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Rechnen – Deutsch – Geschichte – Religion – Nachhilfestunde am Montag. Rechnen, Deutsch, Naturkunde, Zeichnen, Turnen am Dienstag. Deutsch, Erdkunde, Nachhilfe, Zeichnen, Turnen am Mittwoch. Rechnen, Deutsch, Geschichte, Erdkunde am Donnerstag. Deutsch, Naturkunde, Rechnen, Zeichnen, Religion am Freitag. Rechnen, Deutsch, Geschichte, Naturkunde, Turnen am Sonnabend. Und so alle Tage. Und so alle Monate. Und so alle Jahre. Nur daß die Stunden einmal anders herum in der Reihe gehen, und statt der Turnstunde einmal die Spielstunde gelegt ist, die sonst auf den Nachmittag fällt.

Und wie alle Tage ging Marie-Luise zur Schule, aber nicht mit dem gewohnten räumigen Schritt, der so rasch Entfernungen hinter sich ließ und etwas Federndes hatte. Sie ging beschwert. Es lag ihr wie eine Last auf, daß sie noch nicht an ihn geschrieben hatte. Ein paar Wochen waren schon hingegangen, die Frist fast verstrichen, und noch wußte sie nicht: »Nein« oder »Ja« – noch immer nicht, was sie schreiben sollte. War sie denn noch jung genug, ein so ganz anderes Leben anzufangen, die Frau eines Mannes zu sein? Sie prüfte sich selber im Spiegel mit argwöhnischem Blick, mit unbarmherziger Schärfe: da waren ein paar Falten und Linien, die nichts mehr wegwischte, auch die liebevollst glättende Hand nicht mehr; aber das war es nicht, was sie abhielt. Jetzt hatte sie es auch nicht mehr nötig, zu zittern so wie damals, als die Halbhaus sie schreckte, das Schicksal der verheirateten Lehrerin würde sie nicht mehr zu fürchten haben, sie wurde seine Frau, und nun nur seine Frau. Sie gab die Lehrerin auf. Aber das war es, das, was sie noch zögern ließ. Würde seine Liebe denn so groß sein, daß sie nichts anderes vermißte? Und war die ihre so groß, daß sie sich genügen ließ mit dem, was er ihr gab, geben konnte? Er hatte sein Krankenhaus noch dazu, seinen Beruf, er konnte leicht glücklich sein – aber sie, sie? Oh, daß er doch nicht geschrieben hätte, daß sie nicht aufgeschreckt worden wäre, plötzlich überfallen wie von einem Donner an heiterm Tag! Wenn sie doch lieber wieder an ihn denken könnte wie vorher, wie an etwas Schönes, das Allerschönste in ihrem vergangenen Leben! Es dünkte sie, daß ihr diese Vergangenheit fast teurer war als das, was jetzt ihre Zukunft sein sollte. »Wenn ich nicht jubelnd hineinspringen kann mit beiden Füßen, dann ist es kein sicherer Boden für mich«, sagte sie sich, »ich überlege zu lange. Und wenn man so lange erst überlegen muß, dann soll man nicht springen. Kann ich's denn überhaupt? Ach, ich hänge ja hier so fest, ich bin wie mit Hunderten von Fäden hier angebunden. Meine Schule, meine Klasse, meine Kinder, oh, meine Kinder! Was wird aus denen, wenn ich die verlasse?«

Dann wird eine andere sie betreuen, sprach fast höhnend eine Stimme in ihr. Bilde dir doch nur nicht ein, daß du unentbehrlich bist. Es gibt viele Lehrerinnen, du bist leicht zu ersetzen. Schon wollte Marie-Luise ihm schreiben: »Ja, komm nächsten Sonntag«, da tat sie es doch nicht …

Heute ging sie wie immer zur Schule. Es war voller Frühling, so leicht, so warm, so schön, wie der selten ist. Selbst hier war er schön, das Herz der Stadt ganz erfüllt von ihm; es roch nach Flieder und Mai. Alle Türen geöffnet, alle Fenster weit auf; Karren mit grünen Birkenzweigen fuhren die Straßen entlang und mit Lasten von blauem und weißem Flieder. Weiber stürzten sich förmlich darauf – das Bund zwanzig Pfennige – das gab jede gern aus. »Man will doch'n bißken Frühling in die Wohnung haben«, hörte Marie-Luise sagen und freute sich darüber. Da würde ihre Klasse heut auch voll Fliederduft sein. Ein paar grünende Töpfchen standen ja immer am Fenster, die Kinder stritten darum, wer sie pflegen durfte, aber soviel Schönheit und Frühlingsblüte hatten die nicht.

Auf der Sonnenseite der Straße fuhr ein Kinderwagen vor Marie-Luise her, er fuhr bedächtig, und sie, weil sie eilte, streifte ihn fast. Da schrie das junge Mädchen, das ihn schob, plötzlich hell auf: »Fräulein Büchner!«

Ein wahres Frühlingsgesicht sah Marie-Luise an – blonder Bubikopf, schön gewellt, blaue Augen, liebes Gesicht – sie stutzte: die kannte sie doch?!

»Ich bin die Irma«, sagte die Blonde und wurde vor Freude rot, »die Irma Mielke bin ich!«

»Ach, Irma!« und nun dachte Marie-Luise auf einmal daran, was ihr die Schindler erzählt hatte. Doch wenn Irma nichts sagte, würde sie auch nichts sagen. Daß dies niedliche blonde Kind, das sauber gebettet auf weißem Stickereikissen unter einer rosa Decke im Wagen lag, der Irma ihres war, das brauchte sie ja gar nicht zu wissen. So fragte sie nur freundlich: »Geht es dir gut?« und nahm die ihr freudig entgegengestreckte Hand in die ihre.

»O danke, mir geht es sehr gut«, sagte das Mädchen und lächelte strahlend. Wurde dann aber doch ein wenig verlegen: »Das ist meine Kleine.« Als aber Marie-Luise auch lächelte und sich über den Wagen beugte, war das bißchen Verlegenheit gleich weg. Sie war wieder unbefangen. »Sie sieht ganz aus wie ich, nicht? Mein Bräutigam, der ist pechrabenschwarz.«

»Wann wirst du denn heiraten?«

»Na, wenn es denn geht. Wir müssen erst zu 'ner Einrichtung kommen und zu 'ner Wohnung. Und das geht nicht so rasch. Aber wir sind ja beide so jung, wir können noch gut warten!« Sie lachte ganz fröhlich und unbesorgt.

Aber das Kind, wenn das Kind inzwischen heranwuchs?! Marie-Luise sagte das nicht, sie dachte es nur, aber als ob die junge Mutter ihre Gedanken erraten hätte, sagte die jetzt: »Meine Kleine, die schick ich zu Ihnen nach Schule. Ach Fräulein, was war das bei Ihnen doch schön! Wissen Sie noch, das mit die Nachtigall, wie ich Vatern die aus dem Käfig tat?«

Marie-Luise nickte: gewiß, sie erinnerte sich. Ein Dummchen war die kleine Irma, die blinde Nachtigall, die nicht mehr fliegen konnte, hatte die Katze geholt – war die große Irma nun auch dumm gewesen, vor die Katze gegangen, wie der Vogel damals? O nein! Sie sah in das offene, hübsche Gesicht, das sie unbefangen, mit unverhohlener Liebe ansah. Die Irma, die nahm eben sowas als selbstverständlich, die schämte sich nicht des Kindes wegen. Nein, es hätte jetzt auch gar keinen Zweck gehabt, ihr das zum Vorwurf zu machen. So sagte Marie-Luise nur herzlich und gab der früheren Schülerin dabei die Hand: »Ja, bring mir nur dann deine Kleine. Ich habe inzwischen was zugelernt, hoffentlich lern' ich's bis dahin auch, euch noch besser zu führen!«

»O Fräulein, Sie waren ja immer so gut!« Das rief die Irma ganz enthusiastisch. »Es kann gar nicht noch besser bei Ihnen sein!« –

Vielleicht doch noch, dachte Marie-Luise, als der Kinderwagen mit seinen quietschenden Rädern hinter ihr zurückgeblieben war und sie rascher davonging. Sonnenstrahlen tanzten vor ihr auf dem Bürgersteig, und Kinder, ausgelassen kreischend im Frühlingsschein, jagten sich ihr vor den Füßen.

Kinder, Kinder – wo kamen nur alle die Kinder her? Zu hunderten, zu tausenden, den Lärm der Straßen übertönend mit schrillem Geschrei, aus Türen, aus Fenstern quellend, als sei es da drinnen von ihnen übervoll. Kinder in Häusern, Kinder in Straßen, Kinder in Dörfern, Kinder in Städten. Tausende und Abertausende von Kindern in der ganzen Welt. Helle und dunkle Köpfe, blonde und braune – weiße und schwarze Schafe der großen Herde. Marie-Luise sah sie vor sich her traben im Sonnenschein. Unwiderstehlich gezogen folgte sie.

Und plötzlich sah sie die eigene Gestalt, die ging vor ihr her. Groß und kräftig, noch mit räumigem Schritt, aber blond war die nicht mehr. Marie-Luise erschrak: war sie schon grau? Grau, aber alt noch nicht – man wird nicht alt, wenn man mit der Jugend geht. Wenn man der folgt auf ihren Wegen, die oft ein wenig verworren sind und verstrickt im Gestrüpp, dann bleibt man selber auch jung; denn dann muß man aufpassen, muß eilen und laufen, muß vom Abgrund wegtreiben, muß warnen und hüten: gebt Obacht, fallt nicht!

Meine Schule, meine Klasse – all diese Kinder, meine Kinder, dachte Marie-Luise wieder einmal. Und jetzt wußte sie plötzlich, was sie wollte, und was sie mußte. Was sie geahnt hatte, leise schon lange gefühlt, nur noch nicht mit ganzer Bestimmtheit, jetzt war es da; – sie mußte ihm schreiben: Es kann nicht sein. Ich gehöre hier diesen. Sie brauchen mich mehr, als du mich brauchst. Strauchelnde und schwache Lämmer, die muß ich tragen auf meinen Armen, ich bin glücklich, wenn ich sie halten kann. Und wo meine Herde ist, da ist auch mein Herz. Darum kann es nicht sein, darum: leb wohl!

Mit einem Gesicht, das so schön war vor Klarheit wie der heutige Tag, bog Marie-Luise in die Straße ein, in der ihre Schule lag. Eine düstere Straße und düster auch das Gebäude; kein Bau, wie die neue Schule es ist, hell und weit ausladend, mit großem Spielplatz und geräumigem Hof, hohen Fenstern und freundlichen Ausblicken. Nur ein alter Bau, eingezwängt in die Enge des übervölkerten Ostens, eine Schule mitten im Herzen des Proletariats.

Aber Marie-Luise lächelte freudig, sie sah den umbauten Hof nicht und den etwas verdüsterten Eingang. Helle und dunkle, braune und blonde, schwarze und flachshaarige Köpfe, alle schauten zu ihr jetzt auf, alle drängten sich jetzt um sie her. Es war an der Zeit, schon mahnte die blecherne Glocke. Da führte sie ihre Schar hinein in die düstere Schule, und die ward doch für viele zum hellen Himmel.

 


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