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13

Es war nun ausgemachte Sache, daß sie sich heiraten würden. Sie sagten keinem davon; diese Heimlichkeit war etwas so Wundervolles, daß Marie-Luise getrauert hätte wie um verlorenes Glück, hätte nur ein Fuß den Paradiesesgarten ihrer Heimlichkeit betreten oder eine Hand die Hecke gestreift, die ihn schützte. Nur Tante Gläßner wußte davon, vor der konnte man es ja nicht verborgen halten.

Frau Gläßner war gar nicht überrascht, das hatte sie ja längst kommen sehen; sie freute sich herzlich und bedauerte nur, daß die arme Tilde es nicht mehr erlebt hatte. »Die Freude hättest du ihr wirklich noch machen können, Marie-Luischen. Sie hat sich immer solche Gedanken gemacht, wie es dir wohl mal gehen würde. Nun hätte sie dich doch geborgen gewußt.«

Geborgen – geborgen! Würde sie denn geborgener sein, wenn sie verheiratet war, als wenn sie als unverheiratete Lehrerin in ihrem Beruf wirkte?

Es war für Marie-Luise ein schwerer Entschluß, zum Rektor zu gehen und ihn um seine Vermittlung und Fürsprache bei der Schulbehörde zu bitten. Sie hatte damit gezögert und gezögert; es war ihr peinlich, sie erinnerte sich noch ganz genau, wie ablehnend sie dem Rektor einstmals im Konferenzzimmer über Heiraten gesprochen hatte. Ihre Bitte wurde ihr dadurch ein wenig erleichtert, als es bekannt wurde, daß Herr Volbert sich demnächst auch verheiraten wollte. Mit einer ganz einfachen Person, aber sie war gesund, sehr wirtschaftlich und würde ihm seine armen Würmer schon ordentlich erziehen.

»Also Sie wollen doch heiraten?« sagte er und zog die Brauen hoch.

Marie-Luise merkte sofort, auch er erinnerte sich ihrer Antwort von damals. Ein Gespräch folgte, das ihr peinlich war. Herr Volbert verhehlte ihr keinen Augenblick, daß man nach vielfach gemachten wenig günstigen Erfahrungen nicht geneigt war, verheiratete Lehrerinnen im Amt zu behalten. »Das eine schließt eigentlich das andere aus. Bedenken Sie, wie schwer es ist, einem Mann Frau und Hausfrau zu sein, und doch zum Teil – geistig und körperlich – ja, zum größten Teil, fast möchte ich sagen – der Schule anzugehören.«

»Ich weiß es«, sagte sie leise. Aber dann flammte der Gedanke an den Geliebten heiß in ihr auf: wie schwer es auch sein mochte, für sie war es doch leicht. Impulsiv nach der Hand des Rektors greifend und mit einer heftigen Innigkeit, die er noch niemals an ihr wahrgenommen hatte, bat sie: »Sie werden mir helfen, nicht wahr? Sie haben mich ja immer gefördert, von Anfang an. Sie werden mir auch diesmal helfen. Ich kann ja sonst nicht heiraten, ich – ich brauche mein Gehalt!« Tief senkte sie den Kopf.

Er sah, daß ein Zittern über sie hinlief und daß sie sehr bleich geworden war. »Ja, ja, jawohl«, zögerte er noch. »Es ist sehr schwierig. Haben Sie sich's denn auch reiflich überlegt, Fräulein Büchner?«

Da sah sie ihn so an, daß ihm ganz seltsam zumute wurde: »Ich habe mir's überlegt. Ich bitte Sie, ich bitte Sie, tun Sie, was Sie können!« Das schöne Blau ihrer Augen hatte sich verdunkelt, und nun schoß etwas feucht hinein.

Tränen? Es wurde ihm immer unbehaglicher. Diese, gerade diese hätte er sich gern ganz erhalten. Es zuckte ihm etwas durchs Herz: ach! – doch das, das war ja nun abgetan. Aber wenigstens als eine ausgezeichnete, als seine weitaus beste Lehrkraft hätte er sie sich gern ganz erhalten – und nun war auch das nur mehr eine halbe Sache. Wenn er es ihr doch ausreden könnte! Aber sie schien zu fest an dieser Heirat zu hängen. Da half nichts mehr, er kannte ja ihre Energie. So sagte er denn mit einem gewissen Vorbehalt: »Was an mir liegt, daß man Sie im Amt beläßt, Fräulein Büchner, das werde ich selbstverständlich tun. Aber, Sie wissen, wenn die Behörde anders beschließt, dann kann ich natürlich nichts machen.«

»Oh, ich werde von einem zum anderen laufen! Ich werde so bitten, daß man meinem Anliegen Gehör schenkt!« Sie war jetzt wieder ganz mutvoll. »Was Fräulein Spiegel erreicht hat, das hoffe ich doch auch zu erreichen!«

»Fräulein Spiegel –? Na, ja«, sagte er und fuhr sich mit der Hand nachdenklich ums Kinn.

Mit einem Aufatmen verließ Marie-Luise das Zimmer: Gott sei Dank, das hatte sie hinter sich! Der erste Schritt zur Erreichung ihres Zieles war getan. Sehr erfreut schien er freilich nicht, daß wieder eine seiner Lehrerinnen heiraten wollte. Aber ging das denn nicht sehr gut mit Frau Halbhaus?

Als sie an deren Klasse vorüberschritt, um in ihre Klasse zu kommen, hörte sie drinnen einen Höllenlärm. Na, da ging es ja äußerst fidel zu! Wie kam es nur, daß die großen Mädchen so laut waren? War die Lehrerin noch nicht anwesend? Sie machte die Tür ein wenig auf und lugte durch die Spalte. – »Aber – aber!« wollte sie schon sagen, und noch einiges mehr, da sah sie zu ihrem Erstaunen die Halbhaus sitzen und zog sich nun rasch zurück.

Frau Halbhaus hatte, trotzdem sie wie in sich versunken da saß, die Kollegin bemerkt; sie hatte auch die Verwunderung in deren Mienen gesehen. In der nächsten Pause, während die Klassen gelüftet wurden und die Kinder auf dem Hof wie Schwalben schwirrten, gesellte sie sich zu Marie-Luise. Sie schritten beide zwischen den Gruppen der Kinder auf und ab.

»Ach«, seufzte die Halbhaus, »meine Klasse ist jetzt so ungezogen. Da müssen jetzt ein paar Mädels drin sein, die gar keinen guten Geist hineingebracht haben.« Sie schien sich gewissermaßen vor der anderen entschuldigen zu wollen.

»Können Sie sich die nicht mal besonders vornehmen?«

»Aber ich weiß ja gar nicht, wer es ist!« Mit glanzlosen Augen starrte die Halbhaus ratlos drein.

Nun bemerkte Marie-Luise, wie elend die Kollegin aussah; blaß, fast grünbleich, an den Schläfen eingefallen, die Wangen ohne Rundung, der Mund ganz breit gezogen. Sie sah um Jahre gealtert aus. Ging es ihr nicht gut? Marie-Luise war durch Eigenes, das sie vollständig beschäftigte, so eingenommen gewesen, daß sie das nicht eher bemerkt hatte. Nun war sie ganz erschrocken: die war doch glücklich, so unendlich glücklich verheiratet! Frau Halbhaus hatte ihr doch immer wieder versichert, wie gut sie sich alles eingerichtet hätte, sie konnte ruhig in ihre Schule gehen, es lief alles wie am Schnürchen, ihr Mann hatte seine Ordnung, sie hatte ihre Ordnung, und es war ihr auch durchaus nicht zu anstrengend. Und nun sah die trotz allem so erschreckend verändert aus – woher kam das nur?!

»Ich wollte Sie um etwas bitten«, flüsterte Cläre Halbhaus und sah sich dabei scheu um, als fürchte sie, jemand könnte es hören. »Sie sind immer so gefällig, würden Sie mir nicht die Liebe tun und den nächsten Ausflug, den wir machen müssen, statt meiner mit meiner Klasse machen?«

Marie-Luise sah sie ganz verwundert an: »Statt Ihrer? Aber –«

»Es ist eine ziemlich lange Bahnfahrt«, fiel die andere rasch ein, »bis Potsdam. Wir sollen da auch erst nach Sanssouci gehen. Und dann noch eine lange Wasserfahrt. Ich vertrage das immer so schlecht. Ich habe nie gut Bahn fahren können, und auf dem Wasser werde ich seekrank.«

»Aber unsere Seen sind doch kein Meer«, lachte Marie-Luise. »Übelwerden, ach, das bilden Sie sich nur ein!«

»Nein«, sagte die Halbhaus kläglich, »ich bilde mir nichts ein. Tun Sie mir doch den Gefallen, bitte, bitte!« Und sie sah dabei so jammervoll aus, so wie zum Umsinken, daß Marie-Luise es ihr versprach. Nicht gern versprach – wieder ein ganzer Tag, an dem sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend von ihm fern sein mußte! Aber die Kollegin sah wirklich so aus, als ob es nicht nur Bequemlichkeit von ihr sei, daß sie einer Anstrengung aus dem Wege gehen wollte – die war wohl krank? Was mochte der Halbhaus fehlen? Darüber dachte Marie-Luise heute ernstlicher nach. Komisch, wie verändert die aussah! Wenn sie die Kollegin jetzt mit jener verglich, die damals vorm Altar gestanden hatte – ordentlich schön war Fräulein Glückseligkeit – zwei ganz verschiedene Menschen! Und es waren kaum zwei Jahre darüber vergangen. Ob Herr Halbhaus vielleicht wieder leidend war – er hatte vorigen Sommer nach Karlsbad gemußt – oder ob sie pekuniäre Sorgen hatten? Aber er hatte doch sein Gehalt, sie hatte ihr Gehalt, es war ihnen nachzurechnen, daß sie auskommen konnten, sie waren nur zu zweien, sie hatten kein Kind. Kein Kind – aber wenn –! Es durchfuhr Marie-Luise plötzlich etwas wie ein Schreck. Jener Nachmittag bei der Ebertz fiel ihr ein, als Cläre Spiegel noch Braut war und sich bei Kaffee und Kuchen so aufgeregt hatte über die etwas anzüglichen Bemerkungen von Fräulein Naunberg. Die hatte auf Kinder angespielt. »Das kommt bei uns gar nicht vor, wir sind doch nicht leichtsinnig«, hatte die Braut gesagt. »Ich bin auch zu alt dazu.« Aber war man denn zu alt dazu in den Dreißigern, und sicher davor?! –

Marie-Luise nahm der Kollegin den Ausflug ab, wie sie der in der letzten Zeit vor ihrer Verheiratung auch schon manches abgenommen hatte. Die würde ihr sicherlich auch gefällig sein, wenn es mit ihrer Heirat erst so weit war. Wann das war, das war vorderhand noch unbestimmt. Sie wußte, es waren Debatten im Gange, ein Für und ein Gegen – ganz abgesehen von ihrem Fall jetzt – über die Anstellungsmöglichkeit der verheirateten Lehrerin. Es hieß jetzt, geduldig abwarten. Denn eine Heirat ohne die feste Sicherheit ihres Im-Amt-Bleibens –?! Marie-Luise hielt sich die Hände vor die Augen, wenn sie sich eine Zukunft ohne diese dachte.

Doktor Droste hatte sich zuerst dagegen gesträubt, daß seine Braut im Amt bleiben wollte. Das war ja ein Unding; Arztfrau und Lehrerin zugleich! Seine Frau und dann noch dieser elenden Schule angehören?! Nein, das ging nicht an, das gab er nie und nimmer zu! Ganz wollte der verliebte Mann sie besitzen, nicht nur in übrigbleibenden Stunden – nein, alle, alle Stunden mußten ihm gehören. Aber sie hatte es ihm so klar gemacht, wieviel leichter dadurch ihr Anfangen war, und um wie vieles eher sie eine Ehe schließen konnten, daß er kleinlaut wurde. Nun ja, sie war ja klug und klar in ihrem Denken – ihm beinahe zu klug. Aber wenn es ihn auch fast verdroß, daß sie in ihrer Liebe noch überlegsam sein konnte – er hatte eigentlich geglaubt, sie müsse in ihrer Liebe alles, aber auch alles andere vergessen – so gestand er sich doch ein, daß die Erwägungen, die ihn vordem ja auch zurückgehalten hatten, Marie-Luise von einer Heirat zu sprechen, mit seiner Liebe nichts zu tun hatten. Und so fand er sich denn auch sehr bald in das, was sie ihm erst unter zärtlichen Küssen als Ermöglichung von ihrer beider sehnsüchtigem Wunsch zugeflüstert hatte, dann aber in klarer Darlegung gewissermaßen zur Bedingung machte. Ja, es war besser, sie blieb in ihrer Schule, so lange, bis – »bis du ein berühmter Arzt bist mit einer großen Praxis«, ergänzte sie rasch und fiel ihm lachend um den Hals.

Nun waren sie sich einig, nun hatten sie nur noch zu warten auf den endgültigen Bescheid. Dann aber rasch, dann wurde hoffentlich noch vor dem Winter geheiratet! Er war ungeduldig. –

Für Marie-Luise war es gut, daß sie durch die Schule Ablenkung fand. Die hatte Gewalt über sie; eine Gewalt, von der sie sich zuweilen, wenn sie die drückend empfand, gern losgemacht hätte, die sie aber meistens nicht empfand, wenigstens ihrer nicht bewußt war. Die Klasse hatte sich verändert. Ihre besten Schülerinnen war Marie-Luise losgeworden, die hatte sie, nachdem sie sie durch die ersten vier Grundschuljahre geführt, zu Ostern an höhere Schulen abgeben müssen. Nur Volksschulbildung, das stand so recht keinem mehr an. Wer es von besseren Leuten irgend konnte, schickte sein Kind in die Mittelschule, sogar ins Lyzeum. Ins Lyzeum kam Rosa Levy, die Tochter des Produktenhändlers. Schon nach drei Jahren Grundschule wäre die fähig gewesen, in eine höhere Schule zu kommen, sie hätte nicht das vierte Jahr abzusitzen gebraucht, aber der Rektor bezeigte keine sonderliche Lust, gerade diese Schülerin so hervorzuheben. Marie-Luise vermißte die dunklen Augen, die wie in einer schläfrigen Schwermut befangen blickten und trotzdem hell wach dem Unterricht folgten. Es hatte ihr leid getan, als die Kleine im roten Kleid und im weißen Mützchen sich bei ihr mit einem Knicks verabschieden kam. »Ich danke sehr, Fräulein, für alle Mühe. Ich komme jetzt aber ins Lyzeum. Mein Vater macht 'n großes Geschäft auf.«

Wenn es nun auch noch kein großes Geschäft war, das Herr Levy aufmachte, so war es doch keine Produktenhandlung mehr. Marie-Luise sah im Vorübergehen, daß das kleine dunkle Lädchen ausgeräumt wurde und durchgebrochen nach hinten. Alte Kleider, verbeulte Kessel, verbogene Leuchter, alles verschwunden. Geweißt, tapeziert, mit hellgestrichenen Schränken und neuem Ladentisch bekam das Geschäft ein anderes Gesicht.

»Partiewaren – Gelegenheit – unerhört billig –« stand querweg überm neuen Schaufenster und über der Ladentür.

Wer hier in der Straße und in der Gegend hätte es nicht nötig gehabt, billig zu kaufen?! Die kurzen Kleidchen mit den zerdrückten Falbeln, aus einer Seide, die durchscheinend war wie Gaze, gingen reißend ab. Ebenso die Haufen von Strümpfen, die buntfarbigen Schlüpfer, die gestreiften Herrenhemden mit Kragen und Manschetten; einen Schlips gab es gratis. Der Laden verstand es, durch Abwechslung Käufer zu locken, Herr Levy konnte es sich schon erlauben, seine Rosa ins Lyzeum zu schicken und ihr auch Klavierstunde geben zu lassen.

Statt des hübschen Judenmädchens mit der schnellen Auffassungsgabe hatte Marie-Luise jetzt ein paar andere Judenkinder in der Klasse, aber die kamen aus Galizien und lagen trotz einer gewissen Intelligenz noch sehr im Kampf mit der deutschen Sprache. Sie kratzten sich auch sehr viel; die anderen Kinder wollten nicht neben ihnen sitzen. Es war überhaupt so leicht nicht mehr wie einst mit den Kleinen. Die Größeren brachten weit mehr mit herein von dem Geist der Straße. Es war, als hätte die Trude Schindler sich verdoppelt, nein verzehnfacht. Viele Schindlers jetzt.

Aber Trude Schindler war doch die schwierigste. So nachlässig wie sie hing keine in der Bank, stützte den Kopf so schwer und gab so widerwillig, so verdrossen nur Antwort. Und wie schlecht sie aussah, bleichgrün, obgleich sie nicht ganz so häßlich mehr war wie früher. Ihre Gestalt, die untersetzt gewesen war, mehr breit als lang, wurde jetzt schlank mit geschmeidigen Beinen. Auf hübsch bestrumpfte Beine schien Trude überhaupt etwas zu geben, sie war eine Kundin im Partiewarenladen des Herrn Levy.

Als Marie-Luise heute bei Beginn des Unterrichts die Blicke über ihre Schülerinnen schweifen ließ: waren sie alle da, alle sauber und auch in der Miene geordnet? – fiel es ihr auf, daß Irma Mielke verweint war. Die Tochter des Friseurs hatte verschwollene Augen und ihre rechte Wange war geschwollen, ein paar deutlich erkennbare Streifen wie rote Striemen von Fingern zeichneten sich deutlich darauf ab. Ei, das brannte ja jetzt noch ganz ordentlich. »Was war denn los, Irma?« Das Mädchen gestand nichts.

Aber die Antwort bekam Marie-Luise bald. Herr Mielke schrieb ihr einen Brief.

 

»An die Lehrerin in der vierten Klasse.

Sie haben meiner Tochter Irma mit der Nachtigall 'nen Floh ins Ohr gesetzt. Seit lange schon setzt mir die Irma zu, ich soll ihr fliegen lassen, weil Sie gesagt hätten, daß dürf man nich, es wäre grausam, die in Käfig halten. Und ich brauche ihr doch wegen die Kundschaft. Da hat die Irma ihr gestern abend heimlich rausgesetzt, weil es nu sehr schön warm ist. Aber die Katze hat ihr umgebracht in der Nacht, weil sie doch das Fliegen nicht mehr konnte und blind war. Daran sind Sie schuld, und ich werde Ihnen verklagen auf Schadenersatz.

Hochachtungsvoll
Felix Mielke

Rasieren, Haarschneiden, Ondulation.
Spez. Bubikopfpflege.«

 

Also das war Herr Mielke! Marie-Luise mußte laut auflachen. Aber dann wurde sie ernst: sieh einmal, wie gut Kinder doch behalten! Man soll nicht denken, daß sie irgend etwas vergessen. Sie sind empfänglicher Boden, in dem das geringste Samenkorn keimt. Irma Mielke hatte nichts von dem vergessen, was sie damals auf jenem Osterausflug zu ihr gesprochen hatte.

Mußte sie als Lehrerin nun die Partei des Vaters nehmen? Irma durfte den Vogel nicht fliegen lassen – er gehörte ihr nicht, abgesehen davon, daß es sehr dumm war, denn das lange gefangengehaltene, geblendete Tier hatte ja gar nicht mehr fliegen können – oder sollte sie sagen: Kind, dein gutes Herz hat recht getan, dich hat der arme Vogel, im warmen Sommer gefangen, zu sehr gedauert? Sie überlegte, und dann ging sie, als die Schule aus war, zu Herrn Mielke heran. Sie fand ihn im weißen, schon recht angeschmuddelten Kittel übler Laune in seiner dunklen, engen Budike vor. War es nun Zufall, oder fehlte wirklich die Nachtigall, heute war gar kein Geschäft gewesen. Aber als Mielke die blonde Haarfülle sah, erheiterte sich sofort sein Gesicht: Haarwäsche? Das mußten ja Flechten sein bis in die Kniekehlen. Oder am Ende gar einen Bubikopf schneiden?!

Als Marie-Luise sich aber als Lehrerin seines Kindes zu erkennen gab, die weiter nichts wollte, als dem Vater das gute Herz seiner Irma rühmen und deren Handlung dadurch entschuldigen, wurde er in seiner Enttäuschung doppelt erbittert. Er hörte sie gar nicht an, warf rasselnd die große Schere hin, die er, ihre Schärfe probierend, schon zur Hand genommen hatte, und schrie mit überschnappender Stimme: »Tot hau ich die Jöre, tot hau ich ihr! Mir so's Geschäft ruinieren! Und Sie – machen Sie, daß Sie raus kommen! Ihnen verklage ich!«

Der Mann war komisch gewesen in seiner Wut, aber Marie-Luise fand doch kein befreiendes Lächeln. Ach, es war schwer, mit solchen Vätern ins Einverständnis zu kommen, sehr schwer! Und die bittere Erfahrung mit Herrn Julius Krause fiel ihr wieder ein. Wenn Herr Mielke auch nicht so gefährlich war, angenehm war es auch dieses Mal nicht gewesen. Nein, sie hatte mit den Vätern kein Glück. Aber – und jetzt lächelte sie – wenn sie es mit den Kindern nur hatte! –

Glück hatte sie mit denen vorderhand insofern, als es ihr gelungen war, zwanzig aus ihrer Klasse diesen Sommer zur Aufnahme in Ferienkolonien zu bringen. Ein Teil von ihnen aufs Land nach Schlesien, ein Teil an die Ostsee. Die Kinder hatten es ja so nötig, alle bleich, welke Blumen. Die Luft in den übervölkerten Straßen war jetzt unerträglich – wie mußte sie erst in den Häusern sein, die von unten bis oben bewohnt waren in doppelt und dreifacher Überzahl? Die Mütter hatten sie denn auch mit Briefen und Wünschen überschüttet: die Lehrerin, ja, die mußte es doch am besten wissen, wie nötig ihrer Else ein Landaufenthalt tat. Und Hilde konnte dem Unterricht gar nicht mehr folgen, so schwach war sie im Kopf – und Eva hatte es auf der Lunge, wenn sie nicht fortkam, kriegte sie sicherlich Schwindsucht – Annemarie war so elend, so elend, konnte nichts essen, erbrach immerfort – Hede hatte hochgradige Bleichsucht – Grete litt ständig an Gliederweh! Die Lehrerin, die Lehrerin, die war verpflichtet, für alle zu sorgen.

Die Mütter ließen es beim Briefschreiben allein nicht bewenden; obgleich es nicht gestattet war, kamen sie während des Unterrichts in die Schule gelaufen, sie klopften an der Klassentür an, sie wollten sich nicht abweisen lassen, und als die Lehrerin endlich zuschloß, lauerten sie ihr in den Pausen auf, oder wenn sie nach Hause ging. Marie-Luise schickte wieder und wieder zur Schulärztin, brachte selber die Kinder hin, ersuchte, bat, quälte, befürwortete. Alle fortzuschicken, das war unmöglich gewesen, aber sie atmete erleichtert auf, als der letzte große Schub fort war.

Marie-Luise hatte sich Dank erwartet von den Müttern, aber die waren auf einmal, nun, da kaum vierzehn Tage vergangen waren, nicht so befriedigt mehr. Ach, in Schlesien, da war das Essen schlecht, die verstanden da nicht zu kochen, ›Schlesisches Himmelreich‹, dazu gehört'n schlesischer Magen. Immer Klöße, das mag ein Berliner Kind nicht. Und an der Ostsee, da gab es so viele Mücken, und regnen tat es auch immer so viel. »Hätte ich det gewußt«, sagte eine Mutter zu der Lehrerin, als sie der begegnete, »nie und nimmer hätt' ich Annemarien da mitgeschickt, die hätte sich zu Hause besser erholt. Nee, Fräulein, det haben Sie jarnich getroffen!«

Und eine andere war ebensowenig zufrieden, außer sich kam sie in die Schule gerannt: »Meine Ida ist krank geworden, warum haben Se ihr auch aufs Gut verschickt, Fräulein? Det is doch nischt für Ida 'n, für 'n feines Stadtkind!«


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