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6.
Die Halle des Atlas

Von dem Moment an, als der Schneider seine Abschiedsverbeugung gemacht hatte, bis zu dem Moment, als Graham sich im Lift sah, waren im Ganzen kaum fünf Minuten vergangen. Und noch hing der Nebel dieser ungeheuren Zeit des Schlafes um ihn, noch überzog die anfängliche Fremdheit, das Sonderbare, daß er überhaupt in dieser fernen Zeit lebendig war, alles mit Staunen, mit einem Gefühl des Irrationellen, mit etwas von der Natur eines realistischen Traums. Er war noch losgelöst, ein erstaunter Zuschauer, noch erst halb selber ins Leben hineingezogen. Was er gesehen hatte, und besonders der letzte Tumult der Massen im Rahmen der Balkonfassung, hatte einen Hauch vom Schauspiel, wie etwas, was man von einer Theaterloge aus sieht. »Ich verstehe nicht,« sagte er. »Was war das für eine Unruhe? Mir wirbelt der Geist. Warum riefen sie? Worin liegt die Gefahr?«

»Wir haben unsere Unruhen,« sagte Howard. Seine Augen mieden Grahams fragenden Blick. »Dies ist eine unruhige Zeit. Und Ihr Erscheinen, wissen Sie, daß Sie gerade jetzt erwachten, das steht in einer Art Zusammenhang –«

Er sprach ruckweise, wie jemand, der seines Atems nicht ganz sicher ist. Er hielt plötzlich inne.

»Ich verstehe nicht –« sagte Graham.

»Es wird Ihnen später klar werden,« sagte Howard.

Er blickte unruhig nach oben, als finde er die Bewegung des Lifts zu langsam.

»Ich werde es ohne Zweifel besser verstehen, wenn ich mich ein wenig umgesehen habe,« sagte Graham verwirrt. »Es wird – es muß ja einfach verblüffend sein. Vorläufig ist alles so seltsam. Alles scheint möglich. Alles. Selbst in den Details. Ihre Zahlen, höre ich, sind anders.«

Der Lift hielt an, und sie traten in einen engen, aber sehr langen Gang zwischen hohen Wänden hinaus, die eine außerordentliche Anzahl von Röhren und dicken Kabeln entlang lief.

»Was für ein riesiges Gebäude dies ist!« sagte Graham. »Ist es alles ein einziges Gebäude? Was ist es?«

»Dies ist einer der Stadtwege für verschiedene öffentliche Dienste. Licht und so weiter.«

»War das eine soziale Unruhe – auf dem großen Straßenplatz da? Wie werden Sie regiert? Haben Sie noch eine Polizei?«

»Mehrere,« sagte Howard.

»Mehrere?«

»Etwa vierzehn.«

»Ich verstehe nicht.«

»Sehr wahrscheinlich nicht. Unsere soziale Ordnung wird Ihnen wahrscheinlich sehr kompliziert erscheinen. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich verstehe sie selber nicht allzu genau. Das tut niemand. Sie werden es vielleicht – später. Wir müssen zum Rat gehn.«

Grahams Aufmerksamkeit war zwischen der großen Dringlichkeit seiner Fragen und den Leuten in den Gängen und Hallen geteilt, durch die sie kamen. Einen Moment lang konzentrierte sich sein Geist auf Howard und die zögernden Antworten, die er gab, und dann verlor er den Faden, indem er auf einen lebhaften, unerwarteten Eindruck reagierte. Die Gänge entlang und in den Hallen schienen die Hälfte der Leute Männer in der roten Uniform zu sein. Die blaßblaue Leinwand, die auf dem Platz mit der gleitenden Straße so häufig gewesen war, erschien nicht. Unabänderlich sahen diese Leute ihn an und grüßten ihn und Howard, wenn sie vorübergingen.

Er hatte die klare Vision, daß sie in einen langen Korridor traten, und dort saßen eine Anzahl Mädchen wie in einer Klasse auf niedrigen Sitzen. Er sah keinen Lehrer, sondern nur einen neuen Apparat, aus dem, wie ihm schien, eine Stimme hervordrang. Die Mädchen sahen ihn und seinen Führer an, er meinte, mit Neugier und Staunen. Aber er wurde weitergezogen, ehe er eine klare Vorstellung von der Versammlung gewonnen hatte. Er schloß, sie würden Howard kennen, ihn aber nicht, und wunderten sich, wer er sein mochte. Dieser Howard, schien es, war ein Mensch von Bedeutung. Aber schließlich war auch er nur Grahams Kurator. Das war wunderlich.

Es folgte ein Gang im Zwielicht und in diesen Gang hing ein Fußweg in der Weise hinein, daß er die Füße und Knöchel darauf hin und her gehender Leute sehen konnte, aber nicht mehr von ihnen. Dann folgten unbestimmte Eindrücke von Galerien und von zufälligen, erstaunten Passanten, die sich umdrehten, um den beiden mit ihrer rotgekleideten Wache nachzustarren.

Der Anreiz der Stärkungsmittel, die er zu sich genommen hatte, war nur vorübergehend. Diese übermäßige Eile ermüdete ihn bald. Er bat Howard, seinen Schritt zu verlangsamen. Dann war er in einem Lift, der nach dem großen Straßenplatz zu ein Fenster hatte, aber er war mit Scheiben versehen und ließ sich nicht öffnen, und sie befanden sich zu hoch, als daß er die gleitenden Plattformen unten hätte sehen können. Aber er sah Leute, die an Kabeln hin und her flogen und über seltsame, gebrechlich aussehende Brücken gingen.

Und von da aus gingen sie in schwindliger Höhe quer über die Straße. Sie gingen auf einer schmalen Brücke, die mit Glas eingeschlossen war, so klar, daß es ihm schwindlig wurde, wenn er nur daran dachte. Auch ihr Boden war aus Glas. Nach seiner Erinnerung von den Klippen zwischen New Quai und Boscastle, die der Zeit nach so fern, dem Erlebnis nach so nah war, schien ihm, sie mußten sich nahezu vierhundert Fuß über der Gleitstraße befinden. Er blieb stehen und blickte zwischen seinen Beinen auf die schwärmenden blauen und roten Massen hinab, die winzig und verkürzt noch immer auf den kleinen Balkon weit unten zudrangen und gestikulierten – einen kleinen Spielzeugbalkon, so schien es – wo er noch vor so kurzer Zeit gestanden hatte. Ein dünner Nebel und der Glanz der mächtigen Lichtkugeln verdunkelte alles. Ein Mensch, der in einer kleinen Wiege von durchbrochener Arbeit saß, schoß von einem noch höheren Punkt aus, als die schmale Brücke war, vorbei, indem er an einem Kabel fast so schnell, als fiele er, hinabglitt. Graham blieb unwillkürlich stehen, um diesen seltsamen Passagier in einer kreisrunden Öffnung unten verschwinden zu sehen, und dann schweiften seine Augen auf den aufrührerischen Kampf zurück.

Einen der schnelleren Wege entlang flog eine dichte Menge roter Flecken. Der brach in Einzelwesen auseinander, als er sich dem Balkon näherte, und strömte dann die langsameren Wege hinunter auf die dichte, ringende Menge der Mittelfläche zu. Diese Leute in Rot schienen mit Stöcken oder Knütteln bewaffnet zu sein; sie schienen zu schlagen und zu stoßen. Ein großes Geschrei, Wutgebrüll und Gekreisch brach aus und klang dünn und schwach zu Graham herauf. »Weiter!« rief Howard und legte Hand an ihn.

Wieder stürzte jemand an einem Kabel herab. Graham blickte plötzlich nach oben, woher er käme, und sah durch das Glasdach und das Netzwerk von Kabeln und Trägern dunkle, rhythmisch vorbeifliegende Formen, Windmühlenflügeln ähnlich, und zwischen ihnen Stücke eines fernen und bleichen Himmels. Dann hatte Howard ihn über die Brücke vorwärts geschoben, und er war in einem kleinen, schmalen Gang, der mit geometrischen Mustern geschmückt war.

»Ich will mehr davon sehen,« sagte Graham und leistete ihm Widerstand.

»Nein, nein,« rief Howard, der noch immer seinen Arm gepackt hielt. »Hierher. Hier müssen Sie gehen.« Und die Leute in Rot, die ihnen folgten, schienen bereit, seinen Befehlen Gehorsam zu erzwingen.

Ein paar Neger in einer merkwürdigen wespenartigen Uniform aus Schwarz und Gelb erschienen am Ende des Ganges, und einer eilte, eine gleitende Klappe hinaufzuschieben, die Graham für eine Tür gehalten hatte, und führte hindurch. Graham sah sich in einer Galerie, die das Ende eines großen Zimmers überhing. Der Diener in Gelb und Schwarz ging hindurch, schob eine zweite Gleitklappe auf und blieb wartend stehen.

Dieser Raum sah aus wie ein Vorzimmer. Er sah in der Mitte eine Anzahl Menschen, und am gegenüberliegenden Ende ein großes und imposantes Tor am Kopf einer Treppenflucht; es war schwer verhangen, ließ aber doch eine noch größere Halle dahinter sehen. Er sah weiße Männer und noch weitere Neger in Gelb und Schwarz steif an diesen Portalen stehen.

Als sie durch die Galerie gingen, hörte er von unten heraus ein Flüstern: »Der Schläfer,« und er merkte, daß man die Köpfe drehte, und hörte ein Summen der Beobachtung. Sie traten durch die Wand dieses Vorzimmers in einen weiteren kleinen Gang, und dann sah er sich auf einer Galerie aus Metall mit eisernen Gittern, die um die große Halle herumlief, die er schon durch die Vorhänge gesehen hatte. Er betrat sie von einer Ecke aus, so daß er den vollsten Eindruck von ihren riesenhaften Proportionen erhielt. Der Schwarze in der Wespenuniform stand wie ein gut erzogener Diener zur Seite und schloß die Tür hinter ihm.

Im Vergleich mit all den Räumen, die Graham bislang gesehen hatte, schien dieser zweite Saal außerordentlich reich dekoriert. Auf einem Piedestal am entfernteren Ende und glänzender erleuchtet als irgend etwas sonst, stand eine gigantische weiße Figur des Atlas, stark und wacker, den Erdball auf den gebogenen Schultern. Sie war das erste, was ihm auffiel, sie war so riesig, so geduldig und schmerzlich-real, so weiß und einfach. Abgesehen von dieser Figur und einer Estrade in der Mitte, war der Boden der Halle eine glänzende Leere. Die Estrade stand fern auf der Riesenfläche; sie hätte wie eine bloße Metallplatte ausgesehen, wäre nicht die Gruppe von sieben Männern gewesen, die um einen Tisch darauf standen und eine Ahnung von ihren Proportionen gaben. Sie waren alle in weiße Gewänder gekleidet, sie schienen in dem Moment von ihren Sitzen aufgestanden zu sein und sahen Graham fest an. Am Ende des Tisches bemerkte er das Glitzern einiger mechanischer Vorrichtungen.

Howard führte ihn die Galerie entlang, bis sie der gewaltigen, sich mühenden Gestalt gegenüber waren. Dann blieb er stehen. Die zwei Männer in Rot, die ihnen in die Galerie gefolgt waren, kamen und stellten sich Graham zu beiden Seiten.

»Sie müssen hier bleiben,« murmelte Howard, »nur auf ein paar Momente,« und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er die Galerie entlang.

»Aber, warum –?« begann Graham.

Er machte eine Bewegung, als wolle er Howard folgen, und sah sich von einem der Leute in Rot den Weg vertreten. »Sie haben hier zu warten, Sire,« sagte der Mann in Rot.

»Warum?«

»Befehle, Sire!«

»Wessen Befehle?«

»Unsere Befehle, Sire.«

Graham legte all seine Erbitterung in seinen Blick.

»Was ist dies für ein Saal?« sagte er dann. »Wer sind diese Leute?«

»Es sind die Herren vom Rat, Sire.«

»Von welchem Rat?«

»Von dem Rat.«

»O!« sagte Graham und nach einem gleich wirkungslosen Versuch bei dem andern trat er an das Gitter und starrte auf die fernen Leute in Weiß, die da standen, ihn beobachteten und miteinander flüsterten.

Der Rat? Er sah, jetzt waren es acht, obgleich er nicht bemerkt hatte, wie der achte hinzugekommen war. Sie machten keine Gesten der Begrüßung; sie standen da und sahen ihn an, wie im neunzehnten Jahrhundert eine Gruppe von Menschen hätte auf der Straße stehen und einen fernen Ballon ansehen können, der plötzlich in ihr Gesichtsfeld geflogen wäre. Was für ein Rat konnte es sein, der sich dort versammelt hatte, jene kleine Schar von Menschen unter dem bedeutungsvollen weißen Atlas, abgeschlossen gegen jeden Lauscher in dieser eindrucksvollen Geräumigkeit? Und warum wurde er zu ihnen gebracht und so seltsam angeblickt und unhörbar erörtert? Howard erschien unten und ging rasch über den glänzenden Boden auf sie zu. Als er ihnen nahe kam, verbeugte er sich und vollführte gewisse eigentümliche Bewegungen, offenbar zeremonieller Art. Dann stieg er die Stufen der Estrade hinauf und blieb bei dem Apparat am Ende des Tisches stehen.

Graham beobachtete dieses kleine, unhörbare Gespräch. Gelegentlich warf einer der Weißgekleideten einen Blick auf ihn. Er strengte seine Ohren vergebens an. Die Gesten zweier der Sprecher wurden lebhaft. Er blickte von ihnen auf die passiven Gesichter seiner Begleiter ... Als er wieder hinblickte, streckte Howard wie jemand, der protestiert, die Arme aus und bewegte den Kopf. Er wurde, so schien es, von einem der Weißgekleideten, der auf den Tisch klopfte, unterbrochen.

Das Gespräch dauerte für Grahams Empfindung eine endlose Zeit. Seine Augen hoben sich auf den stillen Riesen, zu dessen Füßen der Rat saß. Von da aus wanderten sie schließlich auf die Wände des Saals. Er war mit langen, gemalten Paneelen von einem quasi-japanischen Typus verziert, von denen viele sehr schön waren. Diese Paneele waren in ein großes und kunstvolles Rahmenwerk aus dunklem Metall eingelassen, das in die metallenen Karyatiden der Galerien und die großen Strukturlinien des Inneren überging. Die leichte Anmut dieser Paneele erhöhte noch die gewaltige weiße Anstrengung, die sich im Zentrum der Anlage mühte. Grahams Augen wanderten auf den Rat zurück, und Howard stieg die Stufen herab. Als er näher kam, ließen sich seine Züge unterscheiden, und Graham sah, daß er erregt war und seine Backen aufblies. Sein Ausdruck war noch verstört, als er gleich darauf wieder auf der Galerie erschien.

»Hier entlang,« sagte er konzis, und sie gingen schweigend zu einer Tür weiter, die sich bei ihrem Nahen auftat. Die beiden Leute in Rot blieben zu beiden Seiten dieser Tür stehen. Howard und Graham gingen hinein, und als Graham zurückblickte, sah er den weißgewandeten Rat noch in einer engen Gruppe stehen und ihm nachsehen. Dann schloß sich die Tür mit einem schweren Stoß hinter ihm, und zum erstenmal seit seinem Erwachen befand er sich in Stille. Sogar der Boden blieb unter seinen Füßen geräuschlos.

Howard öffnete eine weitere Türe und sie standen im ersten von zwei anstoßenden Zimmern, die in Weiß und Grün ausgestattet waren. »Was war das für ein Rat?« begann Graham. »Worüber berieten sie? Was haben sie mit mir zu tun?« Howard schloß die Tür sorgfältig, seufzte tief auf und sagte etwas im Flüsterton. Er ging schräg durchs Zimmer und drehte sich um, indem er wieder die Backen aufblies. »Uh!« grunzte er erleichtert.

Graham stand da und sah ihn an.

»Sie müssen verstehen,« begann Howard unvermittelt, indem er Grahams Auge mied, »daß unsere Gesellschaftsordnung sehr kompliziert ist. Eine halbe Erklärung, eine nackte, ungeschickte Darstellung würde Ihnen falsche Eindrücke geben. Um es kurz zu sagen – es ist zum Teil eine Sache von Zinseszinsen – Ihr kleines Vermögen und das Vermögen Ihres Vetters Warming, das Ihnen hinterblieb – und gewisse andere Anfänge – sind sehr beträchtlich geworden. Und auch noch auf andere Arten, die Sie nur sehr schwer verstehen werden, sind Sie eine Person von Bedeutung geworden – von sehr beträchtlicher Bedeutung – in die Angelegenheiten der Welt verwickelt.«

Er hielt inne.

»Ja?« sagte Graham.

»Wir haben große soziale Unruhen.«

»Ja?«

»Es ist dahin gekommen, daß es, kurz, daß es rätlich ist, Sie hier abzuschließen.«

»Mich gefangen zu halten!« rief Graham aus.

»Nun – Sie zu bitten, sich abgeschlossen zu halten.«

Graham wandte sich ihm zu. »Dies ist seltsam!« sagte er.

»Ihnen wird nichts zuleid getan werden.«

»Zuleid!«

»Aber Sie müssen hier gehalten werden –«

»Solange ich lerne, welches meine Stellung ist, vermutlich.«

»Ganz recht.«

»Gut also. Beginnen Sie. Warum zuleid?«

»Nicht jetzt.«

»Warum nicht?«

»Es ist eine zu lange Geschichte, Sire.«

»Um so mehr Grund, sie sofort zu beginnen. Sie sagen, ich bin eine Person von Bedeutung. Was war das für ein Rufen, das ich hörte? Warum schreit eine große Menge und regt sich auf, weil mein Starrkrampf vorüber ist, und wer sind die Leute in Weiß in dem riesigen Ratszimmer?«

»Alles zu seiner Zeit, Sire,« sagte Howard. »Aber nicht unüberlegt, nicht unüberlegt. Dies ist eine jener wilden Zeiten, wo niemand einen klaren Geist hat. Ihr Erwachen. Niemand hatte Ihr Erwachen erwartet. Der Rat berät sich.«

»Welcher Rat?«

»Der Rat, den Sie gesehen haben.«

Graham machte eine eigensinnige Bewegung. »Dies ist nicht recht,« sagte er. »Man sollte mir sagen, was vorgeht.«

»Sie müssen warten. Wirklich, Sie müssen warten.«

Graham setzte sich hin. »Ich glaube, da ich solange gewartet habe, ehe ich das Leben neu begann,« sagte er, »so muß ich noch ein wenig länger warten.«

»Das ist besser,« sagte Howard. »Ja, das ist viel besser. Und ich muß Sie allein lassen. Eine Zeitlang. Solange ich der Diskussion im Rat beiwohne ... Es tut mir leid.«

Er ging auf die geräuschlose Tür zu, zögerte und verschwand.

Graham ging auch zur Tür, versuchte sie, fand sie auf eine Weise, die er nie begreifen sollte, gesperrt, drehte sich um, ging rastlos im Zimmer umher und setzte sich. Er blieb eine Zeitlang mit gekreuzten Armen und gerunzelter Stirn sitzen, indem er sich die Fingernägel biß und versuchte, die kaleidoskopischen Eindrücke dieser ersten Stunde des erwachten Lebens zusammenzustücken; die ungeheuren mechanischen Räume, die endlosen Reihen von Zimmern und Gängen, den großen Kampf, der auf diesen seltsamen Straßen brüllte und wogte, die kleine Gruppe ferner, teilnahmsloser Männer unter dem kolossalen Atlas, Howards geheimnisvolles Benehmen. Er ahnte schon etwas von einem ungeheuren Erbe – einem ungeheuren, vielleicht falsch angewendeten Erbe – von nie erhörter Bedeutung und Gelegenheit. Was hatte er zu tun? Und die abgeschlossene Stille dieses Zimmers sprach beredt von Gefangenschaft.

Es drängte sich Graham mit unwiderstehlicher Überzeugung auf, daß diese Reihe großartiger Eindrücke ein Traum war. Er versuchte die Augen zu schließen und es gelang, aber dieser uralte Kunstgriff führte zu keinem Erwachen.

Dann begann er all die unbekannten Einrichtungen der beiden kleinen Zimmer, in denen er sich befand, zu berühren und zu untersuchen.

In einem langen, ovalen Spiegelpaneel erblickte er sich und blieb erstaunt stehen. Er war in ein anmutiges Kostüm aus Purpur und einem bläulichen Weiß gekleidet, trug einen kleinen, spitz zugeschnittenen, graugesprenkelten Bart, und sein Haar, dessen Schwarz jetzt von grauen Strichen gestreift war, war über der Stirn auf eine ungewohnte aber anmutige Art geordnet. Er schien ein Mann von vielleicht fünfundvierzig. Einen Moment merkte er nicht, daß er es selber war.

Mit dem Erkennen blitzte ein Lachen über ihn. »So bei dem alten Warming zu erscheinen!« rief er aus, »und mich von ihm zum Lunch ausführen zu lassen!«

Dann dachte er daran, wie er erst einen und dann den andern der wenigen vertrauten Bekannten seiner frühen Mannheit wiedersehen würde und mitten in dieser Unterhaltung wurde ihm klar, daß jede Seele, mit der er scherzen könnte, schon viele Dutzende von Jahren tot war. Der Gedanke traf ihn unvermittelt und scharf; er hielt inne, der Ausdruck seines Gesichtes verwandelte sich in weiße Bestürzung.

Die wirre Erinnerung an die gleitenden Plattformen und die riesige Fassade jener wundervollen Straße machte sich wieder geltend. Die rufenden Massen kamen ihm klar und lebhaft zurück, und dann jene fernen, unhörbaren, unfreundlichen Räte in Weiß. Er empfand sich als kleine Gestalt, sehr klein und machtlos, erbarmungswert auffällig. Und rings um ihn, die Welt war – fremd.


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