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4.
Der Lärm eines Aufruhr

Grahams letzter Eindruck, ehe er ohnmächtig wurde, war der eines lärmenden Glockenläutens. Er erfuhr später, daß er den größeren Teil einer Stunde besinnungslos zwischen Tod und Leben hing. Als er zu Sinnen kam, lag er wieder auf seinem durchscheinenden Lager, und er fühlte in Herz und Kehle eine belebende Wärme. Der dunkle Apparat an seinem Arm war, wie er sah, abgenommen und durch einen Verband ersetzt. Das weiße Rahmenwerk umgab ihn noch, aber die grünliche, durchsichtige Substanz, die es gefüllt hatte, war fort. Ein Mann in einem tief violetten Gewand, einer von denen, die auf dem Balkon gestanden hatten, blickte ihm scharf ins Gesicht.

Fern aber beharrlich hörte er ein Glockenläuten und wirre Töne, die in seinem Geist das Bild einer großen Anzahl durcheinanderschreiender Leute weckten. Irgend etwas schien sich über diesen Aufruhr zu senken, eine Tür schloß sich plötzlich.

Graham bewegte den Kopf. »Was bedeutet dies alles?« sagte er langsam. »Wo bin ich?«

Er sah den rothaarigen Menschen, der ihn zuerst entdeckt hatte. Es schien, als fragte eine Stimme, was er gesagt habe, und dann wurde sie plötzlich zum Schweigen gebracht.

Der Mann in Violett antwortete, indem er das Englische mit einem leichten ausländischen Akzent sprach – oder wenigstens schien es den Ohren des Schläfers so –: »Sie sind ganz sicher. Sie sind von da aus, wo Sie einschliefen, hierhergebracht. Sie sind ganz sicher. Sie haben einige Zeit hier gelegen – geschlafen. In einem Starrkrampf.«

Er sagte noch etwas, was Graham nicht hören konnte, und ihm wurde eine kleine Phiole gereicht. Graham fühlte kühlende Tropfen, ein duftiger Nebel spielte ihm einen Moment über die Stirn, und das Gefühl der Erfrischung wuchs. Er schloß befriedigt die Augen.

Besser?« fragte der Mann in Violett, als Graham die Augen wieder aufschlug. Es war ein Mann von dreißig Jahren, mit heiterem Gesicht, spitzem Flachsbart und einer goldenen Schnalle am Hals seines violetten Gewandes.

»Ja,« sagte Graham.

»Sie haben einige Zeit geschlafen. In einem kataleptischen Starrkrampf. Sie haben davon gehört? Katalepsis? Es mag Ihnen zuerst seltsam erscheinen, aber ich kann Sie versichern, daß alles gut ist.«

Graham antwortete nicht, aber diese Worte erfüllten ihren beruhigenden Zweck. Seine Augen schweiften von Gesicht zu Gesicht über die drei Männer, die ihn umgaben. Sie sahen ihn sonderbar an. Er wußte, er sollte irgendwo in Cornwall sein, aber er konnte all dies nicht damit in Einklang bringen.

Etwas, was ihm während seiner letzten wachen Momente in Boscastle im Sinn gelegen hatte, fiel ihm wieder ein, etwas, was er beschlossen aber irgendwie vernachlässigt hatte. Er räusperte sich.

»Haben Sie meinem Vetter gedrahtet?« fragte er. »E. Warming, 27, Chancery Lane.«

Sie mühten sich alle, ihn zu verstehen. Aber er mußte es wiederholen. »Was für ein komisches Ziehen in seinem Akzent!« flüsterte der Rothaarige. »Gedrahtet, Herr?« fragte der junge Mann mit dem Flachsbart in offenbarer Verlegenheit.

»Er meint, ein elektrisches Telegramm geschickt,« erklärte der dritte, ein angenehmer Jüngling von neunzehn oder zwanzig. Der Flachsbärtige stieß einen Ruf des Verstehens aus. »Wie stupid von mir! Sie können sicher sein, daß alles geschehen soll, Sir,« sagte er zu Graham. »Ich fürchte, es wäre schwierig, Ihrem Vetter zu – drahten. Er ist nicht mehr in London. Aber machen Sie sich noch keinerlei Sorge um irgendwelche Arrangements; Sie haben sehr lange geschlafen, und die Hauptsache ist, darüber fortzukommen, Sir.« (Graham sagte sich, er müsse »Sir« gesagt haben, aber dieser Mann sprach das Wort wie »Sire« aus.)

»O!« sagte Graham und verstummte.

Es war alles sehr rätselhaft, aber offenbar wußten diese Leute in der ungewohnten Kleidung, woran sie waren. Aber sehr sonderbar waren sie, und auch der Raum war sonderbar. Es schien, er war in einem neu errichteten Gebäude. Ihm blitzte ein plötzlicher Argwohn auf. Dies war doch nicht etwa eine öffentliche Ausstellungshalle? Wenn ja, wollte er Warming einmal seine Meinung sagen. Aber danach sah sie kaum aus. Und an einem öffentlichen Ausstellungsort hätte er nicht nackt gelegen.

Dann plötzlich, ganz unvermittelt, wurde ihm klar, was geschehen war. Er machte keinen merklichen Übergang des Argwohns durch, keine Dämmerung bis zu diesem Wissen. Plötzlich wußte er, daß dieser Starrkrampf eine ungeheure Zeit gedauert hatte; als hätte er durch geheime Prozesse des Gedankenlesens die Ehrfurcht in den Gesichtern gedeutet, die ihm in seines blickten. Er blickte sie seltsam, voll intensiver Erregung an. Es schien, sie lasen in seinen Augen. Er bewegte die Lippen zum Sprechen und konnte nicht. Ein wunderlicher Impuls, sein Wissen zu verbergen, trat fast im Moment seiner Entdeckung in seinen Geist. Er blickte auf seine nackten Füße und sah sie schweigend an. Sein Verlangen zu reden ging vorüber. Er zitterte stark.

Sie gaben ihm eine rosige Flüssigkeit mit grünlicher Fluoreszenz und von Fleischgeschmack, und die Gewißheit zurückkehrender Kraft wuchs.

»Das – das macht mir besser,« sagte er heiser, und er hörte Gemurmel respektvollen Beifalls. Jetzt wußte er es ganz klar. Er mühte sich noch einmal, zu sprechen, und wieder konnte er nicht.

Er drückte sich die Kehle und versuchte ein drittes Mal. »Wie lange?« fragte er mit ruhiger Stimme. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Eine beträchtliche Zeit,« sagte der Flachsbärtige und warf einen raschen Blick auf die anderen.

»Wie lange?«

»Eine sehr lange Zeit.«

»Ja – ja,« sagte Graham plötzlich eigensinnig. »Aber ich will – sind es – sind es – ein paar Jahre? Viele Jahre? Da war etwas – ich weiß nicht mehr. Ich fühle mich – wirr. Aber Sie –+« Er schluchzte. »Sie brauchen nicht mit mir fechten. Wie lange –?«

Er hielt unregelmäßig atmend inne. Er preßte die Augen mit den Fingern und saß und wartete auf eine Antwort.

Sie sprachen im Flüsterton.

»Fünf oder sechs?« fragte er schwach. »Mehr?«

»Sehr viel mehr als das.«

»Mehr?«

»Mehr.«

Er sah sie an, und es war, als zuckten Fäden in seinen Gesichtsmuskeln. Er blickte seine Frage.

»Viele Jahre,« sagte der Mann mit dem roten Bart.

Graham arbeitete sich in sitzende Stellung empor. Er wischte sich mit einer hageren Hand eine nasse Träne aus dem Gesicht. »Viele Jahre!« wiederholte er. Er schloß die Augen fest, öffnete sie wieder und saß da und blickte von einem ungewohnten Ding aufs andere.

»Wie viele Jahre?«

»Sie müssen auf eine Überraschung gefaßt sein.«

»Ja?«

»Mehr als ein Gros Jahre.«

Ihn reizte das fremde Wort. »Mehr als ein was

Zwei von ihnen sprachen miteinander. Einige schnelle Bemerkungen, die über das »Dezimalsystem« gemacht wurden, verstand er nicht.

»Wie lange, sagten Sie?« fragte Graham. »Wie lange? Blicken Sie nicht so. Sagen Sie es mir!«

Unter den Bemerkungen im Flüsterton fing sein Ohr fünf Worte auf: »Mehr als ein Paar Jahrhunderte.«

» Was?« rief er und wandte sich dem Jüngling zu, der, wie er meinte, gesprochen hatte. »Wer sagt –? Was war das? Ein Paar Jahrhunderte?«

»Ja,« sagte der Rotbärtige. »Zweihundert Jahre.«

Graham wiederholte die Worte. Er war darauf gefaßt gewesen, von einer sehr langen Ruhe zu hören, und doch entnervten ihn diese konkreten Jahrhunderte.

»Zweihundert Jahre,« sagte er noch einmal, und in seinem Geist öffnete sich sehr langsam das Bild eines großen Abgrunds; und dann: »O, aber –!«

Sie sagten nichts.

»Sie – sagten Sie –?«

»Zweihundert Jahre. Zwei Jahrhunderte,« sagte der Mann mit dem roten Bart.

Es folgte eine Pause. Graham blickte auf ihre Gesichter und sah, daß das, was er gehört hatte, wirklich wahr sei.

»Aber es ist unmöglich,« sagte er klagend. »Ich träume. Starrkrämpfe. Starrkrämpfe dauern nicht. Das ist nicht recht – dies ist ein Scherz, den Sie mit mir treiben! Sagen Sie mir – – noch vor vielleicht ein paar Tagen ging ich an der Küste von Cornwall entlang –«

Ihm versagte die Stimme.

Der Mann mit dem Flachsbart zögerte. »Die Geschichte ist nicht meine starke Seite,« sagte er leise und blickte auf die anderen.

»Ganz richtig, Sir,« sagte der Jüngling. »Boscastle im alten Herzogtum Cornwall – es liegt im Südwesten, hinter den Milchweiden. Es steht noch heute ein Haus. Ich bin dagewesen.«

»Boscastle!« Graham wandte seine Augen auf den jungen Mann. »So hieß es – Boscastle. Das kleine Boscastle. Irgendwo da herum – bin ich eingeschlafen. Ich weiß nicht mehr genau.«

Er drückte sich die Stirn und flüsterte: »Mehr als zweihundert Jahre!«

Er begann rasch und mit zuckendem Gesicht zu sprechen, aber das Herz in ihm war kalt. »Aber wenn es zweihundert Jahre her ist, so muß jede Seele, die ich kenne, jedes menschliche Wesen, das ich je gesehen oder gesprochen habe, ehe ich einschlief, tot sein.«

Sie antworteten ihm nicht.

»Die Königin und die königliche Familie, ihre Minister, die Kirche und der Staat. Hoch und niedrig, reich und arm, einer wie der andere –«

»Existiert England noch?«

»Das ist ein Trost! Und London?«

»Dies ist London, eh? Und Sie sind mein Kustodenassistent; Kustodenassistent. Und diese –? Eh? Auch Kustodenassistenten?«

Er saß mit entsetztem Starren da. »Aber warum bin ich hier? Nein! Reden Sie nicht. Sein Sie still. Lassen Sie mich –«

Er verstummte, rieb sich die Augen und fand, als er sie wieder aufschlug, daß man ihm wieder ein kleines Glas voll rosiger Flüssigkeit hinhielt. Er nahm die Dosis. Sie stärkte fast unmittelbar. Sowie er sie genommen hatte, begann er natürlich und erfrischend zu weinen.

Dann blickte er ihnen ins Gesicht und lachte plötzlich durch seine Tränen, ein wenig töricht. »Aber zwei – hun – dert Jahre!« sagte er. Er schnitt hysterische Grimassen und verbarg das Gesicht von neuem.

Nach einiger Zeit wurde er ruhig. Er setzte sich auf, und seine Hände hingen ihm fast genau in derselben Haltung über die Knie, in der Isbister ihn auf der Klippe von Pentargen gefunden hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer schweren, gebietenden Stimme und den Schritten einer sich nähernden Person gefesselt. »Was tun Sie? Warum bin ich nicht benachrichtigt worden? Sicher haben Sie es voraus gewußt? Dafür wird jemand zu büßen haben. Der Mann muß ruhig gehalten werden. Sind die Türen geschlossen? Alle Türen? Er muß völlig ruhig gehalten werden. Er darf nichts erfahren. Hat man ihm schon etwas gesagt?«

Der Mann mit dem blonden Bart machte eine unhörbare Bemerkung, und Graham sah, als er über die Schulter blickte, einen sehr kurzen, dicken, untersetzten und bartlosen Mann mit Adlernase und schwerem Hals und Kinn herbeikommen. Sehr dichte, schwarze und leicht abfallende Augenbrauen, die über der Nase fast zusammentrafen und tiefe, graue Augen überhingen, gaben seinem Gesicht einen wunderlich furchtbaren Ausdruck. Er warf einen kurzen, finsteren Blick auf Graham und wandte sich dann wieder dem Mann mit dem Flachsbart zu. »Diese anderen –« sagte er mit einer Stimme äußerster Gereiztheit. »Sie gingen besser.«

»Gingen?« sagte der Rotbärtige.

»Gewiß – gehn Sie jetzt. Aber achten Sie darauf, daß die Türen geschlossen werden, wenn Sie gehen.«

Die beiden Angeredeten machten nach einem widerstrebenden Blick auf Graham gehorsam kehrt, und statt durch den Bogen zu gehen, wie er erwartete, schritten sie geradewegs auf die feste Wand des Raumes, dem Bogen gegenüber, zu. Und dann kam etwas Seltsames. Ein langer Streif dieser scheinbar festen Mauer rollte schnappend auf, hing über den zwei schwindenden Männern und fiel wieder nieder; Graham war mit dem neu angekommenen und dem purpurgewandeten Mann mit dem Flachsbart allein.

Eine Zeitlang nahm der Untersetzte von Graham nicht die geringste Notiz, sondern fragte den andern – offenbar seinen Untergebenen – weiter über die Behandlung ihres Schutzbefohlenen aus. Er sprach deutlich, aber in Phrasen, die Graham nur teilweise verständlich waren. Das Erwachen schien ihn nicht nur zu überraschen, sondern auch bestürzt zu machen und zu ärgern. Er war offenbar sehr aufgeregt.

»Sie müssen ihm nicht den Geist verwirren, indem Sie ihm alles mögliche erzählen,« wiederholte er immer von neuem. »Sie müssen ihm nicht den Geist verwirren.«

Als seine Fragen beantwortet waren, drehte er sich rasch um und sah den Erwachten mit zweifelhaftem Ausdruck an.

»Fühlen sich wunderlich?« fragte er.

»Sehr.«

»Die Welt, was Sie von ihr sehen, erscheint Ihnen seltsam?«

»Ich vermute, ich werde in ihr leben müssen, so seltsam sie auch scheint.«

»Ich vermute, jetzt.«

»Zunächst, könnte ich nicht Kleider bekommen?«

»Sie –« sagte der Untersetzte und unterbrach sich, und der Flachsbärtige begegnete seinem Blick und ging weg. »Sie werden sehr bald Kleider haben,« sagte der Untersetzte.

»Ist es wirklich wahr, daß ich zweihundert Jahre geschlafen habe –?« fragte Graham.

»Das haben sie Ihnen gesagt, wie? Zweihundert und drei, genau.«

Graham nahm das Unbestreitbare jetzt mit hochgezogenen Augenbrauen und herabgekniffenem Mund hin. Er saß einen Moment schweigend da und fragte dann: »Ist eine Mühle oder eine Dynamomaschine hier in der Nähe?« Eine Antwort wartete er nicht ab. »Die Dinge haben sich wohl furchtbar verändert?« sagte er.

»Was ist das für ein Rufen?« fragte er unvermittelt.

»Nichts,« sagte der Untersetzte ungeduldig. »Das sind Leute. Sie werden das später besser verstehen – vielleicht. Wie Sie sagen, die Dinge haben sich verändert.« Er sprach kurz, seine Stirn war gerunzelt, und er blickte sich wie ein Mann um, der sich in einer Lage zu entscheiden versucht. »Wir müssen auf jeden Fall Kleider schaffen, und so weiter. Besser, hier warten, bis welche kommen können. Hier wird Ihnen niemand nahe kommen. Sie haben das Rasieren nötig.«

Graham rieb sich das Kinn.

Der Mann mit dem Flachsbart kam zu ihnen zurück, drehte sich plötzlich um, lauschte einen Moment, hob die Augenbrauen gegen den älteren Mann hin und eilte durch den Bogen auf den Balkon zu davon. Der Lärm der Rufe wurde lauter, und der Untersetzte drehte sich gleichfalls um und lauschte. Er fluchte plötzlich leise vor sich hin und wandte die Augen mit unfreundlichem Blick auf Graham. Es war eine Brandung von vielen Stimmen, die stiegen und sanken, riefen und kreischten, und einmal klang ein Ton wie Schläge und scharfes Schreien hinein, und dann ein Schnappen wie das Brechen trockener Zweige. Graham strengte die Ohren an, um einen einzigen Klangfaden aus dem verwebten Aufruhr zu ziehen.

Dann unterschied er, wieder und wieder wiederholt, eine bestimmte Formel. Eine Zeitlang traute er seinen Ohren nicht. Aber sicherlich waren dies die Worte: »Zeigt uns den Schläfer! Zeigt uns den Schläfer!«

Der Untersetzte stürzte plötzlich zum Bogentor.

»Wild!« rief er. »Woher wissen sie –? Wissen sie? Oder vermuten sie nur?«

Vielleicht kam eine Antwort.

»Ich kann nicht kommen,« sagte der Untersetzte; »ich habe für ihn zu sorgen. Aber rufen Sie vom Balkon hinunter.«

Es kam eine unhörbare Antwort.

»Sagen Sie, er ist nicht wach. Irgend etwas! Ich überlasse es Ihnen.«

Er kam zu Graham zurückgeeilt. »Sie müssen sofort Kleider bekommen,« sagte er. »Sie können nicht hier bleiben – und es wird unmöglich sein –«

Er stürzte weg, während Graham ihm unbeantwortete Fragen nachrief. In einem Moment war er zurück:

»Ich kann Ihnen nicht erzählen, was vorgeht. Es ist zu kompliziert, um es zu erklären. In einem Moment sollen Sie Ihre Kleider gemacht haben. Ja – in einem Moment. Und dann kann ich Sie von hier fortnehmen. Sie werden unsere Unruhen bald genug begreifen.«

»Aber diese Stimmen! Sie riefen –?«

»Etwas von dem Schläfer – das sind Sie. Sie haben eine verschrobene Idee. Ich weiß nicht, welche. Ich weiß von nichts.«

Eine schrille Glocke durchschnitt dies undeutliche Gemisch ferner Geräusche, und dieser brüske Mensch sprang zu einer kleinen Gruppe von Vorrichtungen in der Ecke des Zimmers. Er lauschte einen Moment, indem er eine Kristallkugel ansah, nickte und sagte ein paar undeutliche Worte; dann ging er zu der Wand, durch die die beiden Männer verschwunden waren. Sie rollte wieder wie ein Vorhang auf, und er blieb stehen und wartete.

Graham hob den Arm und merkte mit Staunen, welche Kraft ihm die Stärkungsmittel gegeben hatten. Er warf erst ein Bein über den Rand des Lagers, und dann das andere. Der Kopf schwamm ihm nicht mehr. Er konnte kaum an seine rasche Wiederherstellung glauben. Er blieb sitzen und befühlte sich die Glieder.

Der Mann mit dem Flachsbart trat vom Bogen her wieder ein, und als er das tat, kam vor dem Untersetzten ein Liftkasten herabgeglitten, und ein hagerer, graubärtiger Mann, der eine Rolle trug und ein eng anschließendes, dunkelgrünes Kostüm anhatte, erschien darin.

»Das ist der Schneider,« sagte der Untersetzte mit einer vorstellenden Bewegung. »Es geht nicht, daß Sie das Schwarz da tragen. Ich begreife nicht, wie es hierher gekommen ist. Aber ich werde. Ich werde. Sie werden sich nach Kräften beeilen?« fragte er den Schneider.

Der Mann in Grün verneigte sich, trat vor und setzte sich neben Graham aufs Bett. Sein Wesen war ruhig, aber seine Augen waren voll Neugier. »Sie werden die Moden verändert finden, Sire,« sagte er. Er blickte unter den Brauen her auf den Untersetzten.

Mit einer raschen Bewegung öffnete er die Rolle, und ein Wirrwarr glänzender Gewebe floß über seine Knie herab. »Sie, Sire, lebten in einer wesentlich zylindrischen Periode – der Viktorianischen. Mit einer Neigung zur Halbkugel in den Hüten. Stets runde Kurven. Jetzt –« Er zog einen kleinen Apparat von der Größe und dem Aussehen einer schlüssellosen Uhr heraus, wirbelte den Knopf herum, und siehe – auf dem Zifferblatt erschien nach Art eines Kinetoskops eine kleine Gestalt in Weiß, die umherging und sich drehte. Der Schneider hob eine Probe von bläulich weißem Satin auf. »So etwa denke ich mir Ihre vorläufige Ausstattung,« sagte er.

Der Untersetzte kam herbei und trat an Grahams Schulter.

»Wir haben sehr wenig Zeit,« sagte er.

»Verlassen Sie sich auf mich,« sagte der Schneider. »Meine Maschine folgt mir. Was sagen Sie hierzu?«

»Was ist das?« fragte der Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert.

»In Ihren Tagen zeigte man Ihnen ein Modeblatt,« sagte der Schneider, »aber dies ist unsere moderne Erfindung. Sehen Sie!« Die kleine Gestalt wiederholte ihre Bewegungen, aber in anderem Kostüm. »Oder dies,« und mit einem Klinken erschien eine andere kleine Gestalt in einem umfangreicheren Kleidertypus auf dem Zifferblatt. Der Schneider war in seinen Bewegungen sehr rasch, und er blickte zweimal zum Lift, während er diese Dinge tat.

Es rollte wieder und ein kurzhaariger, anämischer Bursche mit Zügen vom chinesischen Typus, gekleidet in grobe, blaßblaue Leinwand, erschien mit einer komplizierten Maschine, die er auf kleinen Rollen geräuschlos ins Zimmer schob. Sofort fiel das kleine Kinetoskop, Graham wurde ersucht, vor die Maschine zu treten, und der Schneider murmelte dem kurzhaarigen Burschen einige Instruktionen zu, die er in Gutturaltönen und mit Worten beantwortete, die Graham nicht verstand. Der Junge ging dann in den Winkel, um einen unverständlichen Monolog zu halten, und der Schneider zog eine Anzahl von mit Kerben versehenen Armen heraus, die in kleinen Scheiben endigten; er zog sie aus, bis die Scheiben flach gegen Grahams Körper lagen, eine an jedem Schulterblatt, eine an den Ellbogen, eine am Hals und so weiter, bis er deren zuletzt vielleicht vierzig auf Körper und Gliedern liegen hatte. Zugleich betrat hinter Graham eine weitere Person das Zimmer durch den Lift. Der Schneider setzte einen Mechanismus in Bewegung, der eine leicht klingende, rhythmische Bewegung von Teilen in der Maschine einleitete, und einen Moment darauf schlug er die Hebel zurück, und Graham war befreit. Der Schneider legte ihm den schwarzen Mantel wieder um, und der Flachsbärtige hielt ihm ein kleines Glas mit einer erfrischenden Flüssigkeit hin. Graham sah über dem Gewand einen blassen jungen Mann, der ihn mit sonderbarer Starrheit ansah.

Der Untersetzte war ungeduldig durchs Zimmer gegangen und drehte sich jetzt um und ging durch den Bogen auf den Balkon zu, von dem aus noch immer der Lärm einer Volksmenge in Stößen und Kadenzen heraufklang. Der kurzhaarige Bursche reichte dem Schneider eine Rolle von dem bläulichen Satin, und die beiden begannen, sie auf eine Art in dem Mechanismus zu befestigen, die an eine Papierrolle in der Druckmaschine des neunzehnten Jahrhunderts erinnerte. Dann rollten sie das Ganze auf seinen leichten, geräuschlosen Rollen quer durchs Zimmer in einen fernen Winkel, wo ein gewundenes Kabel ziemlich anmutig aus der Mauer herabhing. Sie stellten eine Verbindung her, und die Maschine ging kräftig und rasch.

»Was bedeutet das da?« fragte Graham, indem er mit dem leeren Glas auf die geschäftigen Gestalten zeigte und versuchte, die forschenden Blicke des Neugekommenen zu ignorieren. »Ist das – eine Art aufgespeicherte Kraft?«

»Ja,« sagte der Mann mit dem Flachsbart.

»Wer ist das?« Er deutete auf den Bogen hinter sich.

Der Mann in Purpur strich sich den kleinen Bart, zögerte und antwortete flüsternd: »Das ist Howard, Ihr Hauptkurator. Sie sehen, Sire – es ist etwas schwierig zu erklären. Der Rat ernennt einen Kuratoren und seine Assistenten. Diese Halle ist unter gewissen Einschränkungen öffentlich gewesen. Damit das Volk sich genugtun konnte. Wir haben die Türen zum erstenmal gesperrt. Aber ich denke – wenn Sie nichts dagegen haben, ich überlasse es ihm, zu erklären.«

»Sonderbar,« sagte Graham. »Kurator? Rat?« Dann wandte er dem Neugekommenen den Rücken zu und fragte flüsternd: »Warum starrt dieser Mensch mich an? Ist er ein Mesmerist?«

»Mesmerist? Er ist Kapillotom.«

»Kapillotom?«

»Ja – einer der ersten. Sein Jahresgehalt beträgt sechsdut Löwen.«

Es klang wie der reine Unsinn. Graham griff mit unsicherem Geist nach den letzten Worten. »Sechsdut Löwen?« sagte er.

»Hatten Sie noch keine Löwen? Vermutlich nicht. Sie hatten die alten Pfunde? Es sind unsere Münzeinheiten.«

»Aber was sagten Sie – sechsdut?«

»Ja. Sechs Dutzend, Sire. Natürlich haben sich die Dinge, selbst diese kleinen Dinge, verändert. Sie lebten zur Zeit des Dezimalsystems, des arabischen Systems – der Zehner, der kleinen Hunderter und der Tausender. Wir haben jetzt elf Ziffern. Wir haben sowohl für zehn wie für elf einzelne Ziffern, zwei Ziffern für zwölf, und ein dutzend Dutzend geben ein Gros, ein großes Hundert, wissen Sie, ein Dutzend Gros ein Dutzand, und ein dutzand Dutzand eine Myriade. Sehr einfach?«

Der Mann mit dem Flachsbart blickte über die Schulter. »Hier sind ihre Kleider!« sagte er. Graham drehte sich scharf um und sah den Schneider lächelnd hinter sich stehen und ihm ein Paar greifbar neue Gewänder über dem Arm hinhalten. Der kurzhaarige Bursche schob die komplizierte Maschine mittelst eines Fingers auf den Lift zu, mit dem er gekommen war. Graham starrte den fertigen Anzug an. »Sie wollen doch nicht sagen –!«

»Eben gemacht,« sagte der Schneider. Er ließ Graham die Kleider zu Füßen fallen, trat zu dem Bett, auf dem Graham vorher gelegen hatte, warf die durchscheinende Matratze hinaus und richtete den Spiegel auf. Während er das tat, rief eine wütende Glocke den Untersetzten in den Winkel. Der Mann mit dem Flachsbart stürzte zu ihm hinüber und eilte dann durch den Bogen hinaus.

Der Schneider half Graham gerade in ein dunkelpurpurnes Unterkleid – Strümpfe, Jacke und Hosen aus einem Stück – als der Untersetzte aus der Ecke zurückkam und dem Flachsbärtigen entgegenging, der vom Balkon herbeigeeilt kam. Sie begannen rasch miteinander zu flüstern, ihr Gebaren zeigte unverkennbare Zeichen der Besorgnis. Über das purpurne Unterkleid kam ein kompliziertes aber anmutiges Gewand aus bläulichem Weiß, und Graham war noch einmal wieder nach der Mode gekleidet und sah sich noch bleich, unrasiert und langhaarig, aber wenigstens nicht mehr nackt, und auf eine undefinierbare, unerhörte Art anmutig im Spiegel vor sich.

»Ich muß mich rasieren,« sagte er, indem er sich im Glas ansah.

»Einen Moment,« sagte Howard.

Das beharrliche Starren hörte auf. Der junge Mann schloß die Augen und ging auf Graham zu, indem er eine hagere Hand ausstreckte. Dann blieb er stehen, seine Hand gestikulierte langsam, und er blickte sich um.

»Einen Stuhl,« sagte Howard ungeduldig, und im Moment hatte der Flachsbärtige einen Stuhl hinter Graham gestellt. »Setzen Sie sich, bitte,« sagte Howard.

Graham zögerte, und in der anderen Hand des wildäugigen Menschen sah er das Glitzern des Stahls.

»Verstehen Sie nicht, Sire?« rief der Flachsbärtige mit eiliger Höflichkeit. »Er will Ihnen das Haar schneiden.«

»O!« rief Graham aufgeklärt. »Aber Sie nannten ihn –«

»Einen Kapillotomen – ganz recht! Er ist einer der ersten Künstler der Welt.«

Graham setzte sich plötzlich nieder. Der Flachsbärtige verschwand. Der Kapillotom kam mit anmutigen Gesten herbei, sah sich Grahams Ohren an, überblickte ihn, befühlte ihm den Hinterkopf und hätte sich noch einmal gesetzt, um ihn zu betrachten, wäre nicht Howards Ungeduld hörbar gewesen. Alsbald rasierte er Graham mit raschen Bewegungen und einer Folge von geschickt gehandhabten Instrumenten das Kinn, stutzte ihm den Schnurrbart, schnitt und arrangierte ihm das Haar. All dies tat er ohne eine Wort, etwa mit der verzückten Miene eines inspirierten Dichters. Und sobald er fertig war, wurden Graham ein Paar Schuhe gereicht.

Plötzlich rief eine laute Stimme – es schien, von einem Stück Maschinerie im Winkel her: – »Sofort – sofort. Das Volk weiß es in der ganzen Stadt. Die Arbeit wird eingestellt. Die Arbeit wird eingestellt. Auf nichts mehr warten, sondern kommen.«

Dieser Ruf schien Howard außerordentlich aufzuregen. Nach seinen Gesten schien es Graham, als zögere er zwischen zwei Richtungen. Plötzlich ging er auf den Winkel zu, wo um die kleine Kristallkugel die Apparate standen. Als er das tat, erhob sich das aufrührerische Rufen vom Bogentor her, das während all dieser Vorgänge fortgedauert hatte, zu einem gewaltigen Schall, brüllte, als ob es vorüberfegte, und sank wieder, als wiche es schnell zurück. Es zog Graham mit unwiderstehlichem Reiz dorthin. Er warf einen Blick auf den untersetzten Menschen und gehorchte dann seinem Impuls. In zwei Sätzen war er die Stufen hinunter und in dem Gang, und in einem Dutzend stand er draußen auf dem Balkon, auf dem die drei Männer gestanden hatten.


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