehen hatte? Es konnte sein, daß schon an der nächsten schattigen Ecke seine Vernichtung auf ihn lauerte. Ein großer Wunsch, zu sehen, eine Sehnsucht, zu erleben, stieg in ihm auf.

Er begann, sich vor Ecken zu fürchten. Ihm schien, im Verbergen lag Sicherheit. Wo konnte er sich verbergen, um unauffällig zu sein, wenn das Licht zurückkam? Schließlich setzte er sich auf einen Stuhl in einem Winkel der oberen Wege und meinte, dort sei er allein.

Er preßte sich die Finger in die müden Augen. Wie, wenn er nun wieder hinblickte, und das dunkle Loch paralleler Wege und diese unerträgliche Gebäudehöhe waren fort? Wie, wenn er entdecken mußte, daß die ganze Geschichte dieser wenigen letzten Tage, das Erwachen, die rufenden Mengen, das Dunkel und der Kampf eine Phantasmagorie war, eine neue und lebendigere Art des Traumes? Es mußte ein Traum sein; es war so unzusammenhängend, so vernunftlos. Warum kämpfte das Volk für ihn? Warum sollte diese gesundere Welt ihn als den Besitzer und Herrn ansehen?

So dachte er, als er geblendet dasaß, und dann blickte er wieder hin, halb in der Hoffnung, seinen Ohren zum Trotz ein vertrautes Stück des Lebens im neunzehnten Jahrhundert zu sehen, vielleicht den kleinen Hafen von Boscastle um sich zu sehen, die Klippen von Pentargen, oder das Schlafzimmer seines Hauses. Aber die Wirklichkeit achtet der menschlichen Hoffnungen nicht. Eine Schwadron von Männern mit einem schwarzen Banner stampfte durch die näheren Schatten, auf den Kampf begierig, und dahinter erhob sich, riesig und dunkel, die schwindlige Fassadenmauer mit der unklaren, unverständlichen Schrift, die sich blaß auf ihren Flächen zeigte.

»Es ist kein Traum,« sagte er. »Kein Traum.« Und er senkte das Gesicht in die Hände.


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