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5.
Die gleitenden Straßen

Er trat an das Gitter des Balkons und starrte nach oben. Ein Ausruf der Überraschung und der Lärm einer großen Zahl von Menschen scholl bei seinem Erscheinen aus dem geräumigen Bereich von unten herauf.

Sein erster Eindruck war der einer überwältigenden Architektur. Der Raum, in den er blickte, war ein titanischer Gebäudeflügel, der sich in allen Richtungen geräumig fortschweifte. Zu Häupten sprangen über der riesigen Spannweite gewaltige Sparrenköpfe heraus, und ein Maßwerk aus durchleuchtendem Material schloß den Himmel aus. Gigantische Kugeln kühlen weißen Lichtes beschämten die blassen Sonnenstrahlen, die durch die Bindebalken und Rippen herunterfilterten. Hier und dort flog eine Spinnwebhängebrücke, die mit Fußgängern besetzt war, über den Abgrund, und in der Luft hing ein Gewebe schlanker Kabel. Über ihm, merkte er, als er nach oben blickte, hing eine Gebäudeklippe, und die gegenüberliegende Fassade war grau und dunkel und durchbrochen von großen Bogen, kreisrunden Öffnungen, Balkonen, Strebepfeilern, Turmvorsprüngen, Myriaden von weiten Fenstern und einem verschlungenen Schema architektonischen Reliefs. Darüber hinweg liefen horizontale und schräge Inschriften in unbekannter Schrift. Hier und dort waren nahe am Dach Kabel von besonderer Stärke befestigt, die in steiler Kurve zu kreisrunden Öffnungen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes niederhingen, und während Graham diese noch ansah, fesselte die ferne und winzige Gestalt eines Menschen in blaßblauem Anzug seine Aufmerksamkeit. Diese kleine Gestalt stand quer über dem Raum weit zu Häupten neben der Befestigung eines dieser Kabel; sie hing von einem kleinen Mauerrand vornüber und handhabte einige nahezu unsichtbare Taue, die von dem Kabel herabhingen. Dann plötzlich war dieser Mensch mit einem Schwung, bei dem Graham das Herz in den Mund sprang, die Kurve heruntergestürzt und durch eine runde Öffnung diesseits der Straße verschwunden. Graham hatte nach oben gesehen, als er auf den Balkon hinaustrat, und was er oben und gegenüber sah, hatte seine Aufmerksamkeit zuerst so in Anspruch genommen, daß er sonst nichts sah. Dann entdeckte er plötzlich die Straße! Es war gar keine Straße, nicht das, was Graham unter einer Straße verstand, denn im neunzehnten Jahrhundert bestanden die einzigen Chausseen und Straßen aus gestampften Streifen bewegungsloser Erde, sich drängenden Strömen von Fuhrwerken zwischen engen Fußpfaden. Aber diese Straße war dreihundert Fuß breit, und sie bewegte sich. Sie bewegte sich außer der Mitte, der tiefsten Stelle. Einen Moment blendete ihm die Bewegung den Geist. Dann verstand er.

Unter dem Balkon lief diese außerordentliche Straße rasch nach rechts, ein endloser Strom, der so schnell dahinschoß wie ein Expreßzug des neunzehnten Jahrhunderts, eine endlose Plattform von schmalen, übereinandergreifenden Querplatten mit kleinen Zwischenräumen, die ihr erlaubten, den Biegungen der Straße zu folgen. Darauf standen Bänke und hier und dort kleine Kioske, aber sie fegten zu rasch vorbei, als daß Graham hätte sehen können, was darin war. Von dieser nächsten und schnellsten Plattform aus stiegen eine Reihe von anderen bis zur Mitte hinunter. Alle bewegten sich nach rechts, jede merklich langsamer als die nächst höhere, aber der Unterschied in der Geschwindigkeit war gering genug, um jedermann zu gestatten, daß er von jeder Plattform auf die anstoßende trat und so ununterbrochen von der schnellsten bis zur bewegungslosen mittleren ging. Jenseits dieses mittleren Weges stürzte eine zweite Reihe endloser Plattformen mit abgestufter Geschwindigkeit von Graham aus nach links. Und eine unzählige und wunderbar abwechslungsreiche Volksmenge saß in Haufen auf den zwei breitesten und schnellsten Plattformen oder trat die Stufen hinunter von einer auf die andere oder schwärmte über den mittleren Raum.

»Hier dürfen Sie nicht bleiben,« rief plötzlich Howard an seiner Seite. »Sie müssen sofort mitkommen.«

Graham gab keine Antwort. Er hörte, ohne zu hören. Die Plattformen liefen brüllend hin, und das Volk schrie. Er bemerkte Frauen und Mädchen mit fliegendem Haar, in wundervollen Gewändern, mit zwischen den Brüsten gekreuzten Binden. Sie traten zuerst aus dem Wirrwarr heraus. Dann fiel ihm auf, daß die herrschende Note in diesem Kaleidoskop von Kostümen das Blaßblau war, das der Schneiderjunge getragen hatte. Er wurde sich bewußt, daß man rief: »Der Schläfer. Was ist mit dem Schläfer geschehen?« und es war, als seien die fliegenden Plattformen vor ihm plötzlich mit dem blassen Gelb menschlicher Gesichter gesprenkelt, und dann noch dichter. Er sah gehobene Finger. Er bemerkte, daß das bewegungslose Mittelgebiet dieses riesigen Bogenganges genau dem Balkon gegenüber dicht gedrängt voll blau gekleideten Volkes stand. Die Leute schienen die laufenden Plattformen auf beiden Seiten hinaufgedrängt und gegen ihren Willen fortgetragen zu werden. Sie sprangen ab, sobald sie über das Gedränge des Wirrwarrs hinaus waren und liefen zu dem Tumult zurück.

»Es ist der Schläfer. Wahrhaftig, es ist der Schläfer,« riefen Stimmen. »Das ist niemals der Schläfer,« riefen andere. Mehr und mehr Gesichter wandten sich ihm zu. In den Zwischenräumen dieses Zentralwegs sah Graham Öffnungen, Löcher, offenbar die Köpfe von Treppen, die hinunterführten, und es stiegen Leute aus ihnen herauf und in sie hinunter. Der scheinbare Kampf konzentrierte sich um das ihm nächste dieser Löcher. Das Volk lief die gleitenden Plattformen dahin hinab, indem man geschickt von Plattform zu Plattform sprang. Die auf den höheren Plattformen gedrängten Leute schienen ihr Interesse zwischen diesem Punkt und dem Balkon zu teilen. Eine Anzahl kräftiger, kleiner Gestalten, die eine Uniform aus hellem Rot trugen und methodisch zusammenarbeiteten, schienen damit beschäftigt, den Zutritt zu dieser nach unten führenden Treppe abzusperren. Um sie sammelte sich rasch eine Volksmenge. Ihre glänzende Farbe kontrastierte lebhaft gegen das weißliche Blau ihrer Gegner, denn der Kampf war nicht zu verkennen.

Er sah all das, während Howard ihm ins Ohr schrie und ihm den Arm schüttelte. Und dann war Howard plötzlich fort, und er stand allein.

Er merkte, daß die Rufe: »Der Schläfer!« an Umfang zunahmen, und daß das Volk auf der näheren Plattform aufstand. Die nähere, schnellere Plattform, sah er, war nach rechts hin leer, und fern drüben in dem Raum war die Plattform, die in entgegengesetzer Richtung lief und gedrängt voll ankam, leer, wo sie nach links hin wegglitt. Mit unglaublicher Geschwindigkeit hatte sich auf dem Mittelraum vor seinen Augen eine ungeheure Menge gesammelt; eine dichte schwankende Volksmasse; und die Rufe wurden aus einem stoßweisen Schreien zu einem umfangreichen, kontinuierlichen Toben: »Der Schläfer! der Schläfer!« und zu einem Gellen und Jubeln und Schwenken von Kleidern, und viele Stimmen riefen: »Die Straßen halten lassen!« Sie riefen auch noch einen andern, Graham fremden Namen. Es klang wie »Ostrog«. Die langsameren Plattformen waren bald mit geschäftigem Volk besetzt, das gegen die Bewegung anlief, um ihm gegenüber zu bleiben.

»Die Straßen halten lassen!« schrien sie. Bewegliche Gestalten liefen schnell vom Zentrum aus zu dem ihm nächsten schnellen Weg herauf und wurden rapid an ihm vorbeigetragen, während sie seltsame, unverständliche Dinge riefen, und dann liefen sie schräg zum Mittelweg zurück. Eins unterschied er: »Es ist wirklich der Schläfer. Es ist wirklich der Schläfer,« bezeugten sie.

Eine Zeitlang stand Graham regungslos. Dann wurde ihm lebhaft bewußt, daß all dies sich um ihn drehte. Ihm gefiel seine wunderbare Popularität, er verbeugte sich, und da er nach einer Geste von weiterem Wirkungskreis suchte, schwenkte er seinen Arm. Er war erstaunt über die Gewalt des Aufruhrs, den das hervorrief. Der Tumult um die hinabführende Treppe stieg zu wütender Heftigkeit. Er sah volle Balkone, Menschen, die Kabel herabglitten, Menschen, die in trapezartigen Sitzen quer durch den Raum fegten. Er hörte Stimmen hinter sich, eine Anzahl von Leuten, die durch den Bogen die Stufen herabstiegen; er merkte plötzlich, daß sein Kurator Howard wieder da war, ihn schmerzhaft am Arm packte, und ihm unhörbar ins Ohr schrie.

Er drehte sich um, und Howards Gesicht war weiß. »Kommen Sie zurück,« hörte er. »Sie werden die Straßen zum Halten bringen. Die ganze Stadt wird in Verwirrung geraten.«

Er sah eine Anzahl von Leuten hinter Howard den blauen Pfeilergang entlang geeilt kommen, den Rothaarigen, den Mann mit dem Flachsbart, einen großen Mann in lebhaftem Scharlach, eine Menge von anderen in Rot, die Stäbe trugen, und all diese Leute zeigten ängstliche, eifrige Gesichter.

»Bringen Sie ihn fort,« rief Howard.

»Aber warum?« sagte Graham. »Ich sehe nicht ein –«

»Sie müssen mitkommen!« sagte der Mann in Rot mit entschlossener Stimme. Sein Gesicht und seine Augen waren gleichfalls entschlossen. Grahams Blicke gingen von Gesicht zu Gesicht, und er lernte plötzlich jenen unangenehmsten Geschmack im Leben kennen, den Zwang. Irgend jemand faßte ihn am Arm ... Er wurde fortgezogen. Es war, als würden aus dem Aufruhr plötzlich zwei, als wäre die Hälfte der Rufe, die von dieser wunderbaren Straße heraufgeströmt waren, plötzlich in die Gänge des großen Gebäudes hinter ihm gesprungen. Verwundert und verwirrt, mit dem ohnmächtigen Wunsch, zu widerstehen, wurde Graham den blauen Pfeilergang entlang geführt und halb gestoßen, und plötzlich sah er sich mit Howard allein in einem Lift, der rasch nach oben stieg.


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