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Nein, auch mit Marga wollte und konnte sie nicht zusammenziehen. Es war für Marie-Luise nicht ganz leicht gewesen, die Freundin von ihrem Nichtwollen in Kenntnis zu setzen, sie gewissermaßen von einer Unmöglichkeit zu überzeugen. Erst hatte sie sich Bedenkzeit erbeten – es eilte ja nicht, man mußte solchen Schritt auf beiden Seiten erst noch gründlicher überlegen, vorderhand konnte sie auch noch nicht von Gläßners fort. Tante Gläßner war erkrankt, es wäre eine Undankbarkeit gewesen, sie gerade jetzt zu verlassen.
Aber Marga quälte und drängte; sie hatte ihren Sinn einmal wieder ganz und gar auf die Freundin gestellt. Nun Marie-Luise wieder frei war, der Mann fort, fühlte sie sich berechtigt. »Wir sind beide allein, wir haben keinen, der uns näher steht – mir wenigstens kein Mensch näher als du – warum werfen wir unser Los nicht zusammen? Ich will dir ja alles zuliebe tun, ich will dich auch gewähren lassen, ganz wie du willst, komm nur, komm!«
»Nein«, sagte es in Marie-Luise, und laut sagte sie endlich auch: »Nein!« Ganz entschieden. Wenn Marga es denn an all ihren Ausflüchten nicht merkte, daß sie nicht wollte, so mußte es ausgesprochen werden.
Ihren Wunsch nach einem Zusammenleben mit dem Tod der alten Ebertz in Verbindung zu bringen, dazu war Marga Moebius zu stolz – von dem Bazillus der Angst, der die anderen angeflogen hatte, wußte sie nichts – wenn man einsam sterben mußte, gut, dann starb man eben einsam, der Tod ist immer einsam, aber leben wollte sie, leben mit der Freundin, die ganz und gar für sich haben! Sie weinte und bestürmte Marie-Luise mit heißen Bitten; sie war jetzt nicht mehr jung und doch noch genau so jung wie ehemals, als sie Szenen machte um Kleinigkeiten.
»Nein.« Dabei blieb Marie-Luise. Und als die Schauer leidenschaftlicher Heftigkeit, die Stürme von Gekränktsein, Sichverschmähtfühlen und Empörung darüber bei Marga verrauscht waren, erklärte sie: »Du würdest mich ganz verlieren, wenn du mich so fest an dich binden wolltest. Laß mich, ich muß meinen Weg für mich gehen, ganz allein. Ich habe auch Doktor Droste aufgegeben, weil ich fühlte, ich bin nur eine Halbe, wenn ich ihm angehöre. Ich muß frei sein, ganz frei, innerlich und äußerlich. Halb kann ich das nicht erreichen, was mir vorschwebt. Ich kann dann nicht das werden, was ich werden will. Werden muß!« Marie-Luise war fast heftig geworden, indem sie dies sprach, ihre sonst weichen Züge strafften sich und wurden sehr energisch.
Marga sah es und lenkte ein: »Um Gottes willen, ja, ja, dann bleib meinetwegen für dich. Wenn ich nur wüßte, was dir vorschwebt – was willst du denn werden?«
»Eine Lehrerin«, sagte Marie-Luise.
Marga sah sie verständnislos an: »Aber das bist du doch!«
Da verbesserte Marie-Luise sich rasch und ein Lächeln, das ihr Gesicht wieder weich und hell machte, verschönte sie dabei: »Die Lehrerin. Die Lehrerin, so wie sie sein muß. Und wie ich es bis jetzt noch immer nicht bin.« –
Marga Moebius hielt sich selber für keine schlechte Lehrerin und war auch sicher, daß niemand anders sie dafür hielt; sie gab ihre Stunden tadellos, die Schülerinnen lernten etwas bei ihr. Aber wie man so im Beruf aufgehen konnte, sich mit allen Fasern daran hängen, das war ihr unverständlich. Sie sah sich an ihrem Lyzeum um: keine einzige von den Lehrerinnen war so wie Marie-Luise. Aber da sie die Freundin doch nicht ganz verlieren wollte, so ließ sie ihren heißen Wunsch und den Plan, den sie voll Eigenwilligkeit sich ausgedacht hatte, jetzt anscheinend fallen. Es wurde nicht mehr darüber gesprochen.
Und Marie-Luise hatte jetzt endlich die Wohnung gefunden, die sie seit langem suchte. Herr Volbert hatte sich für sie bemüht. Ein Bekannter von ihm, ein alleinstehender älterer Herr, dem mit seiner ebenso alten Haushälterin die Wohnung zu groß wurde, gab ein paar Zimmer ab. Zwei kleine Zimmerchen, aber sie genügten Marie-Luise. Sie hatte zudem das Glück, auf ein paar Bäume zu sehen und auf ein Plätzchen mit Fliederbüschen, die im Frühling wunderschön blühen sollten. So würde sie die Freiheit, die draußen gewesen war, doch nicht allzu schmerzlich vermissen.
Jetzt war es schon wieder Herbst, die Abende bereits empfindlich kühl, aber doch war es ihr in dieser ersten Nacht in der Stadt, als ob sie ersticken sollte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, schwerer Druck lag auf ihrer Brust, sie sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster. Das Lärmen der elektrischen Bahnen, die den ganzen Tag mit ihren Signalen bis hier herauf zu hören gewesen waren, war jetzt verstummt, auch sonst war die Straße nun still, bis auf ein paar Männer, die sich gegenseitig stützten und unmelodisch sangen, und auf einige Pärchen, die unter den Bäumen noch lustwandelten. Nächtlich stiller war die Nacht auch draußen nicht gewesen; da rollten ebenso wie hier in der Ferne Autos, da hatten bis spät nach Mitternacht noch die Hunde der Villen gebellt und, wenn der Mond hell schien, zum Himmel hinaufgeheult; gegen Morgengrauen fingen da die Hähne schon an – sie krähten und krähten – und beim ersten Frühlingstreiben jammerten die Katzen ihre Arien, lang und gräßlich. Aber ein Duften war gekommen aus all den Gärten, die dalagen wie Herzen, die sich öffnen dem Tau, der vom Himmel sinkt gleich liebenden Worten. Ach, hier fiel kein Tau! Hier war's neblige Feuchte, die herabsank und zu Regen wurde. Kältender Regen, und trotzdem war es heiß.
Marie-Luise, die an die freiere Luft draußen gewöhnt war, hielt sich die Schläfen; es pochte und stach darin, sie hatte Kopfschmerzen. Oh, diese Stadtluft! Und die veränderte Umgebung überhaupt! Nun sie nicht draußen mehr wohnte, merkte sie erst, was sie aufgegeben hatte. Wo war hier Wald in der Nähe, wo waren die Felder? Kein Kieferngeruch, kein Atmen der Scholle, kein Duften nach Heu. Und selbst wenn jetzt Schnee hier fiele und alle Pfützen gefroren wären, würde die Nacht doch niemals rein sein. Sie atmete schwer und beklommen, es war ihr, als müßte sie weinen. Beide Hände stützte sie auf die Fensterbank, beugte sich weiter hinaus und rang mühsam nach Luft.
Aber als sie am anderen Tag nicht die endlose Fahrt zur Schule mehr hatte, da war sie doch froh über ihren Entschluß.
Nun war es leichter für sie – rascher hin, rascher zurück – sie sparte unendlich viel Zeit. Und Kräfte. Und war das schön, so ausgeschlafen in die Klasse zu kommen! Kein Hetzen am Morgen, sogar den Kaffee, den sie sich auf ihrer kleinen Maschine selber bereitete, konnte sie in Ruhe trinken; auch altbackenes Brot brauchte sie nicht mehr zu essen, sie konnte es abwarten, bis der Bäckerjunge die frischen Semmeln brachte. Und doch, trotzdem sie jetzt manches bequemer hatte, wurde sie eine Sehnsucht nach draußen nicht los.
Sie traute sich erst gar nicht, die Gläßners zu besuchen. »Du mußt alle Sonntage herauskommen«, hatte weinend Frau Gläßner beim Abschied gesagt. Nun Marie-Luise sie verließ, war sie wieder gänzlich versöhnt: es war am Ende doch das richtige, daß Marie-Luise den jungen Mann hatte laufen lassen, wer ein Mädchen so rasch vergißt, der ist es nicht anders wert.
Hatte Alwin sie denn vergessen? Marie-Luise glaubte es; sie hatte ja nie mehr von ihm gehört. Sie wußte nicht, hatte er seinen Plan wahrgemacht und war als Schiffsarzt jetzt vielleicht schon ein paarmal um die Welt gefahren, oder hatte sich bei einer wissenschaftlichen Expedition verpflichten lassen? Er hatte früher einmal davon gesprochen, daß ihn das wohl reizen könnte; aber als er sie dann gefunden hatte, als er liebte, da dachte er nicht mehr daran, sein Leben Gefahren auszusetzen. Jetzt würde er vielleicht anders denken, frei, ganz frei, auch über sich selber freier verfügen. –
Marie-Luise dachte noch viel an ihn. Sie konnte es nicht lassen, an ihn zu denken, genau, wie man es sich auch nicht abgewöhnen kann, Nahrung zu nehmen. Aber quälender Schmerz war nicht mehr dabei und gar keine Verzweiflung. Wenn sie jetzt allsonntäglich die Gläßners aufsuchte, scheute sie einen Weg an seinem Haus vorbei nicht mehr. Sie schickte einen liebenden Blick zu seinen Fenstern: wie mochte es ihm jetzt wohl gehen? Hoffentlich gut! Sie hätte es selber nie geglaubt, daß sie einmal so an ihn denken könnte: so mit Ruhe. Gott sei Dank! Wie hätte sie sonst wohl fertig werden können mit all den neuen Kindern?!
So viele Kinder! Unendlich viele Kinder. Dreimal zu viele Kinder schienen geboren zu werden, wenigstens hier. Dreimal zu viele Kinder, die sich auf der Straße herumtrieben. Die Schule im Osten war übervölkert. Und doch wurden Klassen zusammengelegt, an Gehältern sollte gespart werden.
Frau Halbhaus war abgebaut worden. Man hatte viel Rücksicht genommen; die Kolleginnen waren auch alle sehr nett gewesen, jede hatte für sie eine Stunde übernommen, wenn sie gar nicht mehr konnte, denn der Mann war krank und das Kind ein Schreihals wie alle Kinder, die klein sind und Zähne bekommen. Kann man keine Nacht ruhig durchschlafen, so kann man auch keine volle Klasse regieren. Frau Halbhaus sah das auch selber ein; es hätte dem Rektor gar nicht so peinlich zu sein brauchen, ihr zu verstehen zu geben, sie täte besser daran, zu gehen. Sie wußte selber: so kann man dich nicht mehr gebrauchen. Sie ging, wie sie glaubte, mit eigenem vollen Einverständnis, aber doch war sie verbittert: so lange an der Schule, der die besten Jahre und besten Kräfte hingegeben, und nun, da man nachließ, wurde man einfach vor die Tür gesetzt! Die Rente, die man ihr bewilligte, konnte ihr nicht über die Verabschiedung hinweghelfen.
»Fräulein Büchner, ich muß Ihnen einen Teil von der Klasse der Halbhaus überweisen – der Schulrat war letzthin sehr unzufrieden mit der Klasse – es ist dies sein besonderer Wunsch. Es tut mir leid, daß ich Ihnen damit nun viel aufbürde«, sagte der Rektor.
Aufbürde – aufbürde? Ach, mit diesen Mädchen, die jede Disziplin verloren zu haben schienen, wollte sie schon fertig werden. Auch mit denen, die, wenn sie nicht gelernt hatten, sich mit der vielen Arbeit zu Hause herauszureden versuchten. Sogar mit denen, die die Schule schwänzten, und dann einen Entschuldigungszettel brachten, den sie selber geschrieben, die Unterschrift der Mutter daruntergemalt. Mit solchem Entschuldigungszettel kam ihr eine nur ein einziges Mal, dann nie wieder. Marie-Luisens Blick senkte sich dann so tief in die Augen der vor ihr Stehenden, daß die zu zwinkern anfing, den Blick nicht aushalten konnte: »Sie guckt einem bis in den Magen.« Die Lehrerin sagte: »Das hättest du nicht selber schreiben sollen. Du wirst mein Vertrauen doch nicht verlieren wollen? Wenn ich kein Vertrauen zu dir habe und du keines zu mir, ist die Schule eine Hölle. Sonst aber ist sie wie ein blauer Himmel, unter dem du sorglos fröhlich sein kannst.«
Fröhlich, fröhlich sein! Das wollte Marie-Luise die Kinder lehren. Verfuhr das Leben denn nicht schon hart genug mit ihnen? Als fünftes, als sechstes Kind vielleicht geboren zu werden, den Eltern wenig erwünscht mehr, ist das nicht hart? Und hart ist es, kleinere Geschwister zu hüten, stundenlang, halbe Tage lang, wenn andere Kinder spielen. Es ist auch hart, den Vater aus dem Wirtshaus herauszuholen, und noch härter ist es, wenn der Vater die Mutter schlägt und die nachher bei den Kindern über den Mann klagt. Mädchen, bei denen zu Hause solche Verhältnisse waren, gab es genug in der Klasse. Aber so traurig wie damals die Trude Schindler, so traurig hatte es doch keine.
An Trude Schindler dachte Marie-Luise noch. Als der rote Zettel noch klebte, war sie jedesmal zusammengezuckt; über die alte Kollegin Melitta Ebertz waren ihre Gedanken zu deren Schützling, dem Theo Schindler geglitten, und dann vom Bruder zur Schwester. Der rote Zettel war längst verschwunden, auch der weiße mit der Bekanntmachung: »Knabe vermißt«; andere Plakate waren angeklebt worden und wieder abgerissen, bei nichts hielt die große Stadt sich lange auf. Immer weiter rollt das Rad der Zeit und rollt mit jeder Umdrehung rascher. Jahre fliegen wie Tage dahin, die Riesenstadt spürt das kaum. Aber die Menschen spüren es; die werden älter.
Was wohl aus der Trude geworden sein mochte? Ob sie jetzt ordentlich war? Über Marie-Luises Gesicht glitt ein zweifelnder Ausdruck: es war schwer für ein Kind aus solcher Umgebung. Trude Schindler und Lenchen Krause, harmlose kleine Lämmer noch damals auf der untersten Stufe, als sie selber noch harmlos vor ihrer Herde stand! Jetzt hatte sie eine sie noch immer quälende Erinnerung an die beiden. Wenn sie zuweilen abends Halbwüchsigen begegnete, die, in langer Reihe sich unterfassend, den Bürgersteig sperrten und da mit dreisten Blicken die Vorbeikommenden musterten, klopfte ihr das Herz. So fing es an. Ob wohl von der Trude Gutes verlautete? Zur Mutter Schindler hinzugehen hatte keinen Zweck. Die Wahrheit würde sie da wohl kaum zu hören bekommen. Aber sie konnte sich ja einmal auf dem Fürsorgeamt erkundigen, etwas würde dort jedenfalls zu erfahren sein.
Als Marie-Luise das von ihrer Schule nicht weit entfernte Bureau betrat, fand sie keine der ihr bekannten Damen vor. Nur ein Fräulein war anwesend, das sich ihr vorstellte als die neue Fürsorgeschwester für diesen Distrikt. Sie nannte mehrere Straßen, die ihr zugewiesen waren. Alle waren Marie-Luise bekannt – böse Straßen – die Straße ihrer Schule gehörte auch dazu und auch die, in der die Schindlers wohnten. Aber von einer Trude Schindler wußte die Neuangestellte nichts; sie wäre zwar gerne bereit gewesen, in den Listen nachzusehen, aber nur die Sekretärin wußte in denen Bescheid. Ihr Amt war es, in die ihr angegebenen Häuser zu gehen und die ihr bestimmten Familien aufzusuchen.
»Oft wird man herausgeworfen. Man wird auch sehr müde von den vielen Treppen, und die Füße tun weh. Aber das ist es ja nicht!« Sie seufzte tief.
Es war Marie-Luise, als sähe sie Tränen in den sehr schönen blauen Augen. »Sie sind wohl erst kurze Zeit hier angestellt?«
»Erst vier Wochen. Oh, es ist so unendlich schwer!« Das Fräulein hob plötzlich beide Hände und hielt sie sich vor die Augen: »Was sehe ich alles! Was muß ich alles sehen!«
»Sie werden sich daran gewöhnen.«
»Nein, daran gewöhne ich mich nie. Nie!« Sie stieß es heraus mit Heftigkeit, fast wie in Verzweiflung. In den schönen Augen, die jetzt starr vor sich hinsahen, stand es wie Grausen.
Marie-Luise sah, daß das Mädchen noch jung war: »Sie sind wohl noch ein wenig jung für diesen Beruf.«
»O nein – schon siebenundzwanzig! Aber wenn ich siebenundfünfzig wäre, wäre ich noch zu jung hierfür. Nein, so habe ich mir's nicht gedacht. Es ist in der Praxis doch ganz anders, als es sich in der Theorie ansieht. Selber in Wirklichkeit so etwas erleben, das ist furchtbar, furchtbar. Ich glaube, ich kann es nicht durchführen. Ich eigne mich doch wohl nicht für diesen Beruf.«
Das glaube ich auch nicht, dachte Marie-Luise, und lächelte ein wenig wehmütig in der Erinnerung an Erlebnisse, die auch ihr sehr schwer zu ertragen gewesen waren. Aber sie gab der Verzagten die Hand: »Nur Mut, Mut! Werfen Sie die Flinte noch nicht ins Korn. Wir dürfen das nicht.«
»Ich bin ganz krank«, klagte die Fürsorgerin. »Mir geht das Herz beinahe in Stücke. Ich habe gerade jetzt einen so traurigen Fall. Ein hübsches, ganz junges Mädchen, das – ach, sie ist trotz allem ein gutes Kind! Ich habe sie vorgestern in die Charité bringen müssen. Es ist ein Jammer. O dieser Vater, dieser Vater!« Sie wischte sich ein paar Tränen ab: »Das arme Lenchen!«
Lenchen –?! Da fuhr es plötzlich durch Marie-Luise und schreckte sie auf, sie erglühte in jähem Interesse. Herr Julius Krause stand auf einmal wieder vor ihr, jener Kerl mit seinem unverschämten Lächeln – da, da stand er ja auf seiner Schwelle – jetzt brüllte er herrisch: »Lene!« – jetzt riß er ihr das Kind weg, zu dem sie Besorgnis und Mitleid getrieben hatten – und jetzt, jetzt folgte es ihm, die Blicke scheu und verängstigt – ein noch unmündiges, schwaches, sklavisch gehorchendes kleines Geschöpf! Und er, er nahm es fest an der Hand, nahm es mit hinein in die Stube und schloß die Tür zu.
»Heißt das Mädchen, von dem Sie sprechen, vielleicht Krause?« fragte Marie-Luise hastig.
Die Fürsorgerin sah sie verwundert an: »Kennen Sie Lenchen Krause?«
»Kennst du mich noch, Lenchen?« fragte Marie-Luise. »Ich bin Fräulein Büchner. Weißt du, die, bei der du zuerst in der Schule warst? Du warst noch ganz klein, du konntest das M vom R noch nicht unterscheiden. Wie, Lenchen, was sagst du?«
Die Kranke hatte etwas gesagt, aber so leise, daß es bloß wie ein Hauch von den schneebleichen Lippen kam. Vergebens beugte Marie-Luise sich tiefer, sie konnte nichts verstehen. Das arme Kind schien zu schwach, um deutlich zu sprechen. Aber in ihren Ohren hatte Marie-Luise den Klang eines Stimmchens, das sie noch nicht vergessen hatte, zehn Jahre lang nicht, unter all den Kinderstimmen, deren Gelärm sie schon umwogt hatte, noch immer heraushörte, weil es das erstemal gewesen war, daß Kinderleid an ihr Herz rührte – »Bei meine Mutti – ich will bei meine Mutti!«
Vielleicht würde Lenchen nun bald dahin kommen, wo ihre Mutter war! Marie-Luise fühlte die Nähe des Todes, hier um dieses Bett wehte es kalt. Stumm legte sie die bunten Anemonen, die sie mitgebracht hatte, vor die Kranke auf die Bettdecke.
»Mit die is nu alle«, sagte eine Stimme laut hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und legte den Finger an die Lippen: »Sssst!« Wer war diese aufgeschwemmte, völlig in die Breite gegangene, trotz aller Schäbigkeit aufgeputzte Person? Wo tat sie die doch gleich hin?
»Sie kennen mir wohl nich mehr, Fräulein? Ich bin Frau Schindler.« Und ganz vertraulich die Hand hinhaltend, lächelte die Schindler ihr noch immer beibehaltenes, sie gutmütig erscheinen lassendes Lächeln. »Seh'n Se, da hab' ich nu vor zehn Jahren bei die ihre Mutter schon hier so ans Bette gestanden, akkurat so – auch Schwindsucht – na ja, sowas vererbt sich! Nur hatte die es doch länger gemacht. Bei's kleine Lenchen geht's nu rapide. Keen Wunder bei so'n Aaskerl von Vater!«
»Sprechen Sie nicht«, flüsterte Marie-Luise.
Die Kranke hatte das dunkle Köpfchen ein paarmal unruhig hin und her gewendet, das laute Sprechen schien sie zu quälen – oder waren es die Gedanken an den Vater, die sie in ihrem Hindämmern störten?
Mit einem Mitleid, das ihr das Herz zusammenkrampfte, sah Marie-Luise auf das junge Wesen. Sie stand ganz still, ohne sich zu rühren. Da sah sie plötzlich große, dunkle, seltsam glänzende Augen, Augen, in denen die Sterbekerzen schon brannten, auf sich gerichtet. Jetzt ohne alle Scheu.
»Fräulein Büchner!« Lenchen Krause versuchte ein Lächeln. Sie versuchte sogar, sich ein wenig aufzurichten, aber das ging doch nicht; mit einem Seufzen sank sie zurück.
»Mein liebes Lenchen!« Marie-Luise streichelte über die abgemagerten Hände und dann auch über das kalte, sehr bleiche Gesichtchen: »Mein liebes Lenchen!« Weiter konnte sie nichts herausbringen. Neben dem Kummer war so viel Zorn in ihr, daß sie fast daran erstickte: o diese Väter, diese Mütter, Eltern, die gewissenlos Kinder ins Dasein setzen, um sie dann vergehen zu lassen, wie dieses Leben hier verging! Scharen von Kindern tauchten vor Marie-Luise auf, zu hunderten, zu tausenden – waren ihrer nicht unabsehbare Herden? Sie treiben sich auf den Straßen herum, eine ungezählte, ungezügelte Masse, sie kommen den Menschen zwischen die Füße, den Wagen vor die Räder, sie bevölkern Höfe und Treppen, erfüllen die mit Geschrei – und sie bevölkern auch die Schulen. Oh, welche Aufgabe! Marie-Luise fühlte: es gilt! Wo keine Mutter mehr ist, oder wo die versagt, da muß die Schule einsetzen – die Lehrerin vor allem. »Gott helfe mir!« Ihre Lippen formten die Worte nicht, aber ihr Herz sprach sie voller Inbrunst. –
Draußen vorm Tor der Charité machte die Schindler sich an sie heran. Marie-Luise hatte die Frau an Lenchens Bett noch zurückgelassen. Jetzt aber setzte die hinter ihr her. Das dicke Weib war ganz außer Atem: »Fräulein, Fräulein!« Marie-Luise blieb stehen; sie hatte die Schindler drinnen so wenig wie möglich beachtet, jetzt konnte sie aber nicht gut anders.
»Fräulein, wissen Se noch, der Krause? Wenn der nich gewesen wär, wär' es mit det arme Kind da drinn' nich so weit gekommen. Unsereiner muß sich von de Polizei in alle Töppe kucken lassen, aber so einer, so einer – na, ich sage Ihnen. Fräulein, wenn Sie alles wüßten!« Sie schickte sich an, einen Redeschwall auszugießen.
Marie-Luise hob abwehrend die Hand: »Lassen Sie, lassen Sie doch – zu spät!« Und sie blickte sehr traurig.
»Fräulein, Sie kümmern sich wirklich«, sagte plötzlich die Schindler und drängte sich näher an Marie-Luise. »Hätt ich det man eher gewußt! Trude hat det zwar immer gesagt, aber ich hörte gar nich drauf hin. Daß Sie das arme Wurm da besuchen und so, nee, wirklich so nett mit die sind, det rechen ich Sie hoch an.«
»Wie geht es denn Ihrer Trude?« fragte Marie-Luise ausweichend.
Die zusammengezogene Stirn der Frau erhellte sich: »Oh, die geht es ganz gut. Die is schon nich mehr in die Anstalt. Sie war erst bei 'ner Dame – privat – die Dame war eine, die mit der Anstalt zu tun hat – der machte sie den Haushalt. Und denn hat die sie zu Leute gebracht mit kleine Kinder. Stücker viere – mit den Ältesten macht sie schon Schularbeiten. Na, Sie müssen't ja wissen, Fräulein, die Trude war helle.«
Marie-Luise nickte: das freute sie aber. Also Trude half sich heraus! Wie in einem befreienden Luftzug wollte sich ihre Seele heben, die hier so schwer belastet worden war. Die Tränen, die sie drinnen am Bett der Armen zurückgehalten hatte, drängten ihr jetzt in die Augen.
Die Schindler sah das und wurde immer zutraulicher: »Ja, die Mächens, die Mächens!« Sie seufzte. »So is et ebent mit sie alle – Jugend hat keene Tugend. Fräulein, wissen Sie was von die anderen Mächens, die, wo damals mit Truden nach Schule gingen?«
Marie-Luise nickte: »O ja.« Und sie durfte schon einigermaßen mit dieser Serie zufrieden sein. Es war nicht umsonst gewesen, daß sie in dem letzten Winter vorm Abgang so viel mit den Schülerinnen das besprochen hatte, was die ergreifen konnten. Oft so ganz verrückte Ideen hatten die jungen Dinger. »Zum Film«, sagte eine. Eine andere, die Leseratte, als sie die gefragt hatte: »Grete, was möchtest du denn wohl werden?« fuhr die aus Träumen auf und sagte verschämt: »Ich möchte Geschichten schreiben.« »Sie will Dichterin werden. Dichterin«, jubelte die Klasse und lachte schallend. Aber auch Grete Schultz war jetzt gut untergekommen. Intelligent war sie ja und hatte viel gelernt durch ihr Lesen. Sie stenographierte und tippte jetzt in einem großen Bureau, Marie-Luise sah sie zuweilen mit ihrer Aktenmappe, die ihr Ansehen verlieh, wichtigen Schrittes dahineilen. Und andere waren Lehrmädchen geworden, um schneidern, weißnähen, putzmachen, plätten zu lernen. Die meisten gingen freilich in ein Geschäft, die großen Warenhäuser waren immer Abnehmer. Hausangestellte werden, das wollten die wenigsten gern, da gingen die, die das Schnell-in-Verdienst-Kommen am nötigsten hatten, lieber in eine Fabrik. Marie-Luise lächelte, als sie zurückdachte: den Kleinen das Abc beizubringen, das war leichter gewesen, als die Vierzehnjährigen in die für sie geeigneten Bahnen zu lenken.
Jetzt sagte sie: »Grüßen Sie Ihre Trude, wenn Sie ihr schreiben, Frau Schindler, es freut mich von Herzen, daß sie auf gutem Weg ist.«
»Die fragt auch immer nach Ihnen. Sie schreibt ja nich oft, aber wenn se mal schreibt, denn fragt se auch. Ach, Fräulein –« eine plötzliche Unruhe zuckte durch das breite Gesicht, dessen aufgeschwemmtes Fleisch vibrierte nervös: »Et wird doch nu so bleiben mit Truden? Und denn –« sie stieß einen so tiefen Seufzer aus, daß es sich fast wie ein Aufächzen anhörte – »wenn det nur nich noch wäre mit meinem Theo! Wo mag der Junge bloß sind? Tot? Oder irgendwo ingelocht? Mit der Ollen, det war gar nich zu seinem Glück. Wär' ich doch man lieber früher bei Ihnen gekommen! Ach, Fräulein, ach, wär ich doch man!«
»Ja, Frau Schindler, Sie haben doch aber nicht gewollt. Ich habe Ihnen oft sagen lassen durch Trude, Sie möchten mal zu mir kommen.«
»Ja, ja, ich weiß, sie hat et auch gesagt. Oh, wie dumm is man doch!« Die Schindler schlug sich vor die Stirn. »Sie können et mir glauben, Fräulein, ich bin oft so aufgeregt, so schrecklich aufgeregt, det ich am liebsten –« sie hielt auf einmal mitten im Sprechen inne und starrte mit ganz verwilderten Blicken wirr um sich. Erst nach einer Pause fuhr sie fort, jetzt aber in einem ganz anderen Ton, wieder in ihrer früheren, gern klatschenden Schwatzhaftigkeit: »Fräulein, wissen Sie denn auch was von die Irma, die mit Lenchen und Truden zu gleicher Zeit bei Ihnen war?«
»Sie meinen die Irma Mielke, die Tochter von dem Friseur? Die hilft dem Vater wohl tüchtig in seinem Geschäft.«
»O ja, die is tüchtig« – Frau Schindler lachte breit, offensichtlich erfreut, etwas mitteilen zu können – »bei die quäkt schon wat Kleenes. Und sechzehn is se man erst!«