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Und so kam dieser Mensch aus dem neunzehnten Jahrhundert nach seltsamen Verzögerungen und durch eine Gasse von Zweifeln und Kämpfen schließlich zu seiner Stellung an der Spitze jener komplizierten Welt.
Als er zuerst von dem langen, tiefen Schlaf aufstand, der seiner Befreiung und der Übergabe des Rates folgte, erkannte er seine Umgebung nicht. Durch eine Anstrengung gewann er einen Schlüssel im Geist, und alles, was geschehen war, kam ihm zurück, zuerst mit einem Hauch der Unwirklichkeit, wie eine gehörte Geschichte, wie etwas, was man in einem Buch gelesen hat. Und noch ehe seine Erinnerung klar war, standen ihm wieder das Frohlocken über seine Rettung, das Staunen über seine Stellung im Geist. Ihm gehörte die halbe Welt; er war der Herr der Erde. Diese neue große Zeit war im vollständigsten Sinne sein. Er hoffte nicht mehr zu entdecken, daß seine Erlebnisse ein Traum waren; jetzt verlangte es ihn, sich von ihrer Wirklichkeit zu überzeugen.
Ein unterwürfiger Diener half ihm, sich unter der Leitung eines würdevollen Hausmeisters anzuziehen, eines kleinen Mannes, dessen Gesicht ihn als Japaner verriet, obgleich er wie ein Engländer Englisch sprach. Von ihm erfuhr er einiges über den Stand der Dinge. Schon war die Revolution eine vollendete Tatsache; schon wurde das Geschäft in der ganzen Stadt wieder aufgenommen. Im Ausland war der Sturz des Rates zum größten Teil mit Entzücken aufgenommen. Nirgends war der Rat populär, und die tausend Städte von Westamerika, die nach zweihundert Jahren noch immer auf New York, London und den Osten eifersüchtig waren, hatten sich vor zwei Tagen bei der Nachricht von Grahams Gefangennahme einstimmig erhoben. Paris hatte innere Kämpfe. Der Rest der Welt hing in der Schwebe.
Als er frühstückte, drang der Lärm einer Telephonglocke aus einem Winkel, und sein Haushofmeister machte ihn auf Ostrogs Stimme aufmerksam, die höfliche Erkundigungen stellte. Graham unterbrach seine Erfrischung, um zu antworten. Sehr bald traf Lincoln ein, und Graham sprach sofort den starken Wunsch aus, mit Leuten zu reden und sich mehr von dem neuen Leben zeigen zu lassen, das sich vor ihm auftat. Lincoln teilte ihm mit, daß in drei Stunden in den Räumen des Windradamtes eine repräsentative Versammlung von Beamten mit ihren Frauen abgehalten würde. Grahams Wunsch, die Straßen der Stadt zu durchziehen, sei jedoch vorläufig wegen der ungeheuren Aufregung des Volkes unerfüllbar. Doch sei es ihm sehr gut möglich, die Stadt vom Krähennest des Windradwächters aus der Vogelsperspektive zu betrachten. Dahin wurde Graham also von seinem Haushofmeister geführt. Lincoln entschuldigte sich unter einem anmutigen Kompliment für den Hausmeister mit dem gegenwärtigen Druck der Verwaltungsarbeit, wenn er sie nicht begleitete.
Höher noch als die gigantischsten Windräder hing dies Krähennest, volle tausend Fuß über den Dächern, ein kleiner, scheibenförmiger Fleck auf einem Mast aus metallischem Flechtwerk an Kabeln. Hinauf wurde Graham in einer kleinen, an Drähten hängenden Wiege gezogen. In halber Höhe lief um den gebrechlich aussehenden Stamm eine leichte Galerie, um die ein Gewirr von Röhren hing – winzig sahen sie von oben aus – die langsam auf dem Ring ihres äußeren Gitters rotierten. Das waren die Specula, en rapport mit den Spiegeln des Windradwächters, auf deren einem Ostrog ihm die Heraufkunft seiner Herrschaft gezeigt hatte. Sein japanischer Hausmeister stieg vor ihm hinauf, und sie verbrachten fast eine Stunde damit, Fragen zu stellen und zu beantworten.
Es war ein Tag voll vom Versprechen und Hauch des Frühlings. Der Wind wurde wärmer. Der Himmel war ein intensives Blau, und die riesige Fläche Londons leuchtete blendend unter der Morgensonne. Die Luft war frei von Rauch und Nebel, frisch wie die Luft eines Bergtals.
Abgesehen von dem unregelmäßigen Ruinenoval um das Rathaus und der schwarzen Kapitulationsflagge, die dort flatterte, zeigte die mächtige Stadt, von oben gesehen, wenig Zeichen einer raschen Revolution, die für seine Phantasie in einer Nacht und einem Tage die Geschicke der Welt verändert hatte. Eine Menge von Leuten wimmelte noch über diesen Ruinen, und die riesigen Gerüstbühnen in der Ferne, von denen in Friedenszeiten der Aeroplanendienst nach den verschiedenen großen Städten von Europa und Amerika ausging, waren gleichfalls von den Siegern schwarz. Auf einem schmalen Plankenweg, der auf Gerüsten quer über die Ruinen errichtet war, war eine Schar von Arbeitern beschäftigt, die Verbindung zwischen den Kabeln und Drähten des Rathauses und der übrigen Stadt wiederherzustellen, was vor der Verlegung von Ostrogs Hauptquartier aus dem Windfahnenamt dorthin vollendet werden mußte.
Im übrigen war die leuchtende Fläche ungestört. So gewaltig war ihre Ruhe im Vergleich mit den Gebieten der Störung, daß Graham alsbald, sowie er von ihnen fortsah, die Tausende von Menschen, die in dem künstlichen Licht des quasi unterirdischen Labyrinthes tot oder an den nächtlichen Wunden sterbend, außer Sicht lagen, fast vergessen konnte, vergessen die improvisierten Baracken mit den Scharen von Chirurgen, Krankenpflegern und Trägern, die fieberisch geschäftig waren, vergessen sogar all das Staunen, die Bestürzung, das Neue unter den elektrischen Lichtern. Da unten in den verborgenen Straßen des Ameisenhügels, da, wußte er, hatte die Revolution triumphiert, da siegte überall das Schwarz, schwarze Schleifen, schwarze Banner, schwarze Festons über den Straßen. Und hier draußen unter dem frischen Sonnenlicht, über dem Krater des Kampfes brüllte der Wald der Windräder, der aus einem oder zweien emporgewachsen war, während der Rat geherrscht hatte, friedlich in ihrem unaufhörlichen Dienst.
Weit weg, spitzig, zackig, gezahnt von den Windrädern, erhoben sich blau und blaß die Hügel von Surrey; nach Norden und näher waren die scharfen Konturen von Highgate und Muswell ähnlich gezackt. Und über das ganze Land hin, das wußte er, auf jedem Kamm und Hügel, wo sich einst die Hecken gekreuzt, und Landhäuser, Kirchen, Gasthöfe und Farmen in ihren Bäumen genistet hatten, da warfen Windräder, ähnlich denen, die er sah, und bedeckt wie sie mit Reklameschildern, hagere und auffällige Symbole der neuen Zeit, ihre wirbelnden Schatten und speicherten unablässig die Kraft auf, die unablässig in die Arterien der Stadt davonfloß. Und unter ihnen wanderten die zahllosen Herden und Rinder des Britischen Nahrungsmittel-Trusts mit ihren einsamen Hirten und Hütern.
Nirgends durchbrach ein vertrauter Umriß den Haufen gigantischer Formen unten. St. Paul, das wußte er, war noch vorhanden, und ebenso viele der alten Gebäude in Westminster, eingebettet, daß man sie nicht sehen konnte, überbrückt und eingedeckt unter dem Riesenwachstum dieser großen Zeit. Auch die Thames unterbrach die Wildnis der Stadt durch kein Silberband und Glitzern; die durstigen Wasserleitungen tranken jeden Tropfen ihrer Wasser aus, ehe sie die Mauern erreichte. Ihr Bett und ihre Mündung war jetzt, verschwemmt und gesunken, ein Kanal von Meerwasser, und ein Geschlecht von schmutzigen Schiffern brachte das schwere Handelsmaterial vom Pool daneben, direkt unter den Füßen der Arbeiter heraus. Blaß und undeutlich hingen im Osten zwischen Himmel und Erde die wimmelnden Masten der kolossalen Schiffsmengen im Pool. Denn alle schweren Waren, für die keine Eile nötig war, kamen in gigantischen Schiffen von den Enden der Erde herbei, und die schweren Güter, die eilig waren, in mechanischen Schiffen von kleinerem, schnellerem Bau.
Und vom Süden her, über die Hügel, kamen riesige Aquädukte mit Meerwasser für die Kloaken, und in drei getrennten Richtungen liefen blasse Linien hin – die Straßen, getüpfelt mit beweglichen grauen Flecken. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, war er entschlossen, hinauszugehen und sich diese Straßen anzusehen. Das sollte nach dem Flugschiff kommen, das er alsbald probieren wollte. Der diensttuende Offizier beschrieb sie als ein paar leicht gewölbte Flächen von hundert Metern Breite, je eine für den Verkehr in einer Richtung und hergestellt aus einem Material namens Eadhamit – einem künstlich hergestellten Material, das, soweit er entnehmen konnte, zäh gemachtem Glase glich. Auf diesen schoß ein seltsamer Verkehr gummirädriger Fuhrwerke hin, große Einräder, Zwei- und Vierräder, die mit Geschwindigkeiten von einer bis zu sechs Meilen die Minute dahinfegten. Die Eisenbahnen waren verschwunden; ein paar Bahndämme waren hier und dort noch als rostgekrönte Schanzen vorhanden. Ein paar bildeten den Kern der Eadhamitstraßen.
Unter den ersten Dingen, die ihm auffielen, waren die großen Flotten von Reklame-Ballons und Drachen gewesen, die sich in unregelmäßigen Perspektiven nach Norden und Süden an den Linien der Aeroplanenreisen hinzogen. Aeroplanen waren nicht zu sehen. Ihre Reisen waren unterbrochen, und nur ein klein erscheinender Aeropile kreiste hoch in der blauen Ferne über den Hügeln von Surrey, ein ausdrucksloser, schwebender Fleck.
Etwas, was Graham schon erfahren hatte, und was sich vorzustellen ihm sehr schwer wurde, war, daß fast alle Städte im Lande und fast alle Dörfer verschwunden waren. Nur hier und dort, hörte er, stand ein riesenhaftes, hotelartiges Gebäude unter Quadratmeilen einer gleichmäßigen Kultur und rettete den Namen einer Stadt – Bournemouth, Wareham oder Swanage. Aber bald hatte ihn der Offizier überzeugt, wie unvermeidlich eine solche Veränderung gewesen war. Die alte Ordnung hatte das Land mit Bauernhäusern gesprenkelt, und alle zwei oder drei Meilen stand der Hof des Gutsherrn und der Ort mit Gasthof und Schuhmacher, Krämerladen und Kirche – das Dorf. Alle acht Meilen etwa kam die Landstadt, wo Anwalt, Kornhändler, Wollkaufmann, Sattler, Tierarzt, Doktor, Leinenhändler, Putzmacherin und so weiter wohnten. Alle acht Meilen – nur deshalb, weil jene acht Meilen-Marktfahrt, vier Meilen hin und vier zurück, für den Bauern gerade das noch gemütlich zu machende Maß war. Aber sowie die Eisenbahnen ins Spiel kamen, und nach ihnen die leichten Trambahnen und all die schnellen Motorwagen, die Waggons und Pferde verdrängt hatten, und sobald die Chausseen aus Holz und dann aus Gummi und Eadhamit und allen möglichen elastischen, dauerhaften Substanzen gemacht zu werden begannen – da war die Notwendigkeit so häufiger Marktstädte verschwunden. Und die großen Städte wuchsen. Sie zogen den Arbeiter mit der Schwerkraft scheinbar endloser Arbeit, den Arbeitgeber mit ihrem Schein eines unendlichen Ozeans von Arbeitsangebot.
Und wie sich der Maßstab des Behagens hob, und wie sich die Kompliziertheit des Lebensmechanismus steigerte, so war das Leben auf dem Lande immer teurer geworden oder eng und unmöglich. Das Verschwinden des Vikars und Gutsbesitzers, die Vertilgung des Hausarztes durch den Stadtspezialisten hatte dem Dorf seinen letzten Anflug von Kultur genommen. Nachdem Telephon, Kinematograph und Phonograph die Zeitung, das Buch, den Schulmeister und den Brief verdrängt hatten, hieß, außerhalb des Bereiches der elektrischen Kabel leben, als isolierter Wilder leben. Auf dem Lande hatte man weder Mittel, um sich zu kleiden noch zu ernähren (nach den verfeinerten Begriffen der Zeit), hatte man keinen brauchbaren Arzt für den Notfall, keine Gesellschaft und keinen Sport.
Obendrein machten mechanische Erfindungen im Ackerbau einen Ingenieur zum Ersatz für dreißig Knechte. So drehten jetzt die Knechte die Lage des Stadtkommis aus den Tagen, da London wegen der kohligen Verderbtheit seiner Luft kaum bewohnbar war, um und kamen auf der Straße oder durch die Luft abends zur Stadt, zu ihrem Leben und ihren Freuden geeilt, um sie morgens wieder zu verlassen. Die Stadt hatte die Menschheit aufgeschluckt; der Mensch war in eine neue Phase seiner Entwicklung getreten. Erst war der Nomade gekommen, der Jäger, und dann war der Ackerbauer des Ackerbaustaats gefolgt, dessen Städte und Häfen nur die Hauptquartiere des Landes waren. Und jetzt, als logische Folge einer Epoche der Erfindung, stand diese riesige neue Menschenansammlung da. Außer London gab es in Britannien nur noch vier Städte – Edinburgh, Portsmouth, Manchester und Shrewsbury. Die Vorstellung solcher Dinge, die für den Zeitgenossen nichts als eine Aufzählung von Tatsachen waren, wurde Grahams Phantasie nicht leicht. Und als er »da hinüber«, blickte, auf die seltsamen Dinge, die auf dem Kontinent existierten, versagte sie ihm ganz.
Er hatte eine Vision von Stadt hinter Stadt, von Städten auf großen Ebenen, Städten an großen Flüssen, riesigen Städten am Meeresrand hin, Städten, die von Schneebergen umgürtet waren. Über einem großen Teil der Erdoberfläche wurde die englische Sprache gesprochen; zusammengenommen mit seinen Spanisch-amerikanischen, Hindu- und Neger- und »Pidgin«-Dialekten war es die Alltagssprache von zwei Dritteln der Völker der Erde. Auf dem Kontinent hatten sich, abgesehen von fernen und seltsamen Überresten, nur noch drei andere Sprachen gehalten – das Deutsche, das bis Antiochia und Genua reichte und in Cadiz mit dem Spanisch-Englischen rang, ein französiertes Russisch, das in Persien und Kurdistan ans Indisch-Englische und in Peking ans »Pidgin«-Englisch stieß, und das Französische, noch klar und glänzend, die Sprache der Helle, die sich mit dem Indisch-Englischen und Deutschen in das Mittelmeer teilte und durch einen Negerdialekt bis zum Kongo reichte.
Und überall herrschte jetzt über die städtebesetzte Erde hin die gleiche soziale Organisation, ausgenommen allein die verwalteten Gebiete des »Schwarzen Gürtels« in den Tropen, und überall dehnte sich vom Pol bis zum Äquator sein Besitz und seine Verantwortung aus. Die ganze Welt war zivilisiert, die ganze Welt wohnte in Städten; die ganze Welt war sein Eigentum. Im ganzen Britischen Reich und durch Amerika hin war seine Eigentümerschaft kaum verkleidet; Kongreß und Parlament wurden meist als veraltete, wunderliche Versammlungen angesehen. Und selbst in den zwei Kaiserreichen Rußland und Deutschland war der Einfluß seines Reichtums merklich von ungeheurem Gewicht. Dort kamen natürlich Probleme – Möglichkeiten, aber so hoch er auch stand, schienen doch selbst Rußland und Deutschland fern genug. Und an die Art der Verwaltung des Schwarzen Gürtels und daran, was sie für ihn vielleicht bedeuten konnte, dachte er nach der Art seiner früheren Tage überhaupt nicht. Daß sie wie eine Drohung über der weiten Vision vor ihm hängen könnte, der Gedanke kam ihm nicht in den Sinn aus dem neunzehnten Jahrhundert. Aber sein Geist wandte sich sofort von der Szenerie zu dem Gedanken an eine verschwundene Angst. »Und die Gelbe Gefahr?« fragte er und Asano bat ihn um eine Erklärung dieses Wortes. Das chinesische Gespenst war verschwunden. Chinese und Europäer lebten in Frieden. Das zwanzigste Jahrhundert hatte mit widerstrebender Gewißheit eingesehen, daß der Durchschnittschinese ebenso zivilisiert, moralischer und viel intelligenter war als der europäische Sklave, und es hatte die Verbrüderung von Schotten und Engländern, wie sie im siebzehnten Jahrhundert geschehen war, sich in gigantischen Maßstab wiederholt. Wie Asano sich ausdrückte: »Sie haben sich's überlegt. Sie fanden, wir sind schließlich weiße Menschen.« Graham wandte sich wieder der Aussicht zu, und seine Gedanken schlugen eine neue Richtung ein.
Aus dem dunklen Südwesten leuchteten glitzernd und seltsam, wollüstig und auf gewisse Art schrecklich, jene Freudenstädte hervor, von denen der Kinematograph-Phonograph und der Alte auf der Straße gesprochen hatten. Seltsame Orte, die an das sagenhafte Sybaris erinnerten, Städte der Kunst und Schönheit, käuflicher Kunst und käuflicher Schönheit, sterile, wunderbare Städte der Bewegung und Musik, wohin sich alle begaben, die aus dem wilden, unrühmlichen Wirtschaftskampf, der im glühenden Labyrinth da unten vor sich ging, Nutzen zogen.
Wild war er, daß wußte er. Wie wild, das konnte er nach der Tatsache beurteilen, daß diese modernen Menschen auf das England des neunzehnten Jahrhunderts als auf das Bild eines idyllischen, leichtfließenden Lebens zurückwiesen. Er wandte den Blick wieder auf die Szene unmittelbar vor ihm und versuchte, sich die großen Fabriken dieses komplizierten Labyrinthes vorzustellen.
Im Norden, das wußte er, waren die Töpfer, die nicht nur Irdenwaren und Porzellan machten, sondern auch die verwandten Pasten und Zusammensetzungen, die eine feinere, mineralogische Chemie erfunden hatte; dort wohnten die Verfertiger von Statuetten und Wandornamenten und vieler komplizierter Einrichtungen; dort standen auch die Fabriken, wo Autoren in fieberischem Wettkampf ihre phonographischen Reden und Reklamen verfaßten und die Gruppierungen und Entfaltungen für ihre beständig aufregenden und neuen kinematographisch-dramatischen Werke arrangierten. Von dort blitzten auch die weltenweiten Botschaften fort, die weltenweiten Lügen der Neuigkeitserzähler, die Berichte der telephonischen Maschinen, die die Zeitungen der Vergangenheit ersetzt hatten.
Nach Westen, hinter dem zerschmetterten Rathaus lagen die umfangreichen Ämter der Munizipalverwaltung und Regierung; und nach Osten, nach dem Hafen zu, die Handelsquartiere, die riesigen öffentlichen Märkte, die Theater, die Versammlungshäuser, die Weltpaläste, Meilen von Billard-Salons, Schlag- und Fußballzirkusse, Arenen für wilde Tiere, und die zahllosen Tempel der christlichen und halbchristlichen Sekten, der Mohammedaner, der Buddhisten, der Gnostiker, der Gespensteranbeter, der Incubusanbeter, der Möbelanbeter und so weiter; und nach Süden wieder eine riesige Industrie in Geweben, Pökelwaren, Weinen und Würzen. Und von Punkt zu Punkt schossen die zahllosen Massen auf den brüllenden mechanischen Straßen hin. Ein gigantischer Bienenkorb, dessen unermüdlicher Diener die Winde, und für den die unablässigen Windräder eine passende Krone, ein gutes Symbol waren.
Er dachte an die unerhörte Bevölkerung, die von diesem Schwamm von Hallen und Galerien aufgesogen war – an die dreiunddreißig Millionen Leben, die alle dort unter ihm ihr eigenes kurzes wirkungsloses Drama ausspielten, und das Vergnügen, das der helle Tag und die Geräumigkeit und die Pracht des Anblicks, und vor allem das Gefühl von seiner eigenen Bedeutung geschaffen hatte, schrumpfte und schwand. Als er von dieser Höhe über der Stadt niederblickte, wurde es ihm endlich möglich, sich diese überwältigende Menge von dreiunddreißig Millionen vorzustellen, die Wirklichkeit der Verantwortung, die er auf sich nehmen mußte, die ungeheure Größe des Maelstroms von Menschen, über dem sein gebrechliches Königtum hing.
Er versuchte, sich das individuelle Leben vorzustellen. Er machte sich mit Erstaunen klar, wie wenig der gewöhnliche Mann trotz der sichtbaren Veränderung in seinen Verhältnissen verändert war. Das Leben und das Eigentum freilich waren fast über die ganze Welt vor Gewalttat sicher, Infektionskrankheiten, Bakterienkrankheiten aller Art waren tatsächlich verschwunden, jedermann hatte ausreichende Nahrung und Kleidung, wurde auf den Stadtstraßen gewärmt und vor dem Wetter geborgen – so viel hatten der fast mechanische Fortschritt der Wissenschaft und die physikalische Organisation der Gesellschaft zustande gebracht. Aber die Masse, das begann er bereits zu entdecken, war immer noch eine Masse, hilflos in den Händen von Demagog und Organisator, individuell feig, individuell beherrscht von der Begierde, als Masse unberechenbar. Die Erinnerung an zahllose Gestalten in der blaßblauen Leinwand trat ihm vor den Geist. Millionen solcher Männer und Frauen unter ihm, das wußte er, waren nie außerhalb der Stadt gewesen, hatten nie über den kleinen Kreis unintelligenter mißgünstiger Teilnahme an den Geschäften der Welt und unintelligenten unbefriedigten Mitgenusses an ihren flitterbunten Freuden hinausgesehen. Er dachte an die Hoffnungen seiner verschwundenen Zeitgenossen, und einen Moment tauchte der Traum von London in Morris' feine alten » Nachrichten von Nirgendwo« und das vollkommene Land in Hudsons schöner » Kristallener Zeit« in einer Atmosphäre unendlichen Verlustes vor ihm auf. Er dachte an seine eigenen Hoffnungen.
Denn in den späteren Tagen jenes leidenschaftlichen Lebens, das jetzt so weit hinter ihm lag, war der Begriff einer freien und gleichen Mannheit für ihn etwas sehr Wirkliches geworden. Er hatte gehofft, wie überhaupt seine Zeit es gehofft hatte – indem er voreilig als bewiesen annahm, das Opfer der Vielen für die Wenigen werde eines Tages aufhören – ein Tag sei nahe, wo jedes von einer Frau geborene Kind seine gerechte und sichere Aussicht auf Glück haben werde. Und hier schrie nach zweihundert Jahren dieselbe Hoffnung, noch unerfüllt, leidenschaftlich durch die Stadt. Nach zweihundert Jahren, das wußte er jetzt, waren, größer als je, mit der Stadt zu gigantischen Proportionen gewachsen, Armut und hilflose Mühsal und alle Sorgen genau vorhanden wie in seiner Zeit.
Schon kannte er etwas von der Geschichte der Jahre dazwischen. Er hatte jetzt von dem moralischen Vorfall gehört, der im Geist des unedlen Menschen dem Zusammenbruch der übernatürlichen Religion gefolgt war, von dem Sinken der öffentlichen Ehre, der Herrschaft des Reichtums. Denn die Menschen, die ihren Glauben an Gott verloren hatten, hatten den Glauben an den Besitz bewahrt, und der Reichtum beherrschte eine käufliche Welt.
Sein japanischer Hausmeister, Asano, zog, als er die politische Geschichte der verflossenen zwei Jahrhunderte auseinandersetzte, einen passenden Vergleich mit einem Saatkorn, das von parasitischen Insekten verzehrt wird. Erst ist der ursprüngliche Same da und reift kräftig genug. Und dann kommt ein Insekt und legt ihm ein Ei unter die Haut, und siehe! in kurzer Zeit ist das Saatkorn eine hohle Form mit einer eifrigen Larve darin, die all seine Substanz aufgefressen hat. Und dann kommt ein sekundärer Parasit, eine Schlupfwespe, und legt ein Ei in diese Larve und siehe! auch sie wird zur hohlen Form, und das neue Lebewesen sitzt in der Haut seines Vorgängers, die selber warm im Saatkornmantel liegt. Und der Saatkornmantel bewahrt noch immer seine Gestalt, die meisten Leute halten ihn noch für ein Samenkorn, und soweit man weiß, kann es selber sich auch noch für ein Samenkorn, für kräftig und lebendig halten. »Ihr Viktorianisches Königtum«, sagte Asano, »war so – ein Königtum, dem das Herz aufgefressen war.« Die Landbesitzer – die Barone und die Gentry – begannen vor Jahrhunderten mit König Johann; sie enthaupteten König Karl und machten praktisch mit König Georg, der bloßen Hülse eines Königs, ein Ende... die wirkliche Macht in den Händen ihres Parlaments. Aber das Parlament – das Organ der landbesitzenden, bauernbeherrschenden Gentry – behielt seine Macht nicht lange. Die Wandlung war schon im neunzehnten Jahrhundert gekommen. Das Wahlrecht war erweitert, bis es die Massen unwissender Menschen einschloß, »Stadtmyriaden«, die in ihren physiognomielosen Tausenden zusammen wählen gingen. Und die natürliche Folge einer wimmelnden Wählerschaft ist die Herrschaft der Parteiorganisation. Die Macht ging schon in der Viktorianischen Zeit auf die Parteimaschinerie über, eine geheime, komplizierte und verdorbene Maschinerie. Sehr rasch kam die Macht in die Hände großer Geschäftsleute, die die Maschinen finanzierten. Es kam eine Zeit, in der die wirkliche Macht und das Interesse des Reiches sichtlich zwischen den beiden Parteiräten lag, die durch Zeitungen und Wahlorganisationen herrschten – zwei kleinen Gruppen reicher und fähiger Leute, die erst in Opposition und dann bald zusammen arbeiteten.
Es folgte eine Reaktion von feiner, kraftloser Art. Es gab zahllose Bücher, sagte Asano, um das zu beweisen – die Veröffentlichung von einigen unter ihnen fiel noch in die Zeit, als Graham einschlief – ja, eine ganze Literatur der Reaktion. Die Reaktionspartei scheint sich in ihr Studierzimmer eingeschlossen und mit furchtloser Entschlossenheit rebelliert zu haben – auf dem Papier. Die dringende Notwendigkeit, die Parteiräte entweder gefangen zu setzen oder der Macht zu berauben – das ist der gemeinsame Gedanke, der aller Denkbarkeit des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zugrunde liegt, in Amerika wie in England. In den meisten dieser Dinge kam Amerika etwas früher als England, obgleich beide Länder desselben Weges zogen.
Jene Gegenrevolution kam niemals. Sie konnte sich nie organisieren und rein erhalten. Es war nicht mehr genug von der alten Sentimentalität, dem alten Glauben von Rechtschaffenheit unter den Menschen übrig. Jede Organisation, die groß genug wurde, um die Wahlen beeinflussen zu können, wurde, kompliziert genug, um unterminiert zu werden, zerbrochen, oder einfach von geschickten, reichen Männern gekauft. Sozialistische und Volksparteien, Reaktionäre und Puritaner waren zuletzt nichts weiter als Börsen-Spielmarken, die ihre Prinzipien verkauften, um für ihre Wahlen zu zahlen. Und die große Sorge der Reichen war natürlich, den Besitz intakt zu bewahren, den Tisch klar für das Spiel des Handels. Genau wie es die Sorge der Feudalen gewesen war, den Tisch für Jagd und Krieg klar zu erhalten. Die ganze Welt wurde ausgebeutet, war ein Schlachtfeld von Geschäften; und finanzielle Umwälzungen, die Geißel der Kursmanipulation, Tarifkriege, das richtete während des zwanzigsten Jahrhunderts mehr menschliches Elend an – weil das Elend das finstere Leben war statt schnellen Todes – als es Krieg, Pest und Hungersnot in den dunkelsten Stunden der früheren Geschichte getan hatten.
Seine eigene Rolle in der Entwicklung dieser Zeit kannte er jetzt klar genug. Durch die einander folgenden Phasen in der Entwicklung dieser mechanischen Zivilisation war, ihre Entwicklung befördernd und bald leitend, eine neue Macht, der Rat, der Ausschuß seiner Verwalter emporgewachsen. Erst war es eine bloß zufällige Vereinigung der Millionen von Isbister und Warming gewesen, eine bloß besitzende Gesellschaft, die Schöpfung der Launen zweier kinderloser Testaten, aber das kollektive Talent ihrer ersten Konstitution hatte sie schnell zu einem ungeheuren Einfluß geführt, bis sie sich durch Besitztitel, Darlehn und Aktie unter hundert Verkleidungen und Pseudonymen durch den ganzen Bau der amerikanischen und englischen Staaten verzweigt hatte.
Da er ungeheure Macht und Einflußsphären beherrschte, hatte der Rat früh eine politische Physiognomie angenommen; und in seiner Entwicklung hatte er seinen Reichtum fortwährend benutzt, um die politischen Entscheidungen zu beeinflussen, und seine politischen Vorteile, um immer noch Reichtum an sich zu raffen. Schließlich lagen die Parteiorganisationen zweier Hemisphären in seinen Händen; er wurde ein innerer Rat der politischen Herrschaft. Sein letzter Kampf war gegen den stillschweigenden Bund der großen Judenfamilien gerichtet. Aber diese Familien waren nur durch eine schwache Empfindung verbunden; jederzeit konnte die Erbschaft einen riesigen Teil ihrer Mittel auf einen Unmündigen, eine Frau oder einen Narren werfen; Heiraten und Legate entzogen ihnen auf einen Schlag Hunderttausende. Der Rat kannte keinen solchen Bruch in seiner Kontinuität. Stetig, unverwandt wuchs er.
Der ursprüngliche Rat bestand nicht einfach aus zwölf Männern von ausnahmsweiser Fähigkeit; sie verschmolzen, es war ein Rat von Genie. Er strebte kühn nach Reichtum und nach politischem Einfluß, und die beiden dienten einander. Mit erstaunlicher Voraussicht verwandte er große Summen auf die Kunst des Fliegens und hielt diese Erfindung für eine vorausgesehene Stunde zurück. Er benutzte die Patentgesetze und tausend halblegale Mittel, um alle Forscher zu hindern, die sich weigerten, mit ihm zu arbeiten. In den alten Tagen entging ihm ein fähiger Mann nie. Er zahlte ihm seinen Preis. Seine Politik war in jenen Tagen kräftig – unfehlbar, und, wie er heimlich und unablässig wuchs, stand ihm nur die chaotisch-selbstsüchtige Herrschaft der zufällig Reichen gegenüber. In hundert Jahren war Graham fast ausschließlicher Besitzer Afrikas, Südamerikas, Frankreichs, Londons, Englands, und sein ganzer Einfluß – das heißt, in allen praktischen Dingen – eine Macht in Nordamerika geworden – dann die herrschende Macht in Amerika. Der Rat kaufte und organisierte China, drillte Asien, verkrüppelte die Kaiserreiche der alten Welt, untergrub sie finanziell, bekämpfte und schlug sie.
Und diese sich ausbreitende Usurpation der Welt wurde so geschickt vollzogen – ein Proteus – hunderte von Banken, Gesellschaften, Syndikaten maskierten die Operationen des Rats – daß sie schon weit vorgerückt war, ehe noch die gewöhnlichen Menschen etwas von der Tyrannei ahnten, die gekommen war. Der Rat zögerte nie, schwankte nie. Verkehrsmittel, Land, Gebäude, Regierungen, Gemeinden, die Gebietsgesellschaften der Tropen, jede menschliche Unternehmung nahm er gierig an sich. Und er drillte und bildete seine Leute aus, seine Eisenbahnpolizei, seine Straßenpolizei, seine Hauswachen, seine Kanal- und Kabelwachen, seine Scharen von Landarbeitern. Ihre Bünde bekämpfte er nicht, er untergrub, verriet und kaufte sie. Er kaufte schließlich die Welt. Und zuletzt – sein kulminierender Schlag war die Einführung des Fliegens.
Wenn der Rat im Kampf mit den Arbeitern an einem seiner riesigen Monopole etwas flagrant Ungesetzliches tat, und zwar ohne die gewöhnliche Höflichkeit der Bestechung, so blickte sich das alte Gesetz, um den Nutzen seiner Gefälligkeit besorgt, nach Waffen um. Aber es gab keine Heere mehr, keine Kampfflotten; die Zeit des Friedens war gekommen. Die einzigen möglichen Kriegsschiffe waren die großen Dampfboote des Schiffahrtstrusts des Rates. Die Polizeimacht hatte er in der Hand; die Eisenbahnpolizei, die Schiffspolizei, die Polizei ihrer Landgüter, ihre Zeitwächter und Schutzmannschaften übertrafen die vernachlässigten kleinen Kräfte des alten Landes und der Gemeindeorganisationen an Zahl im Verhältnis von zehn zu eins. Und sie führten die Flugmaschinen ein. Es lebten noch Leute, die sich der letzten großen Debatte im Unterhaus entsannen – die Gesetzespartei, die Partei gegen den Rat, war in der Minorität, aber sie kämpfte verzweifelt – und wie die Abgeordneten sich auf die Terrasse herausdrängten, um diese großen, ungewohnten, geflügelten Gestalten ruhig zu Häupten kreisen zu sehen. Der Rat hatte sich zu seiner Macht aufgeschwungen. Der letzte Schein einer Demokratie, die unbeschränkten, unverantwortlichen Besitz erlaubt hatte, war zu Ende.
Hundertundfünfzig Jahre nach Grahams Einschlafen hatte sein Rat seine Verkleidungen abgeworfen und herrschte offen, souverän in seinem Namen. Wahlen waren eine heitere Formalität geworden, eine siebenjährige Narrheit, eine alte, sinnlose Sitte; ein soziales Parlament, das so ohnmächtig war wie das Konzil der Staatskirche in Viktorianischen Zeiten, trat hin und wieder zusammen; und ein legitimer König von England spielte, enterbt, betrunken und blöde, als Narr in einem Variété zweiten Ranges. So hatte sich der großartige Raum des neunzehnten Jahrhunderts, der edle Plan einer allgemeinen, individuellen Freiheit und allgemeinen Glücks, von einer Ehrenkrankheit angehaucht, verkrüppelt durch einen Aberglauben absoluten Besitzes, verkrüppelt durch die religiösen Fehden, die den gewöhnlichen Bürger der Bildung, Männer des Maßstabs der Lebensführung beraubt hatten, im Angesicht der Erfindung und des unedlen Unternehmungsgeistes ausgearbeitet, erst zu einer kämpfenden Plutokratie und schließlich zur Herrschaft eines höchsten Plutokraten. Sein Rat hatte sich schließlich auch nicht einmal mehr die Mühe gemacht, seine Dekrete von den konstitutionellen Autoritäten bestätigen zu lassen, und er hatte, eine reglose, eingefallene, gelbhäutige Gestalt, weder tot noch lebendig, dagelegen – nachweislich und unmittelbar Herr der Erde. Und er erwachte schließlich, um sich als – Herrn dieses Erbes wiederzufinden! Erwachte, um unter dem wolkenlosen, leeren Himmel zu stehen und auf die Größe seiner Herrschaft hinabzublicken.
Zu welchem Ziel war er erwacht? War diese Stadt, dieser Bienenkorb hoffnungsloser Arbeiter die endgültige Widerlegung seiner alten Hoffnungen? Oder glimmte dort unten das Feuer der Freiheit, das Feuer, das in den Jahren seines vergangenen Lebens geglüht hatte und gesunken war, immer noch? Er dachte an die Erregung und den Impuls des Revolutionsliedes. War dieses Lied nur die List eines Demagogen, etwas, was man vergaß, nachdem es seinem Zweck gedient hatte? War die Hoffnung, die sich noch in ihm rührte, nur das Gedächtnis aufgegebener Dinge, die Spur eines abgebrauchten Credo? Oder hatte sie einen weiteren Sinn, einen mit den Geschicken des Menschen verwobenen Inhalt? Zu welchem Zweck war er erwacht, was gab es für ihn zu tun? Die Menschheit lag wie eine Landkarte vor ihm ausgebreitet. Er dachte an die Millionen von Millionen von Menschen, die einander unablässig aus dem Dunkel des Nichtdaseins in das Dunkel des Todes folgen. Zu welchem Zweck? Ein Ziel mußte es geben, aber es überstieg seine Denkkraft. Er sah zum erstenmal klar seine eigene unendliche Kleinheit, sah nackt und furchtbar den tragischen Gegensatz der menschlichen Kraft und der Sehnsucht des Menschenherzens. In dem kurzen Moment kannte er sich als den kleinen Zufall, der er war, und daran erkannte er die Größe seines Wunsches. Und plötzlich war seine Kleinheit unerträglich, sein Streben war unerträglich, und ihn überkam ein unwiderstehlicher Drang zu beten. Und er betete. Er betete vage, unzusammenhängende, widerspruchsvolle Dinge, seine Seele strebte empor durch Raum und Zeit und all die flüchtige, vielfache Wirrnis des Seins zu etwas – er wußte kaum, was – zu etwas, was sein Streben verstehen konnte und dulden.
Weit unten auf einem Dachraum nach Süden hin standen ein Mann und eine Frau und genossen die Frische der Morgenluft. Der Mann hatte ein Fernglas mitgebracht, um nach dem Rathaus zu spähen, und er zeigte ihr seinen Gebrauch. Bald war ihre Neugier befriedigt, sie konnten von ihrer Stellung aus keine Spuren des Blutvergießens sehen, und nach einem Rundblick über den leeren Himmel kam sie auf das Krähennest. Und dort sah sie zwei kleine Gestalten, so klein, daß es kaum zu glauben war, daß es Menschen waren; eine, die beobachtete, und eine, die mit ausgestreckten Händen über die schweigende Leere des Himmels gestikulierte.
Sie reichte das Glas dem Mann. Er blickte durch und rief:
»Ich glaube, es ist der Herr. Ja. Sicher. Es ist der Herr.«
Er senkte das Glas und blickte sie an. »Schwenkt die Hände beinah, als ob er betete. Möchte wissen, was er will. Betet die Sonne an? Zu seiner Zeit gab's doch noch keine Parsen in diesem Land, wie?«
Er blickte wieder durch. »Jetzt hat er aufgehört. Es war vermutlich Zufall in der Stellung.« Er senkte das Glas und wurde nachdenklich. »Er wird nichts zu tun haben als sich zu amüsieren – sich eben zu amüsieren. Ostrog wird natürlich das Schauspiel treiben. Ostrog wird's müssen, um all diese Arbeiternarren in Zucht zu halten. Sie und ihr Lied! Und haben's natürlich alles im Schlaf gekriegt, die guten Augen – im Schlaf. Es ist eine wundervolle Welt.«