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11

Und was war mit Lenchen Krause? Das erfuhr Marie-Luise nie. Als hielten die großen vielstöckigen und vielzimmrigen Häuser ihre Geheimnisse vor jener fest, die wie ein Vogel, der scheu und doch immer wieder nah und näher nach etwas suchend, die Simse umflattert, mit seinen Flügeln die Fenster fast streift; so war es. Umsonst fragte Marie-Luise mehrmals den Vizewirt. Sie hätte die Trude ja wieder einmal fragen können, aber davor scheute sie sich. Es war ihr jetzt manchmal, als stieße das Mädchen sie ab. Und Trude sagte ja auch nur, was sie sagen wollte. Aber Fräulein Ebertz, die kannte den Jungen, Trudes Bruder, die konnte sie einmal fragen. Theo Schindler war öfters bei der, er sollte ganz anders sein als das Mädchen, lenkbar und mitteilsam, Fräulein Ebertz rühmte ihn. –

Die alte Lehrerin hatte nun in ihrer Wohnung im neugebauten Haus Sonne aus erster Hand; selbst im Winter, wenn die nur für ganz kurze Zeit am Himmel erschien, konnte sie die sehen. Aber etwas fehlte ihr doch: sie war zu sehr und zu lange Zeit an Kinder gewöhnt gewesen, als daß sie die nicht vermißt hätte. Zuerst nicht, da hatte sie sich überaus wohl gefühlt ohne Pflichten, ohne die täglichen Strapazen, aber als nun der Sommer vorbei war mit seinen hellen Tagen, an denen sie bald in diesem Fenster lag, bald in jenem, sich bescheinen ließ voller Wohlgefühl – eine Blume, die lange hatte im Schatten stehen müssen – nun fing etwas an, sie zu kränken. Dumm von ihr, ihre Schule ohne dringendste Nötigung aufzugeben! Die sechzig wenigstens hätte sie doch abwarten können. Ihr Hals war nun auch wieder ganz gut, er kratze nicht mehr, und ihre Stimme hatte wieder vollen Klang. Was sollte sie nun den ganzen Tag anfangen?! Mit der Sonne konnte sie doch nicht reden, und ihre Blumen am Fenster, deren sie viele zog, standen still und waren zufrieden, wenn sie begossen wurden. Sie wäre gern erbötig gewesen, einem Kind Unterricht zu geben – sogar unentgeltlich – aber hier draußen fand sich das nicht. Die Kinder, die im Hause wohnten, waren noch nicht so weit. So kam nur Theo Schindler in Frage.

Theo brachte Fräulein Ebertz früh morgens die Milch und die Brötchen herauf, holte ihr die Preßkohlen aus dem Keller und machte ihr Holz klein, und abends kam er oft auch noch einmal. Ein sehr brauchbarer Junge, gewandt und gescheit – ach, und so gelehrig! Es machte Melitta Ebertz große Freude, ihm etwas beizubringen. Sie hatte noch niemals Vierzehnjährige unterrichtet, aber sie sah nun mit Genugtuung: auch das konnte sie. Und wie wichtig für den Theo, daß er sich noch weiter bildete! Einmal die Woche der Besuch in der Pflichtfortbildungsschule, das war doch so gut wie nichts. Er wollte Hotelpage werden – für das nächste Jahr war ihm eine Anstellung zugesagt – was mußte er aber bis dahin noch alles lernen! Erstmal ein gebildetes Deutsch. Fräulein Ebertz gab sich große Mühe mit ihm: »In welche Etage befiehlt die gnädige Frau?« – »Gestatten gnädige Frau, Ihr Schirm!« – »Darf ich fragen, ob der Herr nachher ein Auto wünscht?« Er sagte so etwas schon ganz famos und hatte ein Lächeln dabei, was ihm gut stand. Wenn er dann erst in der hübschen braunen oder grünen Uniform mit den goldenen Knöpfchen steckte, das kleine Käppi auf dem blonden Kopf, dann war er sicher tadellos. Und ein paar Brocken Französisch konnten ihm auch nur zum Vorteile gereichen – wie fein, wenn er sagen konnte: »Voilà des lettres pour monsieur!« Dann gab es sicher ein Trinkgeld. Die alte Lehrerin holte ihr schon halb vergessenes Französisch, das sie einstmals auf dem Seminar gelernt und dann doch nicht gebraucht hatte, wieder vor. Und auch an etwas Englisch wagte sie sich. Theo legte den Kopf auf die Seite und sprach wie ein Papagei ihr nach: »First floor, Mylady? Look at the step!« Das machte er allerliebst. Oh, es war ganz erstaunlich, wie leicht der Junge lernte und mit welchem Eifer er dabei war! Er trug Zeitungen und Reklamezettel aus, konnte oft erst spät abends kommen mit müden Füßen, aber er kam immer; er ließ sie niemals vergeblich warten.

Und sie wartete jeden Abend auf ihn. Sie gestand es sich ehrlich ein: der Junge würde ihr sehr, sehr fehlen, wenn er einmal nicht mehr käme. Es war nicht mehr einsam, wenn er da war; und dann war es wie beim Unterricht in der Schule. Er saß am Tisch, hielt den Federhalter, mit dem er schrieb, nachdenklich an den Mund und überlegte. Sie ging auf und ab und diktierte. Ihre Wangen waren vor Eifer gerötet: noch immer machte er orthographische Fehler, und auch kalligraphisch ließ sein Schreiben zu wünschen übrig. Nein, das durfte nicht sein! Es durften sich bald keine Schnitzer mehr finden, er mußte so weit kommen, daß er in guter Form und in guter Schrift sich ausdrücken konnte.

Auf den Kopf des ebenso eifrigen Schülers fiel der Lampenschein und vergoldete ihn; seine hübschen Lippen bewegten sich bei jedem Wort, das er schrieb, als sprächen sie es mit. Lernen, soviel als möglich hier lernen, damit man dann besser voran kam, Geld verdiente, mehr Geld hatte, als man jetzt hatte! Geld, Geld! Gänge laufen, Zettel austragen, Müllkästen durchsuchen – oh, das brachte nur erbärmliche Pfennige! Geld haben, Geld! Dann fährt man Auto, ißt sich voll satt und hält sich Frauen!

Es wurde oft neun und oft zehn. Auf die Schulter des fleißigen Schülers legte sich die Hand der Lehrerin: »Du mußt jetzt aufhören, Theo!«

»Ach, noch 'n bißchen«, bat er, und seine warme Wange schmeichelte sich an ihre Hand.

»Es ist ja schon spät.«

»Oh, das macht nischt, bei uns gibt's doch noch nich Ruhe. Mutter, die schläft, unser Schlafbursche auch, aber Vater sicher noch nich. Der kommt, wenn der Schlafbursche geht, aber denn is gleich Krach. Alma ist auch noch nich zu Hause, und die Trude – na, wenn die endlich ins Bette liegt, denn schmeißt die sich so, daß ich fast 'rausfliege.«

Das schienen ja eigentümliche Zustände bei den Schindlers zu sein – der Junge, ach, der arme Junge. Nicht einmal seine ungestörte Nachtruhe hatte das fleißige Kind.

Und Fräulein Ebertz' gute Seele behielt den Theo noch da, und es schlich sich so ein, daß er bei ihr auch etwas zu essen bekam; es war ja vom Mittag noch genug übrig. Dann saß es sich so gemütlich in dem Zimmer, dessen Fenster hinaus ins Öde sah, und das doch selber so gar nicht öde war, sondern warm und sehr reinlich, durchweht von dem Hauch sauberer Altjüngferlichkeit. Sie saßen im Ostzimmer, im Winter wurde nur das eine Zimmer geheizt, auf das Westzimmer stießen zu stark die Winde. Aber das Bett war hinter einer spanischen Wand verborgen. Fräulein Ebertz hätte sonst nie und nimmer hier mit ihrem Schützling gesessen, auch wenn der nur erst ein Junge war. So merkte man es nicht, daß es hier zugleich Schlafzimmer war. Am Fenster grünten Myrte und Frauenhaar, ein Phyllodendron streckte seine abenteuerlichen Wurzelbildungen in die Luft, und ein Geranienstock trieb, von der Wärme der Stube irregeleitet, jetzt schon blaßrote Blüten. Die Uhr unter dem Glassturz, von den Großeltern und Eltern ererbt, tickte ganz fein, von der Wand herab blickte der große Stich, schön gerahmt, den die Kolleginnen Fräulein Ebertz zum Abschied geschenkt hatten: »Christus segnet die Kinder.« Melitta Ebertz hatte Gefühle in sich, die, Muttergefühlen gleichend, sie beglückten und ihren Abend erhellten …

»Der Theo hat 'ne feine Bleibe«, sagte Frau Schindler. »Na, wie is et denn mit deine Braut?« neckte sie ihren Jungen.

»Die wer' ich beerben«, sagte der ruhig. Das Necken der Mutter ließ ihn ganz kalt und auch das Hänseln der Schwestern. Alma sagte nie anders als »deine Olle«, und Trude sprach es ihr nach.

Alma war wenigstens hübsch und verdiente, aber für Trude hatte der Bruder nur ein verächtliches Achselzucken. Geld, Geld – die Trude war noch zu dumm, um sich Geld zu machen. Er puffte sie, und sie rächte sich dafür, indem sie ihn, kaum, daß er eingeschlafen war, aus dem Bett stieß.

Melitta Ebertz hatte keine Ahnung von dem, was hinter der vor Lerneifer gefurchten Stirn ihres Schülers schlief, sie sah nur seinen Fleiß und seine Anhänglichkeit. »Der Knabe ist mein Schüler«, hatte sie den wenigen im Hause, mit denen sie sprach, erzählt. Sie pflegte keinen Verkehr und kannte niemanden hier. Aber man kannte sie und glaubte sie auch näher zu kennen – sogar ganz nah. Was das wohl für eine Bewandtnis mit dem jungen Menschen haben mochte, den sie immer da oben herumsitzen hatte und bis spät bei sich behielt?! Ob das wirklich ein Neffe von ihr war? Es mußte doch ein Verwandter sein. War es am Ende vielleicht sogar ihr Sohn? Ein unehelicher Sohn, denn verheiratet war ja die Ebertz nicht und auch niemals gewesen, aber das hinderte doch nicht, daß sie ein Kind hatte. Man spionierte dem Fräulein, das da oben so ganz für sich allein lebte, selten ausging, selten Besuch hatte – nur immer diesen einen – neugierig nach. Sie sagte: der »Knabe«, aber er, der ihren Hausschlüssel hatte und ihren Korridorschlüssel, der bei ihr ein und aus ging wie zu Hause, mit dem sie lachte und sich so hatte, daß die Witwe Schneller, die auf derselben Etage wohnte, es durch die Wand hören konnte, war doch gar kein Knabe mehr. Wenn er die Treppe heraufsprang mit langen Beinen – die Stufen knackten unter seinem Gewicht – und einen bekannten Schlager pfiff, dann war das doch ein Jüngling und nicht ein Junge. Wie alt mochte dieser junge Mensch sein? Sicherlich siebzehn. Ja ja, Alter schützt vor Torheit nicht! Wenn sie auch sagte: »Der Junge ist mein Schüler«, das glaubte ihr jetzt keiner mehr. Lieber Gott, wer will es einer Person, die so einsam sitzt, keine verwandte Seele hat und auch nach nichts zu fragen braucht, verdenken, wenn sie sich einen hält, um ein bißchen zu schmusen. –

Fräulein Ebertz sprach manches Mal mit Theo über seine Zukunft. Er war ihr wirklich nach und nach so ans Herz gewachsen, daß sie sich sorgte, wie es ihm wohl einmal ergehen würde. Theo Schindler war groß für sein Alter und kräftig, für die ungünstigen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, ganz merkwürdig weit entwickelt; er konnte schon etwas leisten, trotzdem würde er es schwer haben. Denn es war heutzutage nicht leicht für junge Leute, die kein Geld hinter sich hatten, zu etwas zu kommen. Freilich, wenn er so brav und anhänglich blieb, würde sie schon immer ein bißchen nachhelfen. Was brauchte sie denn auch groß, sie, eine anspruchslose alte Person?! Diese Wohnung, etwas weit ab und im Neubau, war nicht teuer; wenn Gott sie so gesund erhielt, benötigte sie für sich nichts Besonderes und verbrauchte von ihrer Pension längst nicht alles. Das übrige konnte sie sparen. Und sie sparte es auch; sie hatte jetzt schon über zweihundert Mark. Wenn das so weiter ging, war sie an ihrem seligen Ende noch Kapitalistin; für ein anständiges Begräbnis, einfach, aber vornehm, reichte es jetzt bereits. Und dieser Gedanke beglückte sie so, daß sie davon zu sprechen anfing.

Zu wem anders sollte sie wohl davon sprechen als zu Theo. Es rührte sie förmlich, wie der Junge es aufnahm, als sie von ihrem Begräbnis sprach. Er blinzelte ganz verängstigt, hing den Kopf und sah stumm vor sich nieder, wie niedergeschlagen von traurigen Gedanken. »Ja, du würdest mich vermissen, du armer Kerl«, sagte sie und strich ihm über den Kopf. »Aber na, es ist ja noch nicht soweit. Und wenn ich spare, dann spare ich doch auch nicht bloß für mein Begräbnis. Es liegt einem doch auch daran, für anderes und für andere zu sparen!« Und dabei strich sie ihm wieder über den Kopf.

Die Alte sparte, sie sparte! Wieviel konnte sie denn wohl im Monat sparen? Wenn sie nun soundsoviel im Monat sparte, dann machte das in einem Jahr soundsoviel. Das war wie eine Rechenaufgabe. Und Theo rechnete die immer wieder, wenn er, umgeben von Finsternis, über angefahrene Bausteine und Sandhaufen, den Bauzäunen der neuangelegten Straße entlang, nächtens nach Hause schlich. Es roch selbst hier nach Frühling, feuchte Westwinde, die gegen den Knaben anpfiffen, schienen ihn herzubringen. Nun wurde es bald ein Jahr, daß das alte Fräulein hier herausgezogen war, und über ein halbes Jahr, daß er an Stelle der Trude zu ihr kam – was mochte sie sich in der Zeit schon alles gespart haben –?!

 

Gott sei Dank, daß der Winter vorbei war! Nun machte der Frühling wirklich ernst, nun streckte er nicht bloß vorsichtig die Finger aus und berührte mit ihren Spitzen die Erde, nun war er da in ganzer Person, ließ sich nieder und sah sich um mit veilchenblauen Augen.

Wenn ich doch einmal selber Veilchen pflücken könnte, dachte Marie-Luise, als sie ein ganz kleines, schon beinah gewelktes, aber doch noch duftendes Sträußchen auf ihrem Platz in der Klasse fand. »Wer hat mir denn das hingelegt?« Niemand meldete sich. »Also wohl der Frühling selber«, sagte sie lächelnd und hob das Sträußchen an ihre Nase.

»Die Trude Schindler hat's hingelegt«, verriet jetzt eine, »aber Sie sollen das nicht wissen.«

»Trude, ei warum denn nicht?«

»Na, damals mochten Sie's doch immer nich, wenn es so schön roch. Vielleicht hätten Sie's nu heute auch nich gemocht.«

»Oh, das schon, das schon!« Marie-Luise lachte herzlich. »Ich danke dir schön. Aber nun hol mir auch schnell mal ein Glas Wasser, damit ich meine Veilchen einsetzen kann. Ach, ich liebe Veilchen ja so!«

Trude Schindler war ganz verlegen – verlegen sein, das kam bei ihr sehr selten vor – das hätte sie ja kaum gedacht, daß Fräulein Büchner sich so darüber freuen würde! Nun würde sie aber Alma wieder ein Sträußchen wegstibitzen, wenn die das so achtlos hinschmiß und nicht einmal ins Wasser steckte.

Marie-Luise spürte den Frühling; sie spürte ihn in allen Gliedern. Sie war seltsam müde und fühlte sich verlassen von aller Energie. Fehlte ihr etwas? Nein, sie war gesund, sie hatte nirgendwo Schmerzen, aber dies große Müdesein, das gleich einem Niedergeschlagensein war, kam einem Kranksein gleich. Sie sehnte sich nach Ausspannung: ach, wenn die Osterferien doch erst da wären, sie nicht täglich den weiten Weg zu machen hätte! Aber als die Ferien da waren, sehnte sie sich, daß sie vorbei wären. Dieses Dahinsitzen in einer engen Häuslichkeit, ohne Gelegenheit, sich genügend zu betätigen, diesen traurigen geistigen Niedergang der Mutter von morgens bis abends ertragen zu müssen, ohne helfend oder aufhaltend eingreifen zu können, das war schrecklich!

Frau Professor war selig, daß sie die Tochter jetzt den ganzen Tag für sich hatte, sie wich ihr nicht von der Seite. Immer wieder fuhr ihre Hand streichelnd über den Ärmel von Marie-Luise: »Wie schön, daß du da bist!« Wenn die Tochter aus dem Zimmer ging, folgte ihr der Blick der Mutter ängstlich: »Kommst du auch wieder? Kommst du auch gleich wieder?« Sie war wie ein kleines Kind; das will auch nicht gern allein sein, das weint, wenn die Hüterin nicht gleich wiederkommt.

Und Marie-Luise dachte: Mein altes Kind. Oh, es war schwieriger mit dem alten Kind, viel schwieriger als mit den vierzig anderen Kindern! Dieses alte Kind war so eigenwillig, es sah nicht ein, daß es dies und das nicht mehr konnte, nicht mehr kochen konnte wie früher, weil es das Salzen vergaß und auch vergaß, daß ein Stück Fleisch in der Bratpfanne war. »Es riecht so«, sagte die Frau Professor und hob die feine Nase, »wonach riecht es nur so?«

»Der Braten ist verbrannt.«

»Aber wir haben doch gar keinen Braten. Wer hat denn Braten heute? Sicher die Gläßners. Die leben immer so opulent. Pfui!« Und mit Gekrach warf Frau Professor ihre Tür zu, so dem Unwillen über den brenzlichen Gestank und die Verschwendungssucht der Cousine Ausdruck gebend.

Marie-Luise bewunderte die Gläßners, immer blieben sie geduldig und ruhig. Wenn sie Schule hatte, dann ging Frau Gläßner sogar mit der Cousine spazieren, denn allein konnte man die Frau Professor jetzt nicht mehr herauslassen. Schon ein paarmal hatte sie nicht mehr nach Hause gefunden; fremden Leuten fiel sie auf, weil sie so verirrt herumlief, an den Ecken stand und sich mühte, den Namen der Straße zu entziffern: »Nach Hause! Ich will jetzt nach Hause!« Da hatte man sich ihrer angenommen und sie nach Hause gebracht. Aber wenn sie nun ihren Namen und Straße und Hausnummer einmal nicht mehr wüßte?!

»Tante Marie, ich bin dir ja so dankbar«, sagte Marie-Luise und umarmte die rundliche Frau. »Und Onkel bin ich auch so dankbar!« Sie lächelte Herrn Gläßner zu, der sie wieder anlächelte: »O bitte, bitte!«

»Ach«, seufzte die gute Marie, »ich denke immer an die Zeit, als wir noch jung waren. Was war Thilde damals doch für ein reizendes Mädchen! Und liebenswürdig und hatte immer sowas Feines! Und jetzt kann sie so räsonieren! Eine unverträgliche kindische Person!«

Unverträglich, ach ja, ziemlich unverträglich war die Mutter immer gewesen! Aber lieb hatte sie die doch, das fühlte die Tochter. Sehr lieb. Jetzt, da sie so ganz für die zu sorgen hatte, die leiten und behüten mußte wie ein Kind, jetzt noch viel lieber. Mit Zittern dachte Marie-Luise daran: Wenn das einmal zu Ende sein sollte?! Dann hatte sie niemanden, gar keinen mehr, der eng, ganz eng zu ihr gehörte, der durch Bande des Blutes mit ihr verbunden war.

Es waren trübe Gedanken, die Marie-Luise im werdenden Frühling heimsuchten; sie atmete förmlich auf, als die Osterferien ein Ende hatten und sie wieder ihren täglichen Weg antreten konnte. Veilchen hatte sie ja doch nicht pflücken können. Aber nun traf sie Doktor Droste wieder. Sie hatte ihn während der ganzen Ferien nicht gesehen. Über die Feiertage war er bei seinen Eltern zu Besuch gewesen, und dann hatte er noch außerhalb eine Vertretung angenommen gehabt für einen erkrankten Kollegen. Vielleicht, daß er an dessen Krankenhaus einmal ankommen konnte! Er hoffte darauf, und sie hoffte für ihn. Oh, sie kannte ja dieses Hoffen und Warten – hatte sie es nicht sechs Jahre auch durchgemacht?! Noch waren diese Jahre nicht vergessen. Und das Warten war für sie doch noch leichter gewesen, als jetzt das Warten für ihn. Sie verzieh es ihm, daß er nervös war, daß er sie oft lange starr ansah, ohne zu sprechen, wie verloren in Gedanken, und dann plötzlich, sich besinnend, zusammenschrak. Er sah auch schlecht aus, blaß und mager geworden. Ob er auch so müde war, so geschlagen von erster, plötzlich einsetzender Wärme, und so matt am Wollen und am Willen? Hoffnungen, Wünsche, Begehren – ach, das kam jetzt alles so bedrohlich nahe, wurde allzu lebendig.

Selbst in den übervölkerten Straßen des Berliner Ostens, durch die ihr Weg zur Schule Marie-Luise führte, roch es nach Frühling. Freilich nicht nach einem Frühling, wie er draußen im Vorort sich zeigte, wo in den Gärten der Villen Primeln blühten, Sträucher knospten, die Beete umgegraben waren und nach feuchter Erde dufteten. Hier roch es nach Apfelsinen; in hohen Haufen lagen sie auf herumfahrenden Karren und wurden den ganzen Tag ausgeschrien: »Appelsinen, die letzten Appelsinen! Billig, spottbillig!«

»Machen wir nu unsern Ausflug?« fragten die Kinder. »Fräulein, andere Klassen haben schon einen gemacht. Wann, Fräulein, morgen? Übermorgen?«

Ja, der Ausflug war fällig, Marie-Luise sah es ein, sie konnte ihn nicht länger verschieben, sie konnte die Kinder nicht mehr vertrösten auf wärmeres Wetter.

O diese Ausflüge, der Schrecken für alle Lehrer! Und für die Lehrerinnen erst recht. Vierzig Kinder und mehr – wer soll die alle in Schranken halten? Wie losgelassen stürmt eine Herde, die lange im Stall gewesen, vergessen erscheint vorerst Disziplin und gewohnter Gehorsam. Das schnattert, das plappert, das blökt und plärrt, das rennt durcheinander, das zupft und zerrt, das neckt und pufft sich, das lacht und greint, will jetzt mit der gehen, jetzt lieber mit der, hat etwas vergessen, ist jetzt schon müde und ganz wirr vor Aufregung.

»Bleibt zusammen, zerstreut euch nicht! Immer zu zweien, faßt euch an die Hände!« Und jetzt: »Sitzt ruhig im Zug! Nicht aus dem Fenster lehnen, nicht gegen die Tür!« Gott sei Dank, daß man sie nun wenigstens im Coupé hatte! Der Weg vom Versammlungsort der Schule bis zur Stadtbahn war schon ein Marsch gewesen durch belebte Straßen. Elektrische fahren, Geschäftsautos rasen, eilende Menschen schieben sich zwischen den Kindern durch. Das hatte Marie-Luise schon in Schweiß gebracht. Und ein Spießrutenlaufen war es auch. Wohlwollende lächeln: ah, das war den Kindern zu gönnen, daß die mal ordentlich Luft schnappen durften! Andere ärgern sich: »Schon wieder 'ne Landpartie, anstatt was zu lernen!« Auf der Bahn weicht jeder der Kinderschar aus: »Die arme Lehrerin mit so einer Herde!«

Aber als der Zug nun endlich das Weichbild der Stadt verlassen hatte, die Kinder sich mehr beruhigten, kam auch die Lehrerin wieder zu sich. Alle drin, alle glücklich verladen, nun konnte man eine Weile ruhig stillsitzen. Oh, das tat gut! Sie fuhren dieselbe Strecke, die sie heute morgen in aller Frühe schon einmal gefahren war, als sie die Kinder abholen ging. Aber nun fuhren sie noch weiter hinaus, ganz hinaus an den großen See: Wannsee! Vergebens hatte Marie-Luise Treptow, Grünau, Schmetterlingsluft und Eierhäuschen vorgeschlagen – »ach nee!« Da kam man schon eher mal im Sommer hin. Nein, man wollte dahin, wo es ganz fein war, wo die herrlichen Villen standen, wo gar keine Fabrikschornsteine mehr rauchten.

»Fräulein, fahren wir Kahn?«

»Fräulein, dürfen wir baden? Ich kann so gut schwimmen!«

Die Enttäuschung war groß, als es hieß: »Ins Wasser gegangen wird nicht, dazu ist es noch viel zu kalt. Wer ans Wasser geht, plantschen, der darf niemals mehr einen Ausflug mitmachen.« Das wirkte. Und es war ja auch ohne Plantschen so schön. Wie wilde Hummeln, die Honig suchen, so surrten die Kinder durch die sonnenglitzernde Freiheit. Hier konnte ihnen nichts geschehen; kein Auto, kein Lastwagen, keine Chaussee, überhaupt kein Fahrweg, nur ein Fußgängerweg mitten im Wald, sanften Hügeln entlang. Kiefern, an deren Stämmen im starken mittäglichen Sonnenschein schon Harztropfen wie gestandener Tau glänzten, und von denen Häher mit leuchtendblauen Flügelbinden aufflackerten.

»Fräulein, was ist das für ein Vogel? Wie heißt der? Kann man den auch in 'n Käfig tun?«

»Ach was! Das wäre ja geradeso grausam, als wenn man eine Nachtigall einsperren wollte. Solch ein Waldvogel muß frei sein, er würde sterben im Käfig.«

»Aber Fräulein, bei uns in 'n Hause wohnt 'n Mann, der hat' ne Nachtigall im Käfig. Und die singt. Aber blind is sie!« Irma, die Tochter des Friseurs, war es, die das erzählte. Marie-Luise hatte die noch in der Klasse, aber es war das kleine Irmchen nicht mehr mit den dünnen Mauseschwanzzöpfchen, es war jetzt schon ein Mädchen, das mit wohlgepflegtem lockigen Bubikopf Reklame machen konnte für die Kunst des Vaters.

»Sag mal, wie heißt denn der Mann bei euch, der die Nachtigall im Käfig hat? Sowas darf man ja gar nicht.«

»Au, Fräulein« – das Mädchen wurde vor Schrecken blutrot – »sagen Sie's man ja nich weiter. Es is ja bloß von wegen die Kundschaft. Wenn die Nachtigall so schön singt beis Rasieren und Haarewaschen, denn kommen viele Leute zu Vatern.«

Arme Nachtigall! Sie singt, weil sie, eingesperrt im Käfig, blind gemacht worden ist! Ein unendlich trauriges Gefühl stieg in Marie-Luise auf: ach, wenn die sehen könnte, daß die Frühlingssonne scheint, würde sie gegen den Gitterdraht ihres Gefängnisses fliegen, sich wildflatternd die Flügel zerraufen, das Köpfchen einstoßen. Ach, ach, steckte man selber nicht auch im Käfig? Konnte man selber denn frei fliegen? Und man war nicht blind – leider nicht blind – sah die Gitterstäbe, die einsperrten, sah, fühlte, trug den Frühling in sich und durfte ihn doch nicht erleben! Marie-Luise seufzte so tief, daß Irma sie scheu von der Seite ansah.

Was hatte Fräulein Büchner nur heute?! Die Kinder wunderten sich: die war ja heut gar nicht lustig, machte keinen Spaß wie sonst, stimmte kein Wanderlied an, war nicht gesprächig, wollte, als sie nun Rast machten, nicht mittun beim Spielen – au, die war schlechter Laune!

Sie saßen auf dem durch Kiefernadeln schon trockenen Boden stumm herum und verzehrten ihr Mitgebrachtes. Unendliche Stullen hatten die Kinder bei sich. Die hätten für zwei Ausflüge gereicht, sie aber stopften alles in sich hinein an dem einen Tag. Eine hatte eine ganze Wurst mit, eine andere vier harte Eier, und alle hatten eine Selterflasche voll Saft. Es war, als ob jede Mutter zeigen wollte: »wir haben's, wir geben's für unser Kind, lieber die ganze Woche dafür keinen Belag auf dem Brot!« Aber es waren auch einige wenige, die nichts mithatten, zu ihnen gehörte Trude Schindler. Als Irma mit ihr teilen wollte, lehnte sie kurz ab: »Bin pappsatt.« Und zu der kleinen Levy, die von allen am hübschesten angezogen war – neues rotes Kleidchen, dazu passendes Mäntelchen und weißes Wollmützchen – wurde sie sogar patzig: »Koschre Wurst eß ich nich.« Sagte das so verächtlich, daß die schönen Augen des Judenkindes sich mit Tränen füllten.

Die Lehrerin bemerkte es nicht, sie gab heute nicht acht. Sie starrte zwischen den Kiefern durch hinaus auf die besonnte Fläche des Wassers. Möwen mit schimmernden Flügeln flitzten darüber hin und schaukelten dann in dem leuchtenden Blau mit den weißen Schaumkronen sich übermütig zu zweien. Oh, heute müßte es schön sein, im Kahn zu schaukeln zu zweien, zu schwimmen, Seevögeln gleich – auf, ab – ab, auf – zu zweien, zu zweien! Als atme die bestrahlte Brust des Wassers tief, sehr tief, wie erregt, so war es. Ob Doktor Droste bald wieder Kahn fuhr? Ob er sie dazu einlud? Sie würde »nein« sagen. Denn wenn sie mitfuhr, so ganz allein mit ihm war auf weiter Fläche des Wassers, so fern aller Welt, daß sie vergaß, daß sie Lehrerin war, ob sie sich nicht zu ihm hinbeugen würde, ihm den Mund hinhalten: »Küsse mich –!«

Oh, welche Gedanken! Schamlose Gedanken?! Nein, schamlose nicht – natürliche Gedanken, Gedanken, die einem kommen konnten, kommen mußten, wenn man mit jemandem allein ist, den man so lieb hat. Hatte sie ihn denn lieb? »Ja, ja, ja!« Ganz laut sagte sie das vor sich hin, so laut, daß die Kinder, die ihre Lehrerin beobachteten, anfingen, schallend zu lachen.

»Was lacht ihr denn? Was ist denn los?« Wie aus Träumen auffahrend sah sie sich um.

»O Fräulein, waren Sie komisch!« Die Kinder lachten aufs neue. Was hatte Fräulein Büchner für einen Mund gemacht, und was für Augen! Sie konnten sich gar nicht fassen vor Amüsiertsein, sie faßten sich um, torkelten umher und purzelten übereinander.

Sie waren ausgelassen: Fräulein Büchner lächelte jetzt, jetzt war es erst schön. Eine rannte auf die Lehrerin zu, umfing die mit beiden Armen: »Ich hab' Sie lieb!« Das hatten sie alle. Ihr Fräulein Büchner! Und sie umringten Marie-Luise, drängten sich an sie heran, stießen sich gegenseitig weg, zerrten sich, zankten sich um den Platz an der Lehrerin Seite. Zuletzt gingen sie weiter, Marie-Luise an jedem Arm zwei. Sie ging wie beladen; um sie herum, dicht geschart ihre Herde. Und jetzt blieb ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Röte war in ihre Wangen gestiegen und Heiterkeit wieder in ihre Mienen, die Heiterkeit eines Herzens, das da weiß: ich muß viele lieben. –

Es war nun doch manches noch schön geworden auf diesem ersten Frühlingsausflug. Aber als Marie-Luise ihre Kinder abgeliefert hatte in Berlin, alle Gott sei Dank unversehrt, wenn auch mit verwehten Haaren und ein wenig luftmüde, war sie selber todmüde. Die Knie waren ihr steif, die Lenden wie gebrochen: so konnte man denn doch nicht mehr laufen wie diese Kinder. Und deren Zuneigung war etwas stürmisch geworden; vor Freude, vor lauter Freude. Marie-Luise zupfte an ihrem Kleid – da war eine Falte ausgerissen und hier fehlten Knöpfe. Ihr Haar war verweht wie das der Kinder, kleine goldene Ringel hatten sich aus dem glatten Scheitel gestohlen und flatterten um die Schläfen. Sie hatte den Kopf müde an die Rückwand des Wagens gelehnt, sie mußte ja nun noch einmal fahren, wieder einen Teil der vorigen Strecke zurück, um nach Hause zu kommen. Gut, daß morgen der Unterricht erst auf neun angesetzt war, bis halb sieben konnte sie schlafen! Schlafen, ach schlafen! Sie hielt die Augen schon jetzt geschlossen, den Mund in beruhigtem Atmen leicht geöffnet. Jetzt sah sie wieder jung aus, jünger als sie war, viel jünger als heute am Vormittag. Da waren herbe Linien um ihren Mund gewesen, und die Helle des Tages hatte Spuren gezeigt, die täglicher Beruf und sorgendes Mühen in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Jetzt im abendlich werdenden, verklärenden Schimmer erschien ihr Gesicht ganz glatt. Oh, sie würde sanft schlafen, das war das einzige jetzt, was sie ersehnte. Alles andere, was heut am Tage in ihr wach gewesen – rebellische Gefühle, die sie wie einen Vogel mit zerrauften Flügeln anflattern ließen gegen das Gitter des Käfigs – ging zur Ruhe wie die Sonne, die jetzt, rund und rot, im Westen der Eisenbahnschienen versank.

Wundersam laue, alle Wünsche einlullende Dämmerung. Sie setzte langsam die Füße, sie dachte an nichts weiter mehr, müde, süß müde – da hörte sie plötzlich eine Stimme. Und sie sah in ein Gesicht und war plötzlich wieder mitten in ihrem Begehren, zu schaukeln, zu schwimmen auf weiter Wasserbahn, fern aller Welt. Niemand wußte es mehr, daß sie Lehrerin war, sie selber wußte es auch nicht. Sie neigte den Kopf gegen ihn und lächelte ihn an. Ihr Mund sagte nicht: »Küsse mich«, aber ihre Augen sagten es.

Er schob seinen Arm unter den ihren, als sei das so ganz natürlich. Nun hatte er sie doch richtig erwischt! Er strahlte. Schon viele Züge hatte er einlaufen sehen, immer war sie noch nicht gekommen; aber er hatte gewartet, geduldig gewartet, einmal mußte sie ja doch da sein. Und nun hatte er sie. Er zog ihren Arm nahe an sich, noch näher; sie gingen unterm Dunkel von Bäumen hin, durch deren noch nacktes Gezweig das werdende Mondlicht schimmerte, und die Schatten beider Gestalten verschmolzen in einen Schatten.

»Ich liebe Sie – ich liebe Sie schon so lange«, flüsterte er.

Er wagte es noch nicht, »du« zu sagen, aber sie wagte es. Sie konnte gar nicht anders, sie hatte schon immer mit »du« an ihn gedacht.

»Ich liebe dich auch! Ich liebe dich schon so lange!« Sie sagte das schlicht, wie selbstverständlich. Sie hatte keine Scheu mehr, es einzugestehen. Sie war nicht die Lehrerin mehr, das Fräulein Büchner, nicht die Tadellose, das Beispiel für die Klasse, vor der sie stand, sie war eine ganz andere. Eine, wie noch niemand bisher sie gekannt, eine, die sich selber noch nicht gekannt hatte, eine, die diesen Mann liebte und es als ihr Recht empfand, in seinen Armen zu liegen.

Er hatte sie fest umfangen, sie hielten sich glühend umarmt. Sie gingen noch lange nicht nach Hause. Immer wieder fanden sie eine Bank, auf der, vom Dunkel geschützt, sie sich wieder und wieder küßten. Marie-Luisens Lippen brannten und waren doch frisch, ihre Küsse berauschten den Mann. Er hätte nie zu hoffen gewagt, daß dieses Mädchen, so blond und so kühl, so lieben könnte.

Jungfräuliches Land, das kein Pflug noch gepflügt, nun es erschlossen, blühte es tausendfältig.


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