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21.
Unten

Vom Geschäftsviertel fuhren sie nun auf den Gleitwegen in ein sehr entlegenes Stadtviertel, wo die große Masse der Fabriken lag. Unterwegs führten die Plattformen zweimal über die Thames und sie liefen auf einem breiten Viadukt über eine der großen Straßen, die von Norden her in die Stadt traten. In beiden Fällen war sein Eindruck rasch, und in beiden sehr lebhaft. Der Fluß war ein breites, runzliges Glitzern schwarzen Meerwassers, überwölbt von Gebäuden und auf beiden Seiten sich verlierend in ein Schwarz, das mit sich entfernenden Lichtern gestirnt war. Ein Streif schwarzer Barken zog sich seewärts, bemannt mit blaugekleideten Leuten. Die Straße war ein langer und sehr breiter und hoher Tunnel, den großrädrige Maschinen geräuschlos und schnell entlangfuhren. Auch hier wog das charakteristische Blau der Arbeitsgesellschaft vor. Die Glätte der doppelten Straße, die Größe und Leichtigkeit der dicken pneumatischen Räder im Verhältnis zum Rumpf des Gefährts fielen Graham aufs lebhafteste auf. Ein schlanker und sehr hoher Wagen mit längseits befestigten Metallstangen, an denen die tropfenden Leichen vieler hundert Schafe hingen, fesselte seine Aufmerksamkeit ungebührlich. Plötzlich schnitt die Kante des Bogens dies Bild ab.

Dann verließen sie den Weg und fuhren in einem Lift abwärts und gingen durch einen Gang, der sich abwärts neigte und kamen so wieder zu einem abwärtsführenden Lift. Die Erscheinung der Dinge änderte sich. Selbst der Schein der Architekturornamentik verschwand, die Lichter nahmen an Zahl und Größe ab, die Architektur wurde immer massiver im Vergleich zu den Räumen, als sie die Fabriksquartiere erreichten. Und in dem staubigen Tonmassenraum der Töpfer, unter den Feldspatmühlen, in den Schmelzofenräumen der Metallarbeiter, zwischen den glühenden Seen rohen Eadhamits trug Mann und Frau und Kind die blaue Leinwand.

Viele von diesen großen und staubigen Galerien waren stille Maschinengassen, endlose, ausgescharrte, aschige Öfen bezeugten die revolutionäre Störung, aber wo immer gearbeitet wurde, geschah es von langsamen Arbeitern in blauer Leinwand. Die einzigen Leute nicht in blauer Leinwand waren die Aufseher der Arbeitsplätze und die orangefarben gekleidete Arbeitspolizei. Und frisch von den geröteten Gesichtern der Tanzhallen, der Willenskraft des Geschäftsquartiers kommend, konnte Graham die eingefallenen Gesichter, die schwachen Muskeln und müden Augen vieler der modernen Arbeiter beobachten. Die, die er an der Arbeit sah, waren physisch den wenigen buntgekleideten Leitern und Aufsichtsfrauen, die ihnen die Arbeit anwiesen, sichtlich unterlegen. Die kräftigen Arbeiter der alten Viktorianischen Zeiten waren dem Karrengaul und all solchen lebenden Kraftproduzenten in das Erlöschen gefolgt; den Platz seiner kostspieligen Muskeln nahm eine geschickte Maschine ein. Der moderne Arbeiter, der männliche wie der weibliche, war vorwiegend Maschinenaufseher und Heizer, ein Diener und Beiwerk, oder ein Künstler unter Anleitung.

Die Frauen waren im Vergleich mit denen, die Graham im Gedächtnis hatte, als Klasse ausgesprochen häßlich und flachbrüstig. Zweihundert Jahre der Emanzipation von den moralischen Fesseln einer puritanischen Religion, zweihundert Jahre des Stadtlebens hatten ihr Werk getan und den Stamm weiblicher Schönheit und Kraft aus den Myriaden der blauen Leinwand ausgeschaltet. Physischer oder geistiger Glanz, irgendwelcher Reiz oder irgendwelche Ausnahmeeigenschaft war stets ein sicheres Mittel der Emanzipation von der Arbeit gewesen und war es noch, war eine Fluchtlinie zur Freudenstadt und ihrer Pracht und Lust, und schließlich zur Euthanasie und zum Frieden. Solchen Verlockungen zu widerstehen, war von niedrig ernährten Seelen kaum zu erwarten. In den jungen Städten von Grahams früherem Leben waren die neu gesammelten arbeitenden Massen eine mannigfache Menge gewesen, immer noch bewegt von der Tradition persönlicher Ehre und von einer hohen Moralität; jetzt differentiierte sie sich zu einer getrennten Klasse von eigenem moralischem und physischem Typus – sogar mit einem eigenen Dialekt.

Sie drangen weiter nach unten, immer tiefer, nach den Arbeitsplätzen hin. Plötzlich kamen sie unter einer der Straßen mit den gleitenden Wegen durch und sahen hoch zu Häupten die Plattform auf ihren Schienen laufen und die Spalte weißen Lichts zwischen den Querschlitzen. Die Fabriken, die nicht arbeiteten, waren nur spärlich erleuchtet; Graham schienen sie und ihre verhangenen Flügel riesiger Maschinen in Düster getaucht, und selbst, wo Arbeit geschah, war die Beleuchtung weit weniger glänzend als auf den öffentlichen Wegen.

Hinter den blendenden Seen von Eadhamit kam er in den Bezirk der Goldschmiede, und mit einigen Schwierigkeiten und durch den Gebrauch seiner Unterschrift erhielt er Zutritt zu diesen Galerien. Sie waren hoch und dunkel und ziemlich kalt. In der ersten machten ein paar Leute Ornamente aus Goldfiligran, jeder Mann saß an einem kleinen Arbeitstisch für sich mit einem kleinen Licht unter einem Lichtschirm. Die lange Perspektive von Lichtflecken mit den hellerleuchteten behenden Fingern, die sich zwischen den glitzernden gelben Fäden bewegten, und mit dem angespannten Gesicht wie dem Gesicht eines Geistes in jedem Schatten wirkte wunderlich.

Die Arbeit wurde wundervoll ausgeführt, aber ohne Kraft der Modellierung oder Zeichnung, zum größten Teil verschlungene Grotesken oder Variationen über ein geometrisches Motiv. Diese Arbeiter trugen eine besondere weiße Uniform ohne Taschen und Ärmel. Die zogen sie an, wenn sie zur Arbeit kamen, aber abends wurden sie ausgezogen und untersucht, ehe sie die Grundstücke der Gesellschaft verließen. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln, sagte ihnen der Arbeitspolizist in gedrücktem Ton, wurde die Gesellschaft nicht selten bestohlen.

Dahinter kam eine Galerie von Frauen, die damit beschäftigt waren, Platten künstlicher Rubine zu schneiden und zu fassen, und hinter denen waren Männer und Frauen mit den Kupfergitterplatten beschäftigt, die die Basis für cloisonné-Ziegel bildeten. Viele von diesen Arbeitern hatten Lippen und Nasen von fahlem Weiß; das war infolge einer Krankheit, die ein gerade sehr beliebtes Purpuremail verursachte. Asano entschuldigte sich Graham gegenüber wegen dieser anstößigen Gesichter, aber der Weg läge gerade bequem für sie. »Dies wollte ich ja sehen,« sagte Graham, »gerade dies wollte ich sehen,« und er versuchte, bei einer besonders auffallenden Entstellung, die ihm plötzlich ins Gesicht starrte, ein Zusammenfahren zu vermeiden.

»Die hätte Besseres mit sich anfangen können,« sagte Asano.

Graham machte ein paar entrüstete Bemerkungen.

»Aber, Sire, wir könnten das Zeug wirklich nicht ohne Purpur aushalten,« sagte Asano. »In Ihren Tagen konnte man solche groben Dinge vertragen, man war der Barbarei um zweihundert Jahre näher.«

Sie gingen eine der niedrigeren Galerien dieser cloisonné-Fabrik entlang und kamen zu einer kleinen Brücke, die ein Gewölbe überspannte. Als er über die Brüstung blickte, sah Graham, daß unten unter erstaunlicheren Bogen, als er noch gesehen hatte, eine Werft lag. Drei Barken, erstickt unter mehligem Staub, wurden von einer Schar hustender Leute, von denen jeder einen kleinen Karren schob, ihrer Ladung zerpulverten Feldspats entledigt; der Staub erfüllte den Raum mit erstickendem Nebel und machte das elektrische Licht gelb. Die unbestimmten Schatten dieser Arbeiter gestikulierten ihnen zu Füßen und eilten vor einer langen Strecke weißgetünchter Mauer hin und her. Aber hin und wieder stand einer still, um zu husten.

Eine schattenhafte riesige Masse von Mauerwerk, die aus dem tintigen Wasser aufstieg, erinnerte Graham an die Menge von Wegen und Galerien und Lifts, die sich Stockwerk über Stockwerk zwischen ihm und dem Himmel erhoben. Die Leute arbeiteten schweigend unter der Aufsicht zweier Arbeitspolizisten; ihre Füße weckten einen hohlen Donner auf den Planken, auf denen sie hin und her gingen. Und als er auf diese Szene blickte, begann eine verborgene Stimme im Dunkel zu singen.

»Still da!« schrie einer der Polizisten, aber dem Befehl wurde nicht gehorcht, und erst einer, dann all die weißbestaubten Leute, die da unten arbeiteten, hatten den pochenden Refrain aufgenommen und sangen es herausfordernd, das Aufstandslied. Die Füße auf den Planken donnerten jetzt zum Rhythmus des Liedes, eins, zwei; eins, zwei. Der Polizist, der gerufen hatte, warf einen Blick auf seinen Kollegen, und Graham sah ihn die Achseln zucken. Er machte weiter keinen Versuch, dem Singen Einhalt zu tun.

Und so gingen sie durch diese Fabriken und Arbeitsplätze und sahen viele schmerzliche und grimmige Dinge. Aber warum soll ich den freundlichen Leser bedrücken. Ist doch unsere gegenwärtige Welt für eine verfeinerte Natur betrübend genug, auch ohne daß wir uns um dieses kommende Elend quälen. Wir werden auf jeden Fall nicht leiden. Unsere Kinder vielleicht, aber was geht das uns an? Dieser Gang hinterließ in Grahams Geist ein Labyrinth von Erinnerungen, schwankenden Bildern von umschränkten Hallen und vollen Gewölben, gesehen durch Staubwolken, von komplizierten Maschinen, den laufenden Fäden von Webstühlen, den schweren Schlägen stampfender Maschinerie, dem Brüllen und Rasseln von Riemen und Rüstzeug, von schlecht erleuchteten, unterirdischen Flügeln schlafender Bauten, von unbegrenzten Perspektiven winziger Lichter. Und hier der Geruch des Gerbens, und hier der Dunst der Brauerei, und hier nie dagewesene Dünste. Und überall standen Pfeiler und Kreuzbogen von solcher Massivität, wie Graham sie noch nie gesehen hatte, dicke Titanen fettigen, glänzenden Backsteinwerks, zerdrückt unter dem ungeheuren Gewicht jener komplizierten Stadtwelt, wie diese anämischen Millionen von ihrer Kompliziertheit erdrückt waren. Und überall sah man blasse Züge, hagere Glieder, Entstellung und Erniedrigung.

Einmal und noch einmal und noch ein drittes Mal hörte Graham auf seiner langen unerfreulichen Suche an diesen Orten das Aufstandslied, und einmal sah er unten in einem Gang einen wirren Kampf, und er erfuhr, daß ein Dutzend dieser Sklaven nach ihrem Brot gegriffen hatten, ehe ihre Arbeit getan war. Graham war auf dem Rückweg nach oben, als er eine Anzahl blaugekleideter Kinder einen Quergang hinunterlaufen sah, und plötzlich bemerkte er den Grund ihrer Panik in einer Schar Arbeitspolizisten, die, mit Keulen bewaffnet, auf eine unbekannte Störung zutrabten. Und dann kam ein ferner Aufruhr. Aber zum größten Teil hatte dieser Rest gearbeitet, hoffnungslos gearbeitet. Alles, was der gefallenen Menschheit an Mut geblieben war, war oben auf den Straßen und rief nach dem Herrn und behielt seine Waffen geräuschvoll und tapfer zurück.

Sie tauchten von diesen Wanderungen empor und standen blinzelnd wieder im hellen Licht des Mittelgangs der Plattformen. Sie hörten das ferne Schreien und Brüllen der Maschinen eines der Allgemeinen Nachrichtenbureaus, und plötzlich kamen Leute gelaufen, und die Plattformen entlang und auf den Wegen überall herrschte Rufen und Schreien. Dann eine Frau mit einem Gesicht stummen, weißen Schrecks, und eine andere, die im Laufen keuchte und kreischte.

»Was ist geschehen?« sagte Graham verwirrt, denn er konnte ihre schwere Sprache nicht verstehen. Dann hörte er es auf Englisch und hörte, was jedermann rief, was die Leute einander zugellten, was Frauen zu schreien begannen, was wie der erste Wind vor einem Gewitter vorüberflog, kalt und plötzlich hin durch die Stadt, das war dies: »Ostrog hat die schwarze Polizei nach London befohlen. Die schwarze Polizei kommt aus Südafrika ... Die schwarze Polizei. Die schwarze Polizei.«

Asanos Gesicht war weiß und erstaunt; er zögerte, blickte Graham aufs Gesicht und sagte ihm, was er schon wußte.

»Aber woher können sie es wissen?« fragte Asano.

Graham hörte jemanden rufen. »Alle Arbeit einstellen. Alle Arbeit einstellen,« und ein schwarzer Buckliger, lächerlich bunt in Grün und Gold, kam die Plattformen hinunter auf ihn zugesprungen und schrie immer wieder in gutem Englisch: »Das ist Ostrogs Werk. Ostrog, der Schurke! Der Herr ist verraten.« Seine Stimme war heiser, und ein dünner Schaum tropfte ihm aus dem häßlichen, schreienden Mund. Er schrie von einem unsäglichen Greuel, den die schwarze Polizei in Paris vollbracht hatte und lief so weiter, indem er rief: »Ostrog, der Schurke!«

Einen Moment blieb Graham stehen, denn es hatte sich ihm noch einmal aufgedrängt, daß diese Dinge ein Traum waren. Er blickte zu der hohen Gebäudeklippe auf beiden Seiten empor, die schließlich über den Lichtern in blauen Dunst verschwand, und die brüllenden Reihen der Plattform entlang, und auf die schreienden, laufenden Leute, die vorbei gestikulierten. »Der Herr ist verraten!« riefen sie. »Der Herr ist verraten!«

Plötzlich nahm die Situation in seinem Geist wirkliche und dringende Gestalt an. Das Herz begann ihm rasch und stark zu schlagen.

»Es ist gekommen,« sagte er. »Ich hätte es wissen können. Die Stunde ist gekommen.«

Er überlegte schnell. »Was soll ich tun?«

»Gehen Sie zum Rathaus zurück,« sagte Asano.

»Warum sollte ich mich nicht –? Das Volk ist hier.«

»Sie werden Zeit verlieren. Sie werden zweifeln, ob Sie es sind. Aber sie werden sich um das Rathaus versammeln. Da werden Sie ihre Führer finden. Da liegt Ihre Kraft – bei ihnen.«

»Wenn es nur ein Gerücht wäre.«

»Es klingt wahr,« sagte Asano.

»Wir wollen die Tatsachen erfahren,« sagte Graham.

Asano zuckte die Achseln. »Wir gingen besser zum Rathaus zurück,« rief er. »Da werden sie zusammenlaufen. Schon jetzt sind die Ruinen vielleicht unpassierbar.«

Graham sah ihn zweifelnd an und folgte.

Sie liefen die abgestuften Plattformen bis zur schnellsten hinauf, und dort sprach Asano einen Arbeiter an. Die Antworten auf seine Fragen erfolgten in der schweren Vulgärsprache.

»Was hat er gesagt?« fragte Graham.

»Er weiß wenig, aber er sagte mir, die schwarze Polizei wäre gekommen, ohne daß das Volk es wußte – hätte es nicht jemand im Windfahnenamt erfahren. Er sagte, ein Mädchen.«

»Ein Mädchen? Doch nicht –?«

»Er sagte, ein Mädchen – er wußte nicht, wer es war. Wer aus dem Rathaus herausgekommen war und laut gerufen hatte und es den Leuten erzählt, die in den Ruinen arbeiten.«

Und dann wurde noch etwas gerufen, etwas, was einen ziellosen Aufruhr in entschiedene Bewegungen verwandelte. Es kam wie ein Wind die Straße entlang. »Auf eure Posten, auf eure Posten. Jedermann hole Waffen. Jedermann auf seinen Posten!«


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