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Lenchen – Lenchen?!
Ein ganz alltäglicher Name – warum dieser Name sie nur so verfolgte, daß sie wie sinnlos gerannt war, fast in eine Elektrische hinein? Marie-Luise, auf ihrem Nachhauseweg von der Konferenz in der Schule, fühlte sich wie betäubt durch etwas, von dem sie noch nichts gewußt hatte trotz alledem, was das Leben und ihr Beruf, hart und grausam Illusionen zerstörend, sie schon gelehrt hatte. Das war zu schrecklich, zu schrecklich! Sie hatte gesehen, was sie nie für möglich gehalten hätte, gehört, was sie nicht geglaubt hätte, und wenn es auch in allen Zeitungen gleichlautend stehen würde. Jetzt mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört! »Verlorene Töchter«, oh, welch ein Drama! Aber »Verlorene Kinder«, ein noch viel größeres!
Ein unendlicher, sie ganz und gar erfüllender Jammer war in Marie-Luise, so daß sie nichts anderes mehr denken konnte, nichts anderes mehr fühlen. Ihr persönlicher Kummer, den sie heute abend durch die Trübseligkeit der Straßen im Dunkel des Novemberabends zentnerschwer geschleppt hatte, kam ihr fast leicht vor gegen diesen Kummer, den Hunderte, nein Tausende von Müttern fühlen mußten, wenn sie ihre Kinder ansahen. Kinder noch äußerlich, denen aber das bereits verlorengegangen war, das das Leben schön macht, zu einem Garten macht voll blühender Illusionen. Und was auch die Seele und den Körper frisch und jung erhält: die Reinlichkeit außen und die Reinlichkeit innen.
Also darum sah Trude Schindler so welk und so abgemattet aus? O unglückseliges Kind! Ob ihre Mutter davon wußte? Nein, das war undenkbar.
Und Lenchen, was war das für ein Lenchen? Gesehen hatte Marie-Luise das Gesicht der Kleineren nicht. Nein, das konnte doch Herrn Krauses Lenchen nicht sein, um das sie einstmals so gekämpft hatte. Aber Lenchen Krause hatte damals mit den Schindlers in einem Hause gewohnt – ob die noch dort wohnte? Und »elf Jahre« hatte Trude gesagt – könnte das nicht stimmen? Sie erinnerte sich nicht mehr genau an das Alter des Kindes, aber sie erinnerte sich sehr genau noch der großen weinenden Augen, des nervösen, ängstlichen Wesens, der dünnen Händchen, die sich an ihr Kleid geklammert hatten – »Mutti, ich will bei meine Mutti!« Ach, Lenchen Krause hatte ja längst keine Mutter mehr! Ein ungeheures, alles andere beiseite drängendes Mitleid erfüllte Marie-Luise. Ein mutterloses Kind bei einem Vater, dessen sie sich jetzt aufs neue mit Angst erinnerte! Ein Kind ohne Hüterin! Ein Lamm ohne Hirtin, verfallen dem Wolf, der die Herde umschleicht. Ungeschützt im vielstöckigen Haus, das von unten bis oben vollgepfropft ist mit Menschen, deren Ein- und Ausgang man nicht kennt, deren Türen sich schnell schließen, wenn Augen hineinschauen wollen. Eine Welt für sich, in die einzudringen oder die gar zu verstehen eine Unmöglichkeit ist. Teilnahme, Liebe, Fürsorge müßten Türen öffnen können, Herr Krause hatte die Tür zugeschlagen, den Schlüssel umgedreht: bleib draußen.
Aber war sie jetzt nicht älter geworden, erfahrener? Gereifter in dieser kurzen schrecklichen Szene am heutigen Abend, an einem einzigen Abend mehr, als sonst vielleicht Jahre sie hätten reifen können? Jetzt würde sie nicht nachlassen, mit beiden Armen die Kinder umklammern, sie sich nicht entreißen lassen – Gewalt wider Gewalt. Ihre Kinder gab sie nicht her, verteidigte sie, wehrte sich mit all ihren Kräften! Und was sie selber darüber auch auf dem Plan lassen sollte.
Es war eine hohe Exaltation in Marie-Luise, eine völlige Bereitschaft, sich selber zu opfern. Wochen der Ängste, der Zweifel, der Überlegungen: sollst du, darfst du, kannst du? – der Unstimmigkeiten mit dem Mann, den sie so heiß liebte, der sie ebenso liebte und der doch ihr Schwanken nicht verstand, es Mangel an Liebe nannte, diese vielen qualvollen Tage und Nächte hatten den Keim zu dem gelegt, was jetzt plötzlich in ihr aufschoß und Entschluß wurde. Ein ihre Augen mit heißen Tränen und ihr Herz mit unendlicher Wehmut füllender, aber doch unumstößlich gewordener Entschluß.
Marie-Luise war so bleich, daß die Leute, die mit ihr in der Elektrischen, in der Untergrundbahn und dann in der Vorortbahn fuhren, sie mehrmals aufmerksam ansahen. Sie bemerkte diese Blicke nicht, sie war völlig in ihren Gedanken versunken. Und bald mußte es sein, bald, ehe es ihr vielleicht doch wieder leid wurde! Am besten gleich, noch heute! Wie gehetzt rannte sie vom Bahnhof nach Hause.
Er hatte sie heute nicht abgeholt, eigentlich hatte sie das doch erwartet, trotzdem er gesagt hatte: »Natürlich wieder in der Schule! Da werde ich zusehen, womit ich dich mir ersetze.« Seine Miene war unmutig gewesen, sein Ton leicht gereizt. Auch bei ihr zu Hause war er nun nicht.
»Ist Alwin nicht dagewesen?« fragte sie Tante Gläßner.
»Mein Gott, was kommst du so spät?! Nein, er war nicht da. Warum siehst du denn so verstört aus? Ihr habt euch doch nicht gezankt?«
»O nein«, sagte Marie-Luise.
Sie ging ins Zimmer, da stand ihre Teetasse und für ihn auch eine; er war ja meistens den Abend hier. Bald würde er nie mehr kommen! Sie schluckte die Tränen herunter, die ihr brennend aufsteigen wollten. Sie setzte sich an den Tisch, aber Tee trinken konnte sie nicht und auch nichts essen; sie war so voll von Tränen, daß sie übersatt war.
»Ich geh noch einmal fort«, sagte sie dann ins Zimmer von Frau Gläßner hinein und hörte gar nicht mehr, was die noch verwundert ihr nachrief. Bald mußte es ja sein, bald, ehe es ihr wieder leid wurde – am besten gleich!
Und sie lief in die neblige Nacht hinein, die sie wie in Tränen empfing. Von den Dächern der Villen tropfte es, von den sich entlaubenden Bäumen, von allen Büschen. Die Gitter der Vorgärten waren mit langen Reihen von Tropfen beperlt, und Tropfen, immer mehr Tropfen entfielen dem dunklen Himmel, an dem nicht ein einziger Stern zu sehen war. Alles und alle weinten.
Sie kam an das Haus, darin der Geliebte wohnte. Ob er zu Hause war? Ach, er war gewiß ausgegangen, vielleicht in Berlin, saß mit irgendeinem Bekannten beim Glase Bier – nein, Gott sei Dank, er schien doch zu Haus! Durch die heruntergelassene Jalousie seines Parterrezimmers sah sie Lichtschimmer. Nachtglocke stand über dem Schild – es war spät, sie klingelte. Gleich darauf hörte sie im Hausflur Schritte – seine Schritte – jetzt schloß er auf.
»Du –?!« Grenzenloses Erstaunen war in seinem Ton, fast Bestürzung; dann aber helle Freude: »O du, du!« Er umfaßte sie, drückte ihr einen Kuß auf, schob seinen Arm unter den ihren und führte sie so in sein Zimmer. Es war das erstemal, daß sie so spät abends zu ihm kam.
Er hatte gelesen, auf seinem Schreibtisch lag ein medizinisches Buch. Nun umfing er sie abermals und küßte sie stürmisch: »Ich hatte die Hoffnung ganz aufgegeben – nun hab' ich dich doch noch!« Er war freudiger, feuriger. So war er schon lange nicht mehr gewesen: Sie, sie bei ihm! So spät noch! Sie hatte es also doch nicht ausgehalten, ihn heute nicht mehr zu sehen.
Marie-Luise empfing Küsse, die sie nie mehr zu empfangen gedacht hatte. Einen Augenblick wallte es leidenschaftlich in ihr auf: »Mag kommen, wie es will, laß alles andere, gehöre nur ihm« – aber die Lippen fest aufeinanderpressend, die Zähne zusammenbeißend, widerstand sie sich selbst. Sie rang sich ein mühsames Lächeln ab: »Ich bin froh, ich fürchtete schon, du wärest aus. Du wolltest doch zusehen, womit du dir mich ersetztest.«
»Nur Arbeit kann dich mir ersetzen – verletzt darüber, mein Liebchen?« Er sah ihr erzwungenes Lächeln.
»O nein. Darüber bin ich ja glücklich. Denn du mußt wissen, ich – wir –« nun stockte sie doch. Es war ja Wahnsinn, Wahnsinn, daß sie ihn von sich wies, seine Liebe, ihr Glück, ihr ganzes Lebensglück – nein. Es war doch nicht Wahnsinn, es mußte so sein! Und sich etwas weiter von ihm entfernend und der Tränen nicht wehrend, die ihr jetzt aus den Augen wie unaufhaltsamer Regen stürzten, sagte sie: »Alwin, wir müssen uns trennen. Eine Ehe, wie du sie dir wünschst und wie ich sie ja auch wünsche, die kann es nicht sein. Ich bin Lehrerin und muß Lehrerin bleiben – und das vereint sich nicht. Laß uns Schluß machen, Alwin – ich ertrage es nicht! Oh, ich ertrag es nicht mehr!« In einer ihr seltenen Heftigkeit erhob sie abwehrend beide Hände.
Er hatte sie erst fassungslos angestarrt, ohne zu begreifen – und das heute, jetzt am Abend!! Und warum denn auf einmal? Er wurde bleich vor innerem Gekränktsein: war sie sich bewußt, was sie sprach? Sich bewußt, was das hieß, einen Mann von sich weisen, der sie so liebte? Der auch bereit war, noch zu warten – »wenn es denn sein muß«, setzte er zuletzt noch seinen Worten nach.
»Alwin, nein, warten, das hilft nichts. Das verlängert für mich – und für dich auch – nur die Qual. Ich bin Lehrerin, ich muß – und ich will Lehrerin bleiben, darum muß ich aber frei sein. Ganz frei. Ach, ich habe soviel gerungen, habe doch Mitleid mit mir! Du, du hast ja auch darunter gelitten, ich weiß es.«
»Ja, das hab' ich auch«, murmelte er, »aber –« er sprach nicht weiter, stand in sich gekehrt und sah sie nicht an.
Es war ein tiefes, trauriges Schweigen im Zimmer. Marie-Luises Augen strömten, aber sie schluchzte nicht laut, sie weinte still in sich hinein. Ihr waren diese Tränen Erlösung, eine Befreiung von Lasten, die auf ihr gelegen, unertragbar.
Und auch er dachte: es ist vielleicht besser so. Aber schwer wurde es ihm, eigentlich unbegreiflich schwer: ein Mann läßt sich doch nicht einfach so den Laufpaß geben. Und doch war es ihm, als müsse er weinen wie sie. Er starrte vor sich nieder, es zuckte um seinen Mund.
Minuten verstrichen, stumme, und doch so entscheidungsreiche Minuten. Dann aber kam dem Mann auf einmal die Empörung. Aus gekränktem Stolz, aus verschmähter Liebe, aus verletzter Empfindlichkeit heraus wallte es auf, in heftigem Vorwurf rief er: »Du hast mich nie so geliebt, wie ich dich geliebt habe. Du kannst überhaupt gar nicht lieben. Du liebst ja nur deinen Beruf!«
»Daß ich das tue, das gebe Gott«, sagte sie ernst, fast feierlich.
Nun weinte sie nicht mehr. Jetzt waren schon viele Tage seit jenem Abend vorüber, und das war auch gut. Ihre Tränen waren alle ausgeweint, heimlich ausgegossen ins nächtliche Kissen, sie hatte nun keine mehr.
Doktor Droste war abwesend; er würde seine Praxis hier aufgeben, so hatte Frau Gläßner erzählen gehört. Sie war aufgebracht, förmlich empört über Marie-Luise: »Also darum ist er nicht mehr gekommen? Das tut man nicht, einen solch famosen Menschen erst an sich ziehen und ihn dann von sich stoßen ganz ohne Grund! Gott sei Dank, daß das deine arme Mutter nicht mehr erlebt hat, die wäre außer sich gewesen. Nun wirst du nie mehr einen kriegen!« Marie-Luise hatte ihr mitgeteilt, daß sie ihre Verlobung aufgelöst habe.
Ja, das wußte Marie-Luise, daß diese erste Liebe auch die letzte sein würde. Damit hatte sie nun abgeschlossen. Und anderes drängte jetzt auch einem Abschluß zu und nahm sie ganz und gar in Anspruch.
Marie-Luise hatte dem Rektor Mitteilung gemacht von dem, was sie an jenem Abend gesehen hatte. Wie peinlich es ihr war, darüber zu sprechen, diese dunkle Sache mußte ans helle Licht.
»Sie glauben also wirklich, daß Sie sich nicht getäuscht haben?« Der Rektor saß am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, aber er sagte heute nichts über die Schulter weg, sondern er hatte sich umgedreht auf seinem Stuhl und sah ihr voll ins Gesicht. Dieses Gesicht war nicht so klar und freundlich wie sonst, es war erregt, zwei rote Flecke brannten auf den Backenknochen. »Haben Sie wirklich eine Schülerin Ihrer Klasse erkannt?«
»Ja, Trude Schindler. Ganz bestimmt.«
»Und die andere? Wer war das kleinere Mädchen? Auch eine von Ihnen?«
»Jetzt nicht mehr. Aber ich betrachte sie noch immer wie eine von den Meinen. Ich fürchte, es war die kleine Krause. Sie wohnte und wohnt noch im selben Haus mit der Schindler.«
»Aha, das Töchterchen von dem Kerl, der Sie früher mal so belästigt hatte – haben Sie denn jetzt keine Furcht?«
»Gar keine.« Das Gesicht der Lehrerin wechselte die Farbe, die Röte verschwand und die Erregung auch. Es war jetzt sehr bleich, sehr entschlossen, erschien wie das aus Marmor gebildete Antlitz einer klassischen Kämpferin.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir werden die Sache der Polizei anzeigen müssen. Herrgott, eine jetzige Schülerin und eine frühere Schülerin aus meiner Schule! Jugendschutz – Jugendschutz! Wie soll man solche Jugend schützen?!« Der Rektor fuhr sich in das schon ergraute Haar. »Wenn Sie wüßten, wie schrecklich mir das ist, ganz schrecklich!«
»Mir auch«, sagte Marie-Luise mit zitternder Stimme.
»Machen Sie sich darauf gefaßt, Fräulein Büchner, daß Sie vorgeladen werden.« Er sprang plötzlich vom Stuhl auf, streckte die Hand aus und nahm ihre eiskalte eine ganze Weile in seine warme: »Es tut mir sehr leid, daß Sie, gerade Sie nun so in diesen Schmutz mit hineingezogen werden. Ich hätte Ihnen das gerne erspart.«
»Es geht doch nicht anders«, sagte Marie-Luise, »ich habe aber eine Bitte: ehe Sie die Sache an die Polizei weitergeben, möchte ich zu der Mutter gehen. Ich will mit der sprechen. Ach, lassen Sie mich's versuchen! Vielleicht, daß wir dann manches umgehen können. Das Kind – die Polizei – ach, das wäre zu schrecklich! Vielleicht, daß ich –« es quoll ihr etwas in die Kehle, sie konnte nicht weitersprechen.
Der Rektor lächelte fast, und dann sagte er resigniert: »Ich habe nicht viel Hoffnung. Ich bin schon zu lange im Amt, ich weiß Bescheid. Warum wollen Sie sich einer eventuellen Unverschämtheit aussetzen? Die Mutter wird Ihnen noch grob kommen. Lassen Sie diese Unterredung lieber!«
Sie schüttelte den Kopf: »Ich gehe.«
»Sie sind tapfer!« Es klang fast wie Bewunderung.
Marie-Luise zog rasch ihre Hand zurück, weil der Mann sich plötzlich so darüber beugte, als wolle er sie ihr küssen.
»Tapfer, tapfer«, hatte Herr Volbert gesagt – war sie denn wirklich tapfer? Marie-Luise fühlte sich gar nicht tapfer, es war gut, daß niemand es merkte, wie schwach sie war. Sie hatte schwer um den Entschluß ringen müssen – aber die arme Mutter! Frau Schindler war gewiß kein Tugendspiegel und traurigerweise in ihrer Familie an manches gewöhnt – aber wenn sie dieses erfuhr, dieses?! Sie würde heulen und schreien, sich die Haare raufen. Oh, unglückliche Mutter! Es war ein schrecklicher Gang. Aber wenn die arme Frau es zuerst durch die Polizei erfuhr, dann war es noch viel schrecklicher. Und Trude würde natürlich auch weinen und schreien, sie hatte ja gar keine Ahnung, daß sie beobachtet worden war.
Trude Schindler saß in der Klasse wie immer, bleich und müde. Marie-Luise hatte nicht zu ihr gesagt: »Ich habe dich gesehen vorm Kino«, auch nicht gefragt: »Wer war das kleine Mädchen, das du bei dir hattest?« Sie hatte sie auch nicht angesehen mit Blicken, die durch und durch dringen; ihr Auge hatte Trude Schindler nur gestreift. Aber immer wieder mußte ihr Auge sie streifen, durch einen raschen, flüchtigen Blick mußte die Lehrerin sich gewissermaßen versichern, daß dieses erst halbentwickelte Mädchen mit der gleichgültig-stumpfen Miene wirklich jene war, die sie belauscht hatte. O Gott, Trude, Trude! Sie hätte sie anpacken mögen, schütteln: »Was hast du getan? Kind, Kind, deine einzige Entschuldigung ist, daß du noch gar nicht weißt, was du getan hast.« –
Trude war besonders müde und abgespannt und erschien dadurch noch gleichgültig-stumpfer. Sie hatte nun schon ein paar Nächte gar nicht mehr schlafen können: der Theo gab so an. Kaum, daß sie die Augen geschlossen hatte, fing der an sich zu wälzen und zu stöhnen, schlug mit den Armen um sich, strampelte mit den Beinen, und wenn sie ihn dann zu fassen kriegte, ihn festhalten wollte, dann packte er sie plötzlich so an, würgte sie an der Kehle, zwang sie nieder mit solcher Gewalt, daß sie nur noch wimmern konnte: »Bring mir nich um!« Aber am Morgen wußte er nichts mehr davon. Er lachte sie aus und schenkte ihr einen Groschen. Sie aber wollte nicht mehr bei ihm schlafen – mochte er denn lieber das Bett allein haben – sie rückte sich zwei Stühle zusammen, legte sich auf die lang und schob sich unter den Kopf ihren Schulranzen als Kissen.
»Sie kommen wegen die Trude?« sagte Frau Schindler, als die Lehrerin vor ihr stand, und blickte argwöhnisch: das Fräulein kam selber? Das war doch komisch, das hatte was zu bedeuten. Aufgepaßt! Frau Schindler war immer auf der Hut, sie konnte ja nie wissen, ob nicht was los war, entweder mit ihm, Schindler, mit Piefken oder mit der Großen, der Alma. Aber nur immer manierlich, immer höflich geblieben, damit kam man am weitesten. Sie hatte sich ein Lächeln angewöhnt, das, freundlich den Mund breitziehend, ihrem Gesicht einen gutmütigen Ausdruck verlieh. So lächelte sie auch heute.
Marie-Luise hatte sich die Frau, von der sie sich wenig Gutes versprochen hatte, ganz anders vorgestellt. Dies hier war ja eine ganz gutmütige, ordentliche Frau, die auch anständig aussah in einer noch ziemlich sauberen, großen Kittelschürze. Alles was darunter war, die schwabbelige Fülle und das zerrissene und nicht geflickte Kleid, sah sie nicht. Daß die Schindler, trotzdem es schon Winter war, keine Strümpfe anhatte – ihre Füße steckten nur in niedergetretenen Pantoffeln – das war weiter nicht verwunderlich, arme Leute sparen an Strümpfen.
»Daß das Fräulein sich selber herbemühen, det is doch 'ne große Ehre für unse Trude«, sagte die Mutter Schindler und bot einen Stuhl an. Und dann schmeichelte sie: »Ja, was unse Trude is, die kann nich genug erzählen von ihrem Fräulein Lehrerin, und wie lieb sie die hat. Die ginge for Ihnen durchs Feuer.«
»Eben man runter auf die Straße – ich wer' ihr gleich mal rufen gehn.« Bereitwillig wollte die Frau zur Tür.
Da legte Marie-Luise die Hand auf ihren Arm: »Nein, bleiben Sie bitte hier. Jetzt können wir Trude nicht brauchen. Was ich zu sagen habe, sage ich Ihnen allein – ich, Trudes Lehrerin, Ihnen, der Mutter!«
Das gutmütige Lächeln auf dem breiten Gesicht wurde noch gutmütiger: »Nanu, Trudeken is doch wohl nich ungezogen gewesen?« Der Ton war der einer Mutter, die eine kindische Unart vermutet und entschuldigen möchte.
»Es wird mir furchtbar schwer, es Ihnen zu sagen – bitte, setzen Sie sich auch, Frau Schindler!« Marie-Luise machte eine kleine Pause. Ach Gott, die arglose Mutter! Sie mußte sich ordentlich einen Ruck geben: »Ich habe nämlich Ihre Trude im Verdacht, daß sie bummelt.«
»Bummelt – ach nee, was Sie sagen! Alma bummelt wohl mal, det is ja leider so mit die Mädchens, wenn sie aus Schule sind, da kann so'ne arme Mutter wie ich nischt bei machen, und wenn man noch soviel ermahnt und mit'n Besen dreinhaut. Aber Trudeken, det Kind, det noch nach Schule geht – man'n kleenes, noch unansehnliches Mädchen – nee, son'n Osterlamm, det bummelt doch nich!« Sie schien völlig ruhig, vollkommen von der Unschuld ihrer Jüngsten überzeugt.
»Ich meine auch kein Bummeln, wie Sie es vielleicht meinen. Ach, liebe Frau –!« Bei der völligen Ahnungslosigkeit dieser Mutter wurde es Marie-Luise noch schwerer, ihr das Unerhörte mitzuteilen, zu berichten, was sie von Trude gehört und gesehen hatte. Sie tat das in den schonendsten Worten.
Und Frau Schindler schrie und heulte auch nicht gleich auf, wie Marie-Luise erwartet hatte, daß sie tun würde. Das einzige, was sie äußerte, war: »So'ne verflucht dumme Jöre!« Dann erst setzte sie sich auf ihrem Stuhl zurecht, streckte ihre dicken Beine, die wie Stempel waren, vom Knöchel bis zum Knie in gleicher Stärke, etwas von sich ab, nahm ihre Kittelschürze hoch und verbarg ihr Gesicht darin.
Weinte sie? Ach ja, das war wohl zum Weinen. Es mußte furchtbar für die Mutter sein, wenn sie es auch mit bewunderungswürdiger Fassung trug. »Liebe Frau Schindler, ich will ja auch gar nicht anklagen, ich entschuldige sogar – wer weiß, in was für Gesellschaft das unglückliche Kind geraten ist!« Marie-Luise legte mitfühlend ihre Hand auf die Schulter der Schindler: »Immerhin besser doch – nicht wahr? – ich hab' es Ihnen gesagt, als daß die Polizei Ihnen so auf einmal über den Hals kommt.«
»Polizei – warum Polizei?« Nun schnappte die Frau nach Luft.
»Unser Rektor will Anzeige machen – er muß es, seiner Schule wegen. Es muß ganz genau zur Untersuchung kommen, ob nicht etwa auch noch andere Mädchen –«
»Hören Se auf, hören Se auf!« Die Frau hatte die Schürze sinken lassen, sie brach in ein schallendes, nicht endenwollendes Gelächter aus: »Da schlag einer lang hin! ›Ob nich auch andere Mädchens‹ – na, wo werden se nich?! Jede sucht sich was, auch in dem Alter schon. Schön is das nich, Fräulein. Sie haben es besser gehabt. Aber unsere Töchter, pfui Deibel –« sie spuckte aus – »die müssen früh anfangen. Die Welt is sehr schlecht, und das Leben drin is sehr schwer!« Sie brach plötzlich ihr Lachen ab und blickte starr vor sich hin.
Das Lachen hatte Marie-Luise verletzt, dieser letzte Ton versöhnte sie wieder. »Ihre Trude wird gerettet, sie ist ja noch so jung. Nur fort aus diesen Straßen, von diesem Pflaster weg! Das klebt wie Pech. Sie sollen mal sehen, ein paar Jahre nur weg, und Ihre Trude –«
»Nee, Fräulein«, unterbrach die Frau, »man keene Mühe nich. Trude bleibt wie se is und wat se is, sie hat es mit der Muttermilch eingesogen. Ha, Jugendschutz! Fürsorge – se soll natürlich in Fürsorgeerziehung, ich seh schon, die winkt. Aber Fürsorge – was kann die Fürsorge? Det sagen Se mir man bloß!«
»Oh, viel kann die: andere Menschen, ganz andere Umgebungen, völlig andere – kein Stuhl, kein Schrank, kein Bett, nichts, gar nichts, was an Früheres erinnert! Und ein Garten, gesunde Luft, unschuldige Spiele abwechselnd mit Arbeit, und eine Harmlosigkeit, die natürlich hier nicht mehr existiert!«
Die Schindler hatte sich's ruhig angehört, bei jedem Wort nickend. Aber dann schüttelte sie verneinend den Kopf: »Nee, is nich!« Was sie damit sagen wollte, wußte Marie-Luise nicht recht. »Sie haben es gut gemeint, Fräulein. Sie wissen nur noch nich, Fräulein, wie viele schlechte Menschen es gibt, wir sind noch lange nicht die schlechtesten. Da is der Krause hier im Haus, der is doch viel schlechter. Daß der sein Lenchen schickt, so 'n Kind, det is mehr als gemein! Der Trude wer' ich eine runterhauen. Daß sie nich besser aufgepaßt hat, det ärgert mir sehr. Aber im übrigen, aufhängen kann ich mir nich drum.« Die Schindler raffte ihre schwabbelige Fülle vom Stuhl, zog ihre alles verbergende Kittelschütze herunter und reichte Marie-Luise die Hand. Ihr Mund zog sich breit in dem angewöhnten gutmütigen Lächeln: »Sehr freundlich von Ihnen, Fräulein, daß Sie gekommen sind!«