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20.
Auf den Wegen der Stadt

Und in jener Nacht sah Graham sich, unbekannt und unbeargwohnt, gekleidet in das Kostüm eines niederen Windfahnenbeamten, der Feiertag macht, und begleitet von Asano in Arbeitsgesellschaftsleinwand, die Stadt an, die er durchwandert hatte, als sie im Dunkel verschleiert lag. Aber jetzt sah er sie erleuchtet und wach, als einen Wirbel des Lebens. Trotz des Brandens und Stürmens der Kräfte der Revolution, trotz der ungewöhnlichen Unzufriedenheit, dem Gemurmel von einem größeren Kampf, von dem der erste Aufstand nur erst das Vorspiel war, strömten die Myriaden von Strömen des Verkehrs immer noch breit und kräftig. Er wußte jetzt einiges von den Dimensionen und dem Charakter der neuen Zeit, aber nicht war er auf die unendliche Überraschung des Anblicks im einzelnen gefaßt, auf den Strom von Farbe und lebhaften Eindrücken, der an ihm vorbeifloß.

Dies war seine erste wirkliche Berührung mit dem Volk der modernen Tage. Er wurde sich klar, daß alles, was vorangegangen war, außer etwa sein Blick auf Märkte und Theater, sein Element der Abschließung gehabt hatte, eine Bewegung innerhalb des verhältnismäßig engen, politischen Quartiers gewesen war, daß all seine früheren Erfahrungen sich unmittelbar um die Frage seiner eigenen Stellung gedreht hatte. Aber hier war die Stadt zur geschäftigsten Abendstunde, das Volk kehrte in großem Maßstabe zu seinen eigenen, unmittelbaren Interessen zurück, zur Wiederaufnahme des wirklichen, unformellen Lebens, zu den gewöhnlichen Sitten der neuen Zeit.

Sie kamen zuerst auf eine Straße hinaus, deren gegenüberliegende Wege von den Livreen der blauen Leinwand gedrängt voll waren. Dieser Schwarm, sah Graham, war ein Teil einer Prozession – es war wunderlich, eine Prozession sitzend durch die Stadt ziehen zu sehen. Sie trugen Banner aus grobem, rotem Zeug mit roten Buchstaben. »Keine Entwaffnung,« sagten die Banner, zum größten Teil in grob hingeschmierten Buchstaben und wechselnder Orthographie, und: »Warum sollten wir die Waffen niederlegen?« »Keine Entwaffnung.« »Keine Entwaffnung.« Banner auf Banner zog vorbei, ein Strom von Bannern, der vorüberfloß, und schließlich am Ende kam das Aufstandslied und eine geräuschvolle Schar seltsamer Instrumente. »Die sollten alle an der Arbeit sein,« sagte Asano. »Sie haben seit zwei Tagen nichts mehr zu essen gehabt, oder sie haben es gestohlen.«

Dann machte Asano einen Umweg, um die gedrängte Volksmenge zu vermeiden, die den gelegentlichen Zug der Leichen vom Hospital zur Begräbnisstätte angaffte, die Nachlese nach der Todesernte des ersten Aufstands.

An diesem Abend schliefen nur wenige, jedermann war unterwegs. Eine riesige Aufregung umgab Graham, ungeheure Volksmengen, die fortwährend wechselten; ein unaufhörlicher Tumult, die Schreie und rätselhaften Fragmente des sozialen Kampfes, der erst gerade begann, verwirrten und umdunkelten ihm den Geist. Überall bezeugten Gewinde und schwarze Banner und seltsame Dekorationen seine intensive Popularität, überall fing er Brocken jenes groben, schwerfälligen Dialektes auf, dessen sich die ungebildete Klasse bediente, die Klasse, heißt das, deren Mittel die phonographische Kultur überstieg. Überall lag diese Unruhe wegen der Entwaffnung in der Luft, und zwar mit einem Ton unmittelbaren Drängens, von dem er während seiner Abschließung im Windfahnenquartier keine Ahnung gehabt hatte. Er sah, sobald er zurückkehrte, mußte er dies mit Ostrog in einem weit umfassenderen Sinne erörtern als er es bisher getan hatte, dies und die größeren Dinge, deren Ausdruck es war. Beständig überschwemmte in dieser Nacht, sogar schon in den ersten Stunden ihrer Wanderungen in der Stadt, der Geist der Unrast und des Aufruhrs seine Aufmerksamkeit so stark, daß er zahllose seltsame Dinge ausschloß, die er sonst hätte beobachten können.

Diese Voreingenommenheit machte seine Eindrücke fragmentarisch. Aber unter so vielem, was fremd und lebhaft war, konnte sich kein Gegenstand, mochte er noch so persönlich und beharrlich sein, in ungeteilter Macht bewahren. Zeitweise verschwand die Revolutionsbewegung vollständig aus seinem Geist, sie wurde wie ein Vorhang vor einem aufregenden neuen Anblick der Zeit beiseite gezogen. Helene hatte seinen Geist zu diesem intensiven Ernst des Forschens gedrängt, aber es kamen Zeiten, wo selbst sie hinter den Bereich seiner bewußten Gedanken zurücktrat. Einen Moment zum Beispiel sah er, daß sie durch das religiöse Quartier fuhren, denn der leichte Verkehr in der Stadt, wie ihn die Gleitwege ermöglichten, machte die zerstreuten Kirchen und Kapellen unnötig – und seine Aufmerksamkeit wurde lebhaft von der Fassade einer der Christlichen Sekten gefesselt.

Sie fuhren sitzend auf einem der schnellen, oberen Wege, das Gebäude sprang bei einer Biegung vor ihnen auf und kam rapid näher. Es war vom Giebel bis zur Basis mit Inschriften in lebhaftem Weiß und Blau bedeckt, außer, wo ein riesiges, grelles Kinematographen-Transparent eine realistische Szene aus dem neuen Testament darstellte, und wo ein schwarzes Gewinde zeigte, daß die Volksreligion der Volkspolitik folgte. Graham war mit der phonotypischen Schrift bereits vertraut, und diese Inschriften hielten ihn fest, da sie für seine Empfindung zum größten Teil unglaublich lästerlich waren. Unter den weniger anstößigen las er: »Seelenheil, erster Stock rechter Hand.« »Legt euer Geld in eurem Schöpfer an.« »Die schärfste Bekehrung in London, Sachverständige Operatoren!« »Was Christus zum Schläfer sagen würde: – ›Geh zu den Heiligen auf der Höhe der Zeit!‹« – »Sei ein Christ – ohne Hinderung an deiner gegenwärtigen Beschäftigung.« »All die glänzendsten Bischöfe auf der Bank heut abend, Preise wie gewöhnlich.« »Lebhafter Segen für Geschäftsleute.«

»Aber dies ist furchtbar!« sagte Graham, als dieser betäubende Schrei merkantiler Frömmigkeit über ihnen aufragte.

»Was ist furchtbar?« fragte sein kleiner Offizier, der offenbar vergebens nach etwas Ungewohntem in diesem schreienden Glanz suchte.

» Dies! Das Wesen der Religion ist doch Ehrfurcht.«

»O, das!« Asano blickte Graham an. »Entrüstet Sie das?« sagte er im Tone dessen, der eine Entdeckung macht. »Ich kann mir's denken, natürlich. Ich hatte ganz vergessen. Heutzutage ist der Wettbewerb um Aufmerksamkeit so scharf, und einfache Leute haben nicht mehr die Zeit, für ihre Seelen zu sorgen wie früher, wissen Sie.« Er lächelte. »In den alten Tagen hatten Sie ruhige Sabbathe und das Land. Obgleich ich irgendwo von Sonntag-Nachmittagen gelesen habe, die –«

»Aber, das,« sagte Graham, indem er auf das schwindende Blau und Weiß zurückblickte. »Das ist doch nicht die einzige –«

»Es gibt hundert verschiedene Arten. Aber natürlich, wenn eine Sekte nicht auffällt, macht sie sich nicht bezahlt. Der Gottesdienst ist mit der Zeit gegangen. Es gibt Sekten für die oberen Klassen mit stillerem Gebaren – teurem Weihrauch und persönlichen Aufmerksamkeiten und all dem. Diese Leute sind riesig populär, und sie blühen. Sie zahlen für diese Räume dem Rat mehrere Dutzen Löwen – Ihnen, sollte ich sagen.«

Graham machte die Münze immer noch Schwierigkeiten, und diese Erwähnung von einem Dutzend Löwen brachte ihn unvermittelt auf dies Thema. Im Nu waren die schreienden Tempel und ihre wimmelnden Reklamen in diesem neuen Interesse vergessen. Eine Redewendung deutete an, und eine Antwort bestätigte, daß Gold und Silber beide entmünzt waren, daß das geprägte Gold, das seine Herrschaft unter den Kaufleuten von Phönizien begonnen hatte, endlich entthront war. Die Wandlung war allmählich, aber schnell gegangen, herbeigeführt durch eine Erweiterung des Schecksystems, das schon in seinem früheren Leben in allen größeren Geschäftsbewegungen das Gold verdrängt hatte. Der gewöhnliche Verkehr der Stadt, ja, der gewöhnliche Geldverkehr der ganzen Welt geschah mit Hilfe der kleinen, braunen, grünen und rosa Ratsschecks für niedere Beträge, die mit Blanko-Präsentanten gedruckt waren. Asano hatte mehrere bei sich, und bei der ersten Gelegenheit füllte er die Lücken in seinem Satz aus. Sie waren nicht auf zerreißbares Papier gedruckt, sondern auf ein halbdurchsichtiges Gewebe von seidiger Biegsamkeit, das mit Seide durchwebt war. Über alle spreizte sich ein Faksimile von Grahams Unterschrift – seit zweihundertunddrei Jahren seine erste Begegnung mit diesem vertrauten Autogramm.

Einige dazwischentretende Erlebnisse machten keinen genügend lebhaften Eindruck, um das Thema der Entwaffnung daran zu hindern, daß es seine Gedanken wieder in Anspruch nahm; ein wirres Bild auf einem Theosophistentempel, das Wunder versprach, wurde vielleicht am wenigsten unterdrückt, aber dann kam der Anblick der Speisehalle in der Northumberland Avenue. Das interessierte ihn sehr.

Durch die Energie und Überlegung Asanos konnte er sich diesen Bau von einer kleinen verkleideten Galerie aus ansehen, die für die Tischaufwärter reserviert war. Das Gebäude dröhnte von fernem, gedämpftem Schreien, Pfeifen und Rufen, dessen Bedeutung er erst nicht verstand, das ihn aber an eine gewisse ledrige Stimme erinnerte, die er in der Nacht seiner einsamen Wanderung nach der Wiederkehr des Lichtes gehört hatte.

Er war jetzt an Geräumigkeit und große Volksmassen gewöhnt, aber dieses Schauspiel hielt ihn doch lange Zeit fest. Als er den Tafeldienst unten unmittelbarer beobachtete und viele Fragen und Antworten über Einzelheiten hin und her gingen, da ging ihm auf, was die Speisung mehrerer tausend Menschen bedeutete.

Er fand mit beständiger Überraschung, daß Punkte, von denen man hatte erwarten können, daß sie von Anbeginn lebhaft auffallen müßten, ihm nie ins Auge sprangen, bis sich nicht irgendeine triviale Einzelheit plötzlich als ein Rätsel gestaltete und auf das Handgreifliche hinwies, was er übersehen hatte. Hierin zum Beispiel war es ihm nicht eingefallen, daß diese Kontinuität der Stadt, diese Ausschließung des Wetters, diese großen Hallen und Straßen das Verschwinden des Haushalts bedingten; daß das typische Viktorianische »Heim«, die kleine Backsteinzelle, die Küche und Waschraum, Wohn- und Schlafzimmer einschloß, abgesehen von den Ruinen, die das Land durchzogen, so sicher verschwunden war wie die Lattenhütte. Aber jetzt erst sah er, was freilich von Anfang an klar gewesen war, daß London, als Wohnort betrachtet, nicht mehr eine Anhäufung von Häusern war, sondern ein ungeheures Hotel, ein Hotel mit tausend Klassen der Unterkunft, mit Tausenden von Speisesälen, Kapellen, Theatern, Märkten und Versammlungsorten, eine Synthesis von Unternehmungen, deren Haupteigentümer er war. Die Leute hatten ihr Schlafzimmer, vielleicht mit Vorzimmern, Zimmern, die wenigstens stets sanitär waren, welches auch ihr Grad von Behaglichkeit und Abgeschlossenheit war, und im übrigen lebten sie so ziemlich, wie viele Leute in den neuen Riesenhotels der Viktorianischen Tage gelebt hatten, aßen, lasen, dachten, spielten, plauderten an öffentlichen Orten, gingen in den Industriequartieren der Stadt an ihre Arbeit oder machten ihre Geschäfte in ihren Bureaus im Handelsquartier ab.

Er sah sofort, wie notwendig sich dieser Stand der Dinge aus der Viktorianischen Zeit entwickelt hatte. Die fundamentale Ursache der modernen Stadt war von je die Ersparnis durch Zusammenarbeit gewesen. Was in seiner eigenen Generation hauptsächlich die Verschmelzung der getrennten Haushalte gehindert hatte, das war einfach die noch unvollkommene Zivilisation des Volkes gewesen, der starke Barbarenstolz, Leidenschaften und Vorurteile, die Eifersucht, das Rivalentum und die Gewalttätigkeit der mittleren und unteren Klassen, all das hatte die völlige Trennung der Haushalte notwendig gemacht. Aber die Wandlung, die Zähmung des Volkes war schon damals in raschem Fortgang begriffen gewesen. In seinen kurzen dreißig Jahren des früheren Lebens hatte er das ungeheure Wachsen der Sitte gesehen, die Mahlzeiten außerhalb des Hauses einzunehmen; das gelegentlich begünstigte Pferdestallkaffee war zum Beispiel dem offenen und vollen Kohlensauer-Brot-Laden gewichen, Frauenklubs erlebten ihre Anfänge, und eine ungeheure Entwicklung von Lesezimmern, Spaziergängen und Bibliotheken hatte das Wachstum sozialen Vertrauens bezeugt. Diese Versprechungen hatten mittlerweile ihre volle Erfüllung erreicht. Der verschlossene und versperrte Haushalt war verschwunden.

Diese Leute unter ihm, hörte er, gehörten der unteren Mittelklasse an, der Klasse gerade über den blauen Arbeitern, einer Klasse, die in der Viktorianischen Periode so gewohnt war, mit jeder Vorsichtsmaßregel der Heimlichkeit zu essen, daß ihre Mitglieder, wenn eine Gelegenheit sie zu einem öffentlichen Mahle führte, ihre Verlegenheit meist unter groben Scherzen oder einem ausgesprochen kriegerischen Benehmen verbargen. Aber diese heiter, wenn auch leicht gekleideten Leute da unten waren zwar lebhaft, eilig und unmitteilsam, aber von gewandten Manieren und sicherlich gegeneinander ganz unbefangen.

Ihm fiel eine bedeutsame Kleinigkeit auf; der Tisch war und blieb, soweit er sehen konnte, entzückend sauber, nichts entsprach der Verwirrung, den ausgestreuten Krumen, den Fleisch- und Zutatenspritzern, dem umgestoßenen Getränk und den verschobenen Ornamenten, die den stürmischen Verlauf einer Viktorianischen Mahlzeit gekennzeichnet hätten. Das Tafelgeschirr war sehr anders. Er sah keinen Schmuck, keine Blumen, und der Tisch hatte kein Tuch, sondern war, wie er erfuhr, aus einem festen Stoff hergestellt, der die Textur und das Aussehen von Damast hatte. Er erkannte, daß diese Damastsubstanz mit hübschgezeichneten Handelsannoncen gemustert war.

In einer Art Nische stand vor jedem Speisenden ein komplizierter Porzellan- und Metallapparat. Es war nur ein Teller aus weißem Porzellan vorhanden, und mit Hilfe von Hähnen für heiße und kalte flüchtige Flüssigkeiten wusch der Gast ihn selber zwischen den Gängen; er wusch sich auch sein elegantes Weißmetallmesser und Gabel und Löffel, wie die Gelegenheit es erforderte.

Die Suppe und der chemische Wein, der das gewöhnliche Getränk bildete, wurden aus ähnlichen Hähnen verabreicht, und die übrigen Gänge liefen in geschmackvoll arrangierten Schüsseln auf Silberschienen automatisch den Tisch hinunter. Der Speisegast hielt sie an und nahm sich nach Belieben. Sie erschienen aus einer kleinen Tür am einen Ende des Tisches und verschwanden am andern. Jene Eigenheit verfallenden demokratischen Gefühls, der häßliche Stolz knechtischer Seelen, der Gleichberechtigte abgeneigt macht, sich gegenseitig zu bedienen, war, fand er, unter diesen Leuten sehr stark. Er war so mit diesen Einzelheiten beschäftigt, daß er erst gerade, als sie gehen wollten, die riesigen Reklamedioramen sah, die die oberen Wände Majestätisch entlang liefen und die erstaunlichsten Dinge verkündeten.

Nach diesem Saal kamen sie in eine volle Halle, und er entdeckte die Ursache des Lärms, der ihm zu schaffen gemacht hatte. Sie blieben an einer Drehpforte stehen, an der eine Zahlung geleistet wurde.

Grahams Aufmerksamkeit wurde sofort durch einen heftigen lauten Schrei gefesselt, dem eine mächtige ledrige Stimme folgte. »Der Herr schläft ruhig,« rief sie. »Er befindet sich vortrefflich. Er will den Rest seines Lebens der Luftschiffahrt widmen. Er sagt, die Frauen seien schöner als je. Hallooo! Hoh! Unsere wundervolle Zivilisation erstaunt ihn über die Maßen. Über alle Maßen. Hallooo! Er setzt großes Vertrauen auf Meister Ostrog. Ostrog soll sein erster Minister sein; ist ermächtigt, öffentliche Beamte ab- und einzusetzen – alle Beförderung wird in seinen Händen liegen. Alle Beförderung in Meister Ostrogs Händen! Die Räte sind in ihr eigenes Gefängnis über dem Rathaus geschickt.«

Graham blieb beim ersten Satz stehen, blickte auf und sah ein albernes Trompetengesicht, das all dies brüllte. Das war die Allgemeine-Nachrichten-Maschine. Eine Zeitlang schien sie Atem zu holen, und man hörte ein regelmäßiges Pochen aus ihrem zylindrischen Körper. Dann trompetete sie: »Hallooo, Hallooo,« und begann von neuem.

»Paris ist jetzt beruhigt. Aller Widerstand ist vorbei. Hallooo! Die schwarze Polizei hält jeden Platz von Bedeutung in der Stadt besetzt. Sie hat mit großer Tapferkeit gekämpft und Lieder zum Preis ihrer Vorfahren gesungen, die von dem Dichter Kipling geschrieben sind. Ein- oder zweimal brachen sie aus und folterten und verstümmelten verwundete und gefangene Aufständische, Männer und Frauen. Moral – man rebelliere nicht. Haha! Hallooo, Hallooo! Es sind lebendige Kerle. Lebendige, tapfere Kerle. Dies sei der unruhigen Verschwörerbande in dieser Stadt eine Warnung. Pah! Verschwörerbande! Unrat der Erde! Hallooo, Hallooo!«

Die Stimme hörte auf. Es folgte ein wirres Murmeln der Mißbilligung unter der Menge. »Die verdammten Nigger.« Ein Mann neben ihnen begann zu reden. »Ist dies des Herren Tun, Brüder? Ist dies des Herren Tun?«

»Schwarze Polizei!« sagte Graham. »Was ist das? Sie wollen doch nicht sagen –«

Asano berührte ihn am Arm und gab ihm einen warnenden Wink, und alsbald schrie eine andere dieser Maschinen betäubend los und redete mit schriller Stimme: »Jahaha, jaha, Tap! Hört ein lebendiges Blatt schreien! Lebendiges Blatt. Jaha! Schreckliche Ausschreitung in Paris. Jahaha! Die Pariser von der schwarzen Polizei bis zum Mord aufgebracht. Schreckliche Repressalien. Wilde Zeiten kommen wieder. Blut! Blut! Jaha!« Die nähere Schwätzmaschine schrie betäubend »Hallooo, Hallooo!« und ertränkte den Schluß des Satzes und fuhr mit einer etwas weicheren Stimme als vorher fort und gab neue Bemerkungen über die Greuel des Aufruhrs. »Gesetz und Ordnung müssen aufrecht erhalten bleiben,« sagte die nähere Schwätzmaschine.

»Aber,« begann Graham.

»Nicht fragen, hier,« sagte Asano, »sonst werden Sie in einen Streit gezogen.«

»Dann lassen Sie uns weitergehen,« sagte Graham, »denn hiervon will ich mehr erfahren.«

Als er und sein Begleiter sich durch die aufgeregte Menge drängten, die unter diesen Stimmen wimmelte, auf den Ausgang zu, da sah Graham die Verhältnisse und Züge dieses Raumes deutlicher. Im ganzen mußten große und kleine, nahezu tausend von diesen Figuren in dem großen Raum vorhanden sein, pfeifend, schreiend, brüllend und schwätzend, jede mit ihrer Volksmenge aufgeregter Zuhörer, deren Majorität Leute in blauer Leinwand bildeten. Alle Größen von Maschinen waren vertreten, vom kleinen Schwatzmechanismus an, der in den Winkeln mechanische Sarkasmen hervorkicherte, durch eine Anzahl von Graden hindurch, bis zu solchen Fünfzig-Fuß-Riesen, gleich dem, der zuerst über Graham geschrien hatte.

Dieser Raum war ungewöhnlich voll, weil das Interesse des Volks am Verlauf der Dinge in Paris sehr intensiv war. Offenbar war der Kampf viel wilder gewesen, als Ostrog ihn dargestellt hatte. All die Maschinen redeten über dieses Thema, und die Wiederholungen des Volkes ließen den ganzen Raum von solchen Phrasen summen, wie: »Gelynchte Polizisten«, »Lebendig verbrannte Frauen«, »Paperlapapp«. »Aber erlaubt der Herr solche Dinge?« sagte ein Mann neben ihm. »Ist dies der Anfang der Herrschaft des Herrn?«

Ist dies der Anfang der Herrschaft des Herrn? Noch lange, nachdem er den Ort verlassen hatte, verfolgte ihn das Rufen und Schreien und Pfeifen der Maschinen: »Hallooo, Hallooo!« »Jahaha, Jaha, Jap! Iaha!« »Ist dies der Anfang der Herrschaft des Herrn?«

Sowie sie draußen auf den Straßen waren, begann er Asano genau über die Natur des Pariser Kampfes auszufragen. »Diese Entwaffnung! Worin besteht ihre Unruhe? Was heißt das alles?« Asano schien hauptsächlich besorgt, ihn zu beruhigen, daß alles »in Ordnung« sei. »Aber diese Ausschreitungen!« »Sie können kein Omelett haben,« sagte Asano, »ohne Eier zu zerbrechen. Es ist nur das rohe Volk. Nur in einem Teil der Stadt. Sonst ist alles in Ordnung. Die Pariser Arbeiter sind nach unseren die wildesten von der Welt.«

»Was! nach den Londoner?«

»Nein, den japanischen. Sie müssen in Zucht gehalten werden.«

»Aber Frauen lebendig verbrennen!«

»Eine Kommune!« sagte Asano. »Sie möchten Sie Ihres Besitzes berauben. Sie möchten das Eigentum abschaffen und die Welt dem Pöbel zur Herrschaft geben. Sie sind Herr, die Welt gehört Ihnen. Aber hier wird keine Kommune kommen. Hier ist keine schwarze Polizei nötig. – Und es ist jede Rücksicht gezeigt. Es sind ihre eigenen Neger – französisch sprechende Neger. Senegalregimenter und vom Niger und aus Timbuktu.«

»Regimenter?« sagte Graham. »Ich dachte, es wäre nur eins –«

»Nein,« sagte Asano und sah ihn an. »Es sind mehr da als eins.«

Graham fühlte sich unangenehm hilflos.

»Ich dachte nicht,« begann er und hielt plötzlich inne. Er schweifte unvermittelt ab und bat um Auskunft über diese Schwätzmaschinen. Zum größten Teil war das anwesende Volk schäbig und zerlumpt gekleidet gewesen, und Graham erfuhr, soweit die wohlhabenderen Klassen in Frage kämen, seien in allen besser eingerichteten Privatwohnungen der Stadt feste Schwätzmaschinen vorhanden, die redeten, sowie man einen Hebel zog. Der Bewohner der Wohnung verband sie mit den Kabeln eines der großen Nachrichtensyndikate, dem er den Vorzug gab. Als er das erfahren hatte, fragte er nach dem Grund, warum sie in seinen Gemächern fehlten. Asano machte die Augen auf. »Daran hab ich noch gar nicht gedacht,« sagte er. »Ostrog muß sie haben entfernen lassen.«

Graham machte die Augen auf. »Wie konnte ich wissen!« rief er.

»Vielleicht dachte er, sie würden Sie langweilen,« sagte Asano.

»Sie müssen sofort wieder aufgestellt werden, wenn ich nach Hause komme,« sagte Graham nach einer Pause.

Es wurde ihm schwer, zu begreifen, daß dieses Nachrichtenzimmer und der Speisesaal keine großen zentralen Orte waren, daß solche Einrichtungen sich fast unzählbar über die ganze Stadt wiederholten. Aber immer wieder fing sein Ohr während der nächtlichen Expedition in neuen Quartieren durch den Tumult der Straßen hindurch das eigenartige Schreien des Organs Meister Ostrogs auf: »Hallooo, Hallooo!« oder das schrille »Jahaha, Jaha, Jap! – Hört ein lebendiges Blatt schreien!« seines Hauptrivalen.

Auch solche crèches wie die, in die er nun trat, wiederholten sich überall. Man erreichte sie mit einem Lift und über eine Glasbrücke, die über die Speisehalle führte und die Straßen in leichter Steigung querte. Um die erste Sektion dieses Ortes zu betreten, mußte er unter Asanos Anweisung seine solvente Unterschrift verwenden. Sofort wurden sie von einem Mann in violettem Kleid mit Goldschnalle geführt, den Insignien eines Arztes. Er merkte am Wesen dieses Mannes, daß seine Identität bekannt war und begann ohne Reserve Fragen über die seltsamen Einrichtungen des Ortes zu stellen.

Auf beiden Seiten des Ganges, der still und gepolstert war, wie um den Schritt zu dämpfen, sah er schmale, kleine Türen, deren Größe und Anordnung an die Zellen eines Viktorianischen Gefängnisses erinnerte. Aber der obere Teil jeder Tür war aus demselben grünlichen Material, das ihn bei seinem Erwachen eingeschlossen hatte, und drinnen lag, dunkel zu sehen, in jedem Raum ein sehr junges Baby in einem Wattenest. Komplizierte Apparate wachten über der Atmosphäre, ließen weit weg bei der geringsten Abweichung vom Optimum der Temperatur und Feuchtigkeit im Zentralamt eine Glocke ertönen. Ein System solcher crèches hatte die gewagten abenteuerlichen Zufälle des Säugens in der alten Welt fast völlig verdrängt. Der Führer machte Graham bald darauf auf die Milchammen aufmerksam, eine Reihe mechanischer Figuren mit Armen, Schultern und Büsten von erstaunlich realistischer Modellierung, Gelenkigkeit und Textur, die aber unten nichts waren als Messingdreifüße und statt der Gesichter eine platte Scheibe zeigten, die Annoncen trug, wie sie Mütter interessieren mußten.

Von all den fremdartigen Dingen, denen Graham in dieser Nacht begegnete, stimmte keines weniger zu seinen Denkgewohnheiten als dieser Ort. Das Schauspiel der kleinen rosigen Geschöpfe, deren schwache Glieder ungewiß in vagen, ersten Bewegungen schwankten, allein gelassen, ohne Umarmung und Liebkosung – das widerstand ihm völlig. Der führende Arzt war anderer Meinung. Sein statistisches Material zeigte unbestreitbar, daß in Viktorianischen Zeiten die gefährlichsten Lebensmonate die in den Armen der Mutter gewesen waren, daß da die Sterblichkeit von je am furchtbarsten war. Andererseits verlor diese Crèche-Gesellschaft, das Internationale Crèche-Syndikat noch kein halbes Prozent von der Million Babys oder so, die seine besondere Sorge bildete. Aber Grahams Vorurteil war selbst für diese Ziffern zu stark.

In einem der vielen Gänge dieses Ortes trafen sie auf ein junges Paar in der gewöhnlichen blauen Leinwand, das durch das Transparent blickte und hysterisch über den kahlen Kopf ihres Erstgeborenen lachte. Grahams Gesicht muß seine Meinung über sie gezeigt haben, denn ihre Lustigkeit hörte auf, und sie sahen verlegen aus. Aber dieser kleine Zwischenfall unterstrich seine plötzliche Empfindung von dem Abgrund zwischen seinen Denkgewohnheiten und den Sitten der neuen Zeit. Er ging weiter zu den Kriechräumen und dem Kindergarten; er war erstaunt und betrübt. Die endlosen, langen Spielräume fand er leer! Die modernen Kinder wenigstens verbrachten ihre Nächte noch im Schlaf. Als sie hindurch gingen, erklärte der Beamte die Art der Spielsachen, Entwicklungen derer, die jener inspirierte Sentimentalist Fröbel erfunden hatte. Hier gab es Ammen, aber vieles geschah durch Maschinen, die sangen, tanzten und schaukelten.

Graham war sich über viele Punkte immer noch nicht klar. »Aber so viele Waisen!« sagte er verblüfft, indem er auf ein erstes Mißverständnis zurückkam, und man sagte ihm nochmals, es seien keine Waisen.

Sobald sie die crèche verlassen hatten, begann er von dem Grauen zu sprechen, das die Babys in ihren Brutzellen ihm eingeflößt hatten. »Ist das Muttertum vorbei?« sagte er. »War es nur Gerede? Sicher war es ein Instinkt. Dies scheint so unnatürlich – fast abscheulich.«

»Hier entlang kommen wir zum Tanzplatz,« sagte Asano statt der Antwort. »Er wird sicher voll sein. Trotz der politischen Unruhe wird er voll sein. Die Frauen interessieren sich nicht für Politik – abgesehen von hier und dort einer. Sie werden die Mütter sehen – die meisten jungen Frauen in London sind Mütter. In jener Klasse gilt es als rühmlich, ein Kind zu haben – als ein Beweis der Lebenskraft. Wenig Leute aus dem Mittelstand haben mehr als eins. Bei der Arbeitsgesellschaft ist es anders. Was das Muttertum angeht! Sie sind noch immer ungeheuer stolz auf die Kinder. Sie kommen recht oft her, sie anzusehen.«

»So wollen Sie sagen, die Bevölkerung der Welt –+« »Sinkt? Ja. Außer unter dem Volk der Arbeitsgesellschaft. Das ist unbesonnen –+«

Die Luft tanzte plötzlich vor Musik, und einen Weg hinunter, auf den sie schräg zukamen, der mit prunkvollen Pfeilern, wie es schien, aus klarem Amethyst besetzt war, strömte ein Flut lustiger Leute und ein Tumult von heiterem Rufen und Lachen. Er sah krause Köpfe, bekränzte Stirnen, und ein glückliches, verschlungenes Gummiguttiwallen triumphierend über das Bild hinstreifen.

»Sie werden sehen,« sagte Asano mit leichtem Lächeln. »Die Welt hat sich verändert. Im Moment werden Sie die Mütter der neuen Zeit sehen. Kommen Sie hier entlang. Die da hinten werden wir sehr bald wiedersehen.«

Sie stiegen in einem raschen Lift bis zu einer gewissen Höhe und vertauschten ihn dann mit einem langsameren. Je weiter sie gingen, um so lauter wurde die Musik, bis sie ganz nah und voll und prächtig war, und mit ihren glorreichen Windungen konnten sie den Takt unzähliger tanzender Füße erkennen. Sie zahlten an einem Drehtor und traten auf die breite Galerie hinaus, die den Tanzsaal überblickte, und in den vollen Zauber von Klang und Anblick.

»Das«, sagte Asano, »sind die Väter und Mütter der Kleinen, die Sie gesehen haben.«

Die Halle war nicht so reich geschmückt wie die des Atlas, aber sonst war sie, der Größe nach, das glänzendste, was Graham noch gesehen hatte. Die schönen, weißgliedrigen Figuren, die die Galerien trugen, erinnerten ihn nochmals an die erneute Pracht der Skulptur; sie schienen sich in gefälligen Haltungen zu winden, ihre Gesichter lachten. Die Quelle der Musik, die den Raum erfüllte, war verborgen, und der ganze, weite, glänzende Boden war gedrängt voll von tanzenden Paaren. »Sehen Sie sie an,« sagte der kleine Beamte, »sehen Sie, wieviel sie vom Muttertum zeigen.«

Die Galerie, auf der sie standen, lief den oberen Rand eines riesigen Schirms entlang, der die Tanzhalle auf der einen Seite von einer Art äußerer Halle abschnitt, die durch breite Bogen den unaufhörlichen Strom der Stadtwege zeigte. In dieser äußeren Halle war eine große Menge weniger glänzend gekleideter Leute, fast ebenso zahlreich wie die, die drinnen tanzten, und die große Majorität trug die blaue Leinwand der Arbeitsgesellschaft, die Graham jetzt so vertraut war. Zu arm, um die Drehtüren zum Fest zu passieren, waren sie doch nicht imstande, dem Klang seiner Verlockungen fern zu bleiben. Einige hatten sogar Stellen klar gemacht und tanzten gleichfalls, indem sie ihre Lumpen in der Luft flattern ließen. Einige riefen beim Tanzen Scherze und sonderbare Anspielungen, die Graham nicht verstand. Einmal fing einer an, den Refrain des Revolutionsliedes zu pfeifen, aber es schien, dieser Anfang wurde sofort unterdrückt. Der Winkel war dunkel, und Graham konnte nichts sehen. Er wandte sich wieder zur Halle. Über den Karyatiden standen Marmorbüsten von Männern, die diese Zeit als große moralische Befreier und Pioniere achtete; zum größten Teil waren Graham ihre Namen fremd, obgleich er Grant Allen, Le Gallienne, Nietzsche, Shelley und Goodwin erkannte. Große, schwarze Gewinde und beredte Sprüche verstärkten die riesige Inschrift, die das obere Ende des Tanzsaals zum Teil verunzierte und behauptete, es herrsche »Das Fest des Erwachens«.

»Myriaden machen deshalb Festtag und bleiben von der Arbeit fort, ganz abgesehen von den Arbeitern, die sich weigern, zurückzukehren,« sagte Asano. »Diese Leute sind zu Feiertagen stets bereit.«

Graham trat an die Brustwehr, lehnte sich hinüber und blickte auf die Tänzer hinunter. Abgesehen von zwei oder drei fernen, flüsternden Paaren, die sich abseits gestohlen hatten, hatte er mit seinem Führer die Galerie für sich. Ein warmer Hauch von Duft und Lebenskraft drang zu ihm herauf. Sowohl Männer wie Frauen da unten waren leicht gekleidet, mit nackten Armen und offenem Hals, wie es die allgemeine Wärme der Stadt erlaubte. Das Haar der Männer war oft eine Masse weibischer Locken, ihr Kinn war stets rasiert, und viele von ihnen zeigten gerötete oder gefärbte Backen. Viele von den Frauen waren sehr hübsch, und alle waren mit ausgesuchter Koketterie gekleidet. Wenn sie unten vorüberfegten, sah er ekstatische Gesichter mit vor Vergnügen halb geschlossenen Augen.

»Was für Leute sind das?« fragte er plötzlich.

»Arbeiter – wohlhabende Arbeiter. Was Sie den Mittelstand genannt hätten. Unabhängige Händler mit getrennten Geschäften sind längst verschwunden, aber es gibt Lagerdiener, Aufseher, Ingenieure von hundert Arten. Heut abend ist natürlich frei, und jeder Tanzsaal in der Stadt wird voll sein, ebenso wie jeder Ort des Gottesdienstes.«

»Aber – die Frauen?«

»Ebenso. Es gibt heute tausend Formen der Frauenarbeit. Aber Sie haben ja den Anfang der unabhängigen Arbeitsfrau schon in Ihrer Zeit gehabt. Die meisten Frauen heute sind unabhängig. Die meisten von diesen sind mehr oder minder verheiratet – es gibt eine Menge Kontraktsmethoden und das gibt ihnen mehr Geld und setzt sie in den Stand, sich zu amüsieren.«

»Ich verstehe,« sagte Graham und blickte auf die geröteten Gesichter, auf das Blitzen und Wirbeln der Bewegung, und dachte noch immer an den Nachtmahr rosiger, hilfloser Glieder. »Und dies sind – Mütter.«

»Die meisten.«

»Je mehr ich von diesen Dingen sehe, um so komplizierter finde ich ihre Probleme. Dies zum Beispiel ist eine Überraschung. Jene Nachricht aus Paris war eine Überraschung.«

Nach einer kleinen Weile begann er wieder:

»Das sind Mütter. Ich denke mir, ich werde mir bald die moderne Art, die Dinge zu sehen, angewöhnen. Es hängen alte Denkgewohnheiten an mir – Gewohnheiten, glaube ich, die sich auf Bedürfnisse gründen, die vergangen und abgetan sind. In unserer Zeit verlangte man natürlich von einer Frau nicht nur, daß sie Kinder gebar, sondern, daß sie sie liebte, sich ihnen widmete, sie aufzog – alles wesentliche seiner moralischen und geistigen Erziehung verdankte ein Kind seiner Mutter. Oder es mußte sie entbehren. Eine ganze Zahl, das gebe ich zu, mußte sie entbehren. Heute ist solche Sorge offenbar nicht nötiger, als wenn sie Schmetterlinge wären. Ich sehe das ein! Nur gab es ein Ideal – jene Gestalt einer ernsten, geduldigen Frau, still und heiter, Herrin eines Hauses, Mutter und Schöpferin von Menschen – sie zu lieben war eine Art Anbetung –«

Er hielt inne und wiederholte: »Eine Art Anbetung.«

»Ideale wechseln,« sagte der kleine Mann, »wie Bedürfnisse wechseln.«

Graham erwachte aus einer momentanen Träumerei, und Asano wiederholte seine Worte. Grahams Geist kehrte zu den Dingen vor ihm zurück.

»Natürlich sehe ich die völlige Vernünftigkeit ein. Beschränkung, Nüchternheit, reifes Denken, selbstloses Handeln, das sind Notwendigkeiten des barbarischen Zustands, des Lebens der Gefahren. Herbheit ist des Menschen Tribut an die unbesiegte Natur. Aber jetzt hat der Mensch die Natur für alle praktischen Zwecke unterworfen – seine Politik wird von Ostrog mit einer schwarzen Polizei geordnet – und das Leben ist freudig.«

Er blickte wieder auf die Tänzer. »Freudig,« sagte er.

»Es gibt müde Momente,« sagte der kleine Beamte nachdenklich.

»Sie sehen alle jung aus. Da unten wäre ich sichtlich der älteste. Und in meiner Zeit gelte ich als in den mittleren Jahren.«

»Sie sind jung. Es gibt in dieser Klasse in den Arbeitsstudien wenig alte Leute.«

»Wie kommt das?«

»Das Leben alter Leute ist nicht mehr so angenehm wie früher, es sei denn, sie sind reich, um sich Liebe und Hilfe zu kaufen. Und wir haben eine Institution, die die Euthanasie heißt.«

»Ah! die Euthanasie!« sagte Graham. »Der leichte Tod?«

»Der leichte Tod. Es ist das letzte Vergnügen. Die Euthanasiegesellschaft macht es gut. Die Leute zahlen die Summe – es ist eine kostspielige Summe – lange im voraus, gehen in eine Freudenstadt und kommen arm und müde zurück – sehr müde.«

»Ich habe noch eine Menge zu verstehen,« sagte Graham nach einer Pause. »Aber ich sehe die Logik in dem allen. Unser Aufzug von wütenden Tugenden und sauren Beschränkungen war die Folge der Gefahr und Unsicherheit. Der Stoiker, der Puritaner waren selbst zu meiner Zeit schon verschwindende Typen. In den alten Tagen war der Mensch gegen den Schmerz bewaffnet, heute sucht er nach Genuß. Da liegt der Unterschied. Die Zivilisation hat Schmerz und Gefahr so weit fortgetrieben – für reiche Leute. Und nur auf reiche Leute kommt es noch an. Ich habe zweihundert Jahre geschlafen.«

Eine Minute lehnten sie auf der Balustrade und folgten der verschlungenen Entwicklung des Tanzes. Die Szene war wirklich sehr schön.

»Bei Gott!« sagte Graham plötzlich. »Ich wollte lieber als verwundeter Posten im Schnee erfrieren als einer von diesen gemalten Narren sein.«

»Im Schnee«, sagte Asano, »könnte man anders denken.«

»Ich bin unzivilisiert,« sagte Graham, ohne auf ihn zu achten. »Das ist die Schwierigkeit. Ich bin primitiv – paläolithisch. Ihr Quell der Wut und Furcht und des Zorns ist versiegelt und geschlossen, die Gewohnheiten eines Lebens machen sie heiter und leicht und freudig. Sie müssen mit der Entrüstung und dem Abscheu meines neunzehnten Jahrhunderts Geduld haben. Diese Leute, sagen Sie, sind geschickte Arbeiter und so weiter. Und während sie tanzen, kämpfen Menschen – sterben Menschen in Paris, um die Welt zu bewahren – damit sie tanzen können.«

Asano lächelte leicht. »Was das angeht, so sterben Menschen in London,« sagte er.

Einen Moment herrschte Schweigen.

»Wo schlafen die?« fragte Graham.

»Oben und unten – ein kompliziertes Gehege.«

»Und wo arbeiten sie? Dies ist – das häusliche Leben.«

»Sie werden heute Nacht wenig Arbeit sehen. Die Hälfte der Arbeiter sind aus oder stehen unter Waffen. Die Hälfte dieser Leute machen Feiertag. Aber wir wollen zu den Arbeitsstellen gehen, wenn Sie wollen.«

Eine Zeitlang beobachtete Graham die Tänzer, dann wandte er sich plötzlich ab. »Ich will die Arbeiter sehen. Von diesen habe ich genug gesehen,« sagte er.

Asano führte durch die Tanzhalle die Galerie entlang. Dann kamen sie zu einem Quergang, der einen Hauch frischerer, kälterer Luft brachte.

Asano warf einen Blick in diesen Gang, als sie vorbeigingen, blieb stehen, ging zu ihm zurück und wandte sich mit einem Lächeln zu Graham. »Hier, Sire,« sagte er, »ist etwas – was Ihnen wenigstens vertraut sein wird – und doch – – Aber ich will es Ihnen nicht verraten. Kommen Sie!«

Er führte durch einen geschlossenen Gang, der schnell kalt wurde. Der Widerhall ihrer Füße sagte ihnen, daß dieser Gang eine Brücke war. Sie kamen auf eine kreisrunde Galerie, die gegen das äußere Wetter eingeglast war, und erreichten so ein rundes Gemach, das ihm bekannt vorkam, obgleich Graham sich nicht deutlich besinnen konnte, wann er es schon betreten hatte. Darin war eine Leiter – die erste Leiter, die er seit seinem Erwachen gesehen hatte – die sie hinaufstiegen, und so kamen sie in einen hohen, dunklen, kalten Raum, in dem eine zweite, fast senkrechte Leiter stand. Die stiegen sie empor, Graham noch immer im unklaren.

Aber oben begriff er und erkannte die Metallstangen, an denen er sich hielt. Er war in dem Käfig unter der Kugel von St. Paul. Die Kuppel erhob sich nur wenig über den allgemeinen Konturen der Stadt in das stille Zwielicht und senkte sich, unter ein paar fernen Lichtern fettig glänzend in eine runde Grube des Dunkels.

Zwischen den Stangen blickte er hinaus auf den windgefegten nördlichen Himmel und sah die Sternbilder alle unverändert. Capella hing im Westen, Vega ging auf, und die sieben glitzernden Punkte des großen Bären fegten zu Häupten in ihrem stattlichen Kreis um den Pol.

Er sah diese Sterne in einer klaren Himmelslücke. Nach Osten und Süden verdeckten die großen, runden Gestalten klagender Windräder den Himmel, so daß der Schein um das Rathaus verborgen war. Nach Südwesten hing Orion und blickte wie ein Geist durch ein Maßwerk von Eisen und verschlungenen Gestalten über einem blendenden Lichterschimmer. Ein Heulen und Sirenenschreien, das von den Flugbühnen kam, sagte der Welt, daß eine der Aeroplanen zur Abfahrt bereit sei. Er blieb eine Zeitlang stehen und blickte nach der hellen Bühne hin. Dann schweifte sein Blick wieder auf die nördlichen Sternbilder zurück.

Lange Zeit schwieg er. »Dies«, sagte er schließlich, im Schatten lächelnd, »scheint das seltsamste von allem. Auf der Kuppel von Sankt Paul zu stehen und noch einmal nach diesen vertrauten stillen Sternen auszuschauen!«

Von dort wurde Graham von Asano gewundene Wege hin zu den großen Spiel- und Geschäftsquartieren geführt, wo die Masse der Vermögen in der Stadt verloren und gewonnen wurde. Es machte ihm den Eindruck einer nahezu endlosen Reihe von sehr hohen Hallen, umgeben von Reihen über Reihen von Galerien, auf die sich Tausende von Bureaus öffneten, und durchquert von einer komplizierten Masse von Brücken, Fußwegen, Luftmotorschienen, Trapez- und Kabelgehängen. Und hier erhob sich die Note heftiger Lebenskraft, unbezwinglicher, eiliger Aktivität höher als irgendwo. Überall herrschte heftige Reklame, bis ihm der Kopf schwamm vor dem Tumult von Licht und Farbe. Und Schwätzmaschinen von einem eigentümlich ranzigen Ton waren in Menge vorhanden und füllten die Luft mit eifrigem Schreien und mit idiotischem Kauderwelsch.

Die Gegend schien ihm gedrängt voller Leute zu sein, die entweder tief erregt waren oder von finsterer List schwollen, doch er erfuhr, daß sie relativ leer sei, da die große politische Umwälzung der letzten paar Tage die Geschäfte auf ein unerhörtes Minimum herabgedrückt hatte. In einem riesigen Raum standen lange Reihen von Roulettetischen, jeder umgeben von einer aufgeregten, würdelosen Menge; in einem andern kaufte und verkaufte ein schreiendes Babel von weißgesichtigen Weibern und rothalsigen Lederlungen die Aktien eines absolut fingierten Geschäftsunternehmens, das alle fünf Minuten eine Dividende von zehn Prozent zahlte und mittels eines Lotterierades einen bestimmten Teil seiner Aktien tilgte.

Diese Geschäftstätigkeiten wurden mit einer Energie verfolgt, die bereitwilligst in Gewalttat überging, und als Graham sich einer dichten Menge näherte, fand er im Mittelpunkt ein paar hervorragender Kaufleute in heftigem Kampf mit Zähnen und Nägeln über irgendeinen delikaten Punkt der Geschäftsetikette. Es blieb noch etwas im Leben, wofür man kämpfen konnte. Weiter war er empört über eine heftige Ankündigung in phonetischen Buchstaben aus Scharlachflammen, von denen jeder doppelte Manneshöhe hatte: »Wir besichern den Eigentümer. Wir besichern den Eigentümer.«

»Wer ist der Eigentümer?« fragte er.

»Sie.«

»Aber was besichern sie?« fragte er. »Was heißt besichern?«

»Hatten Sie noch keine Besicherung?«

Graham dachte nach. »Versicherung?«

»Ja – Versicherung. Jetzt fällt mir's ein, das war das ältere Wort. Sie versichern Ihr Leben. Dutzende von Leuten nehmen Polizen, Myriaden von Löwen werden auf Sie gesetzt. Und weiterhin kaufen andere Leute Jahrgelder. Das tun sie mit jedem irgendwie Hervorragenden. Sehen Sie da!«

Eine Volksmasse brandete und brüllte, und Graham sah einen riesigen schwarzen Schirm plötzlich in noch größeren Buchstaben aus brennendem Purpur beleuchtet. »Jahrgeller auf 'n Ei' entümer – X 5 pr. G.« Da begann das Volk zu schreien und zu brüllen, eine Anzahl schwer atmender, wildäugiger Menschen kam vorbeigelaufen und griff mit gekrümmten Fingern in die Luft. Um eine kleine Tür gab es ein wütendes Gedränge.

Asano stellte eine kurze Berechnung an. »Siebzehn Prozent pro Jahr ist ihr Jahrgeld auf Sie. Sie würden nicht so hohe Prozente zahlen, wenn sie Sie jetzt sehen könnten, Sire. Aber sie wissen es nicht. Ihre alten Jahrgelder pflegten eine sehr sichere Anlage zu sein, aber jetzt sind Sie natürlich das reine Spiel. Dies ist wahrscheinlich ein verzweifeltes Gebot. Ich zweifle, ob die Leute zu ihrem Geld kommen werden.«

Die Menge derer, die die Jahrgelder kaufen wollten, wurde so dicht um sie, daß sie sich eine Zeitlang weder vorwärts noch rückwärts bewegen konnten. Graham sah unter den Spekulanten einen Bruchteil von Frauen, der ihm hoch erschien, und das erinnerte ihn von neuem an die wirtschaftliche Unabhängigkeit ihres Geschlechtes. Sie schienen merkwürdig gut imstande, in der Menge für sich zu sorgen, und benutzten ihre Ellbogen, wie er auf eigene Kosten erfuhr, mit besonderem Geschick. Eine lockenköpfige Person, die eine Zeitlang im Gedränge fest saß, sah ihn mehrere Male fest an, fast, als habe sie ihn erkannt, und dann drängte sie sich mühsam zu ihm durch, berührte seine Hand auf kaum zufällige Art mit dem Arm und gab durch einen Blick, der so alt ist wie Chaldäa, zu erkennen, daß er vor ihren Augen Gnade gefunden hatte. Und dann warf sich ein hagerer Graubart, der in edler Leidenschaft der Selbsthilfe reichlich schwitzte, blind gegen alle irdischen Dinge außer jenen grellen Köder, in einem sündflutartigen Sturm auf jenes lockende » X 5 pr. G.« zwischen sie.

»Hier möchte ich fort,« sagte Graham zu Asano. »Dies wollte ich nicht sehen. Zeigen Sie mir die Arbeiter. Ich will die Leute in Blau sehen. Diese parasitischen Irren –«

Er sah sich in einer ringenden Volksmasse eingekeilt, und dieser hoffnungsvolle Satz blieb unvollendet.


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