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19.
Ostrogs Gesichtspunkt

Graham fand Ostrog wartend vor, um den formellen Bericht von seines Tages Leitung zu erstatten. Bei früheren Gelegenheiten hatte er diese Zeremonie so rasch wie möglich übergangen, um seine Luftschiffahrtsexperimente wiederaufzunehmen, aber jetzt begann er kurze, rasche Fragen zu stellen. Er war sehr begierig, seine Herrschaft alsbald aufzunehmen. Ostrog brachte schmeichelhafte Berichte von der Entwicklung der Dinge im Ausland. In Paris und Berlin, hörte Graham ihn sagen, hatte es Unruhen gegeben, freilich organisierten Widerstand, aber unsubordiniertes Vorgehen. »Nach all diesen Jahren«, sagte Ostrog, als Graham ihn mit Fragen drängte, »hat die Kommune das Haupt wieder erhoben. Das ist das eigentliche Wesen des Kampfes, um ausführlich zu sein.« Aber die Ordnung war in diesen Städten wiederhergestellt. Graham, der wegen der erregten Empfindungen in seinem Innern nur um so vorsichtiger, fragte, ob gekämpft worden sei. »Ein wenig,« sagte Ostrog. »Nur in einem Viertel. Aber die Senegal-Division unserer afrikanischen Ackerbau-Polizei – die Vereinigten Afrika-Gesellschaften haben eine sehr gut gedrillte Polizei – war bereit, und ebenso die Aeroplanen. Wir hatten in den kontinentalen Städten und in Amerika ein wenig Unruhe erwartet. Aber in Amerika geht es sehr ruhig zu. Man ist mit dem Sturz des Rats zufrieden. Vorläufig.«

»Warum sollten Sie Unruhen erwarten?« fragte Graham unvermittelt.

»Es herrscht eine Menge Unzufriedenheit – sozialer Unzufriedenheit.«

»Die Arbeitsgesellschaft?«

»Sie lernen,« sagte Ostrog mit einem Anflug von Überraschung. »Ja. Es ist hauptsächlich die Unzufriedenheit mit der Arbeitsgesellschaft. Eben diese Unzufriedenheit hat die treibende Kraft zu dieser Umwälzung hergegeben – das und Ihr Erwachen.«

»Ja?«

Ostrog lächelte. Er wurde ausführlich. »Wir mußten ihre Unzufriedenheit aufrühren, wir mußten die alten Ideale vom allgemeinen Glück wiederbeleben – alle Menschen gleich – alle Menschen glücklich – kein Luxus, den nicht jeder teilen kann – Ideen, die zweihundert Jahre lang geschlummert haben. Sie wissen das? Wir hatten diese Ideale wiederzubeleben, so unmöglich sie auch sind – um den Rat zu stürzen. Und jetzt –«

»Und jetzt?«

»Unsere Revolution ist vollzogen, und der Rat ist gestürzt, und das Volk, das wir aufgerührt haben – bleibt in Brandung. Es ist kaum genug gekämpft ... Wir haben natürlich Versprechungen gegeben. Es ist außerordentlich, wie heftig und rapid sich dieser unbestimmte, veraltete Humanitätsschwindel neubelebt und ausgebreitet hat. Wir, die wir doch selber den Samen gesät haben, haben uns wundern müssen. In Paris, wie gesagt – haben wir ein wenig äußere Hilfe herbeirufen müssen.«

»Und hier?«

»Wir haben Unruhen. Ganze Massen wollen nicht an die Arbeit zurück. Wir haben einen allgemeinen Streik. Die Hälfte der Fabriken steht leer, und das Volk wimmelt auf den Straßen. Sie reden von einer Kommune. Männer in Seide sind auf den Straßen beschimpft worden. Die blaue Leinwand erwartet alles mögliche von Ihnen ... Natürlich brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen. Wir lassen die Schwätzmaschinen mit Gegensuggestionen in der Sache des Gesetzes und der Ordnung arbeiten. Wir dürfen nicht locker lassen. Das ist alles.«

Graham überlegte. Er sah einen Weg, sich durchzusetzen. Aber er sprach mit Zurückhaltung.

»Selbst so weit, daß wir eine Negerpolizei herbeirufen,« sagte er.

»Sie sind nützlich,« sagte Ostrog. »Es sind schöne, ergebene Bestien, ohne Spülicht von Ideen in den Köpfen – wie sie unser Pöbel hat. Die hätte der Rat als Straßenpolizei haben müssen, und die Dinge wären anders gegangen. Natürlich ist nichts zu fürchten als Rauferei und Trümmer. Sie können letzt ihre eigenen Flügel lenken und nach Capri fortfliegen, wenn es Rauch oder Lärm gibt. Wir haben alle großen Dinge in der Hand; die Aeronauten sind privilegiert und reich, der engste Gesellschaftsbund in der Welt, und ebenso die Ingenieure der Windräder. Wir haben die Luft, und die Herrschaft zur Luft ist die Herrschaft über die Erde. Niemand von Fähigkeiten organisiert gegen uns. Sie haben keine Führer – nur die Sektionsführer der geheimen Gesellschaft, die wir organisierten, ehe Sie so gelegen erwachten. Das sind bloße Tagediebe und Sentimentalisten, und sie sind bitter eifersüchtig aufeinander. Auch ist keiner von ihnen für eine Zentralfigur Manns genug. Die einzige Unruhe wird eine unorganisierte Erhebung sein. Um offen zu reden – die kann stattfinden. Aber sie wird Ihre Aeronautik nicht unterbrechen. Die Tage, da das Volk Revolution machen konnte, sind vorbei.«

»Vermutlich,« sagte Graham. »Vermutlich.« Er sann. »Diese Ihre Welt ist für mich voller Überraschungen gewesen. In den alten Tagen träumten wir von einem wundervollen, demokratischen Leben, von einer Zeit, da alle Menschen gleich und glücklich sein würden.«

Ostrog sah ihn fest an. »Der Tag der Demokratie ist vorbei,« sagte er. »Auf immer vorbei. Dieser Tag begann mit den Bogenschützen von Crecy, er war zu Ende, als nicht mehr die marschierende Infanterie, die gewöhnlichen Menschen in Waffen die Schlachten der Welt gewannen, als teure Kanonen, große Panzerschiffe und strategische Eisenbahnen die Machtmittel wurden. Heute ist der Tag des Reichtums. Der Reichtum ist heute die Macht, wie er noch nie die Macht gewesen ist – er herrscht über Erde, Meer und Himmel. Alle Macht ist für die, die den Reichtum handhaben können ... Tatsachen müssen Sie hinnehmen, und dies sind Tatsachen. Die Welt ist für die Masse! Die Masse als Herrscherin! Schon zu Ihren Tagen war dieses Credo geprüft und verworfen. Heute hat es nur einen Gläubigen – einen vielfältigen, albernen – den Mann der Masse.«

Graham antwortete nicht gleich. Er stand in düstere Betrachtungen versunken da.

»Nein,« sagte Ostrog. »Der Tag des gewöhnlichen Mannes ist vorbei. Auf dem offenen Land ist ein Mann so gut wie ein anderer, oder fast so gut. Die früheste Aristokratie hatte ein prekäres Besitzrecht der Kraft und Kühnheit. Sie waren mäßig – mäßig. Es gab Aufstände, Duelle, Raufereien. Die erste wirkliche Aristokratie, die erste dauernde Aristokratie kam mit den Burgen und Rüstungen und verschwand vor der Muskete und dem Bogen. Aber dies ist die zweite Aristokratie. Die wirkliche. Jene Tage des Schießpulvers und der Demokratie waren nur ein Wirbel im Strom. Der gemeine Mann ist heute ein hilfloser Einer. Jetzt haben wir diese große Stadtmaschine und eine Organisation, so kompliziert, daß sie seinen Verstand überschreitet.«

»Und doch«, sagte Graham, »leistet etwas Widerstand, halten Sie etwas nieder – etwas regt sich und drängt.«

»Sie werden sehen,« sagte Ostrog mit gezwungenem Lächeln, das diese schwierigen Fragen beiseite fegen sollte. »Ich habe die Kraft nicht geweckt, um mich zu vernichten – verlassen Sie sich auf mich.«

»Ich bin begierig,« sagte Graham.

Ostrog sah ihn an.

» Muß die Welt diesen Weg gehen?« sagte Graham, dessen Gefühle zum Reden drängten. »Muß sie wirklich diesen Weg gehen? Sind all unsere Hoffnungen vergeblich gewesen?«

»Was meinen Sie?« sagte Ostrog. »Hoffnungen?«

»Ich komme aus einer demokratischen Zeit. Und ich finde eine aristokratische Tyrannei.«

»Nun – aber Sie sind der Haupttyrann.«

Graham schüttelte den Kopf.

»Nun,« sagte Ostrog, »nehmen Sie die Frage allgemein. Es ist der Weg, den der Wechsel immer gegangen ist. Aristokratie, Herrschaft der besten – Leiden und Austilgung der untauglichen und so zu besseren Dingen.«

»Aber Aristokratie! Die Leute, die ich treffe –«

»O! nicht die!« sagte Ostrog. »Aber zum größten Teil gehen sie in ihren Tod. Laster und Genuß! Sie haben keine Kinder. Solch Zeug stirbt aus. Das heißt, wenn die Welt auf einer Straße bleibt, wenn es keine Wendung gibt. Ein leichter Weg zur Ausschweifung, bequeme Euthanasie für den an der Flamme versengten Genußsüchtigen, das ist der Weg, die Rasse zu verbessern!«

»Angenehmes Erlöschen,« sagte Graham. »Aber –« Er dachte einen Moment nach. »Es bleibt das andere – die Menge, die große Masse der Armen. Wird die aussterben? Die wird nicht aussterben. Und sie leidet, ihr Leiden ist eine Kraft, die selbst Sie –«

Ostrog machte eine ungeduldige Bewegung, und als er sprach, sprach er ein wenig weniger fließend als vorher.

»Beunruhigen Sie sich nicht über diese Dinge,« sagte er. »Alles wird jetzt in ein paar Tagen erledigt sein. Die Menge ist ein riesiges törichtes Vieh. Und wenn sie nicht ausstirbt? Selbst, wenn sie nicht stirbt, kann sie doch noch gezähmt und getrieben werden. Ich habe mit servilen Menschen keine Sympathie. Sie haben diese Leute vor zwei Nächten rufen und singen hören. Das Lied hatte man sie gelehrt. Wenn Sie da irgendeinen kühlen Blutes hergenommen hätten und hätten ihn gefragt, warum er schrie, er hätte es Ihnen nicht sagen können. Sie glauben, sie schreien für Sie, und sie sind Ihnen treu und ergeben. Grad da waren sie bereit, den Rat zu schlachten. Heute – murren sie schon gegen die, die den Rat gestürzt haben.«

»Nein, nein,« rief Graham. »Sie schrien, weil ihr Leben finster ist, ohne Freude und Stolz, und weil sie auf mich – auf mich – hofften!«

»Und was war ihre Hoffnung? Was ist ihre Hoffnung? Welches Recht haben sie zu hoffen? Sie arbeiten schlecht und wollen den Lohn derer, die gut arbeiten. Die Hoffnung der Menschheit – was ist sie? Daß eines Tages der Übermensch komme, daß eines Tages der Minderwertige, Schwache und Tierische unterworfen oder ausgeschaltet sei. Die Welt ist nicht der Ort für Schlechte, Blöde, Entnervte. Ihre Pflicht – und eine schöne Pflicht! – ist zu sterben. Der Tod des Mißlungenen! Das ist der Weg, auf dem das Tier zum Menschen stieg, auf dem der Mensch zu höheren Dingen weitergeht.«

Ostrog tat einen Schritt und wandte sich zu Graham. »Ich kann mir vorstellen, wie dieser unser großer Weltstaat einem Engländer aus Viktorias Zeit vorkommt. Sie sehnen sich nach all den alten Formen repräsentativer Regierung zurück – ihre Gespenster spuken noch in der Welt herum, die Wahlkomitees und Parlamente und all der Narrenkram des achtzehnten Jahrhunderts. Sie fühlen eine Regung gegen unsere Freudenstädte. Ich hätte mir das denken können – hätte ich nichts zu tun gehabt. Aber das werden Sie besser lernen. Das Volk ist toll vor Neid – sie würden mit Ihnen sympathisieren. Da unten in den Straßen, da schreien sie jetzt, man soll die Freudenstädte vernichten. Aber die Freudenstädte sind die Aussonderungsorgane des Staates, anziehende Orte, die Jahr für Jahr alles zusammenziehen, was schwach und verderbt ist, alles, was lasziv und träg ist, all die leichte Schurkerei der Welt ziehen sie zu einer anmutigen Vernichtung fort. Sie gehen dahin, sie leben ihre Zeit, sie sterben kinderlos, all die hübschen, törichten, leichtfertigen Frauen sterben kinderlos, und die Menschheit hat den Nutzen davon. Wenn das Volk vernünftig wäre, würde es die Reichen nicht um ihren Todesweg beneiden. Und Sie möchten die albernen, hirnlosen Arbeiter, die wir zu Sklaven gemacht haben, emanzipieren und versuchen, ihr Leben wieder leicht und angenehm zu machen. Gerade, wo sie zu dem gesunken sind, wozu sie taugen.« Er lächelte ein Lächeln, das Graham sonderbar reizte. »Sie werden das besser verstehen lernen. Ich kenne diese Ideen; als Kind habe ich Ihren Shelley gelesen und von der Freiheit geträumt. Es gibt keine Freiheit außer in Weisheit und Selbstbeherrschung. Die Freiheit ist drinnen – nicht draußen. Sie ist jedermanns eigene Sache. Nehmen Sie an – was unmöglich ist – diese wimmelnden, schreienden Narren in Blau gewännen die Oberhand, was dann? Sie werden nur unter andere Herren fallen. Solange es Schafe gibt, wird die Natur aus Raubtieren bestehen. Es hieße nur ein paar hundert Jahre Aufschub. Die Heraufkunft des Aristokraten ist Schicksal und sicher. Das Ende wird der Übermensch sein – trotz all der tollen Proteste der Menschheit. Laß sie sich empören, laß sie gewinnen und mich und meinesgleichen töten. Andere werden aufstehen – andere Herren. Das Ende wird das gleiche sein.«

»Ich hin begierig,« sagte Graham eigensinnig.

Einen Moment stand er niedergeschlagen da.

»Aber ich muß diese Dinge selber sehen,« sagte er, indem er plötzlich einen Ton zuversichtlicher Herrschaft annahm. »Nur wenn ich sehe, kann ich verstehen. Ich muß lernen. Das wollte ich Ihnen sagen, Ostrog. Ich will nicht in einer Freudenstadt König sein; das wäre mir keine Freude. Ich habe genug Zeit mit der Aeronautik verschwendet – und mit den anderen Dingen. Ich muß erfahren, wie das Volk jetzt lebt, wie sich das gewöhnliche Leben entwickelt hat. Dann werde ich diese Dinge besser verstehen. Ich muß erfahren, wie das gemeine Volk lebt – das Arbeitsvolk im besonderen – wie sie arbeiten, heiraten, Kinder gebären, sterben –«

»Das finden Sie in unseren realistischen Romanen,« rief Ostrog, plötzlich voreingenommen.

»Ich will Realität,« sagte Graham, »nicht Realismus.«

»Es gibt Schwierigkeiten,« sagte Ostrog und dachte nach. »Im ganzen vielleicht –«

»Ich hatte nicht erwartet –«

»Ich hatte mir gedacht – Und doch vielleicht – Sie sagen, Sie wollen durch die Stadtwege gehen und das gemeine Volk sehen.«

Plötzlich kam er zu einem Schluß. »Sie würden verkleidet gehen müssen,« sagte er. »Die Stadt ist intensiv aufgeregt, und die Entdeckung Ihrer Anwesenheit unter ihnen könnte einen furchtbaren Aufruhr hervorrufen. Immerhin bleibt dieser Ihr Wunsch, in diese Stadt zu gehen – diese Ihre Idee – Ja, jetzt, wo ich es bedenke, scheint es mir nicht so ganz – Es läßt sich machen. Wenn Sie sich wirklich dafür interessieren würden! Natürlich sind Sie Herr. Sie können bald gehen, wenn Sie wollen. Eine Verkleidung für diesen Ausflug wird Asano fertig bringen können. Er würde mit Ihnen gehen. Im Grunde ist es keine schlechte Idee von Ihnen.«

»Sie werden mich in keiner Sache zu Rat zu ziehen brauchen?« fragte Graham plötzlich, von einem sonderbaren Verdacht getroffen.

»O, Himmel, nein! Nein! Ich denke, Sie können mir die Geschäfte jedenfalls noch auf einige Zeit anvertrauen,« sagte Ostrog lächelnd. »Selbst, wenn wir verschiedener Meinung sein sollten –«

Graham sah ihn scharf an.

»Es wird in absehbarer Zeit keinen Kampf geben?« fragte er unvermittelt.

»Sicher nicht.«

»Ich habe an diese Neger gedacht. Ich glaube nicht, daß das Volk Feindseligkeiten gegen mich beabsichtigt, und schließlich bin ich der Herr. Ich wünsche nicht, daß Neger nach London geholt werden. Es ist vielleicht ein archaisches Vorurteil, aber ich habe meine eigenen Empfindungen über Europäer und die unterworfenen Rassen. Selbst mit Paris –«

Ostrog stand da und beobachtete ihn unter gesenkten Brauen her. »Ich hole keine Neger nach London,« sagte er langsam. »Aber wenn –«

»Sie sollen keine bewaffneten Neger nach London rufen, was auch geschehe,« sagte Graham. »In der Sache bin ich fest entschlossen.«

Ostrog entschied sich nach einer Pause dafür, nicht zu sprechen, und verneigte sich ehrerbietig.


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