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19

In die Schule, in der Melitta Ebertz fünfunddreißig Jahre unterrichtet hatte, war die Kunde von ihrem Tod gefallen gleich einer Bombe. Hühner, vom Habicht geschreckt, so flatterten die Lehrerinnen durcheinander, entsetzt aufgescheucht von solchem Tode. Das war ja furchtbar! Wenn man sich dieses Ende der einsamen Kollegin vorstellte, konnte einen das Grauen packen. Nein, lieber nicht so einsam bleiben! Es war zu gewagt, ganz für sich zu leben. Fräulein Düsterweg, die immer bedauert worden war, daß sie für alte Eltern sorgen mußte, wurde jetzt fast beneidet: die hatte doch wenigstens jemanden bei sich gehabt. Und Frau Halbhaus, die geborene Spiegel, über deren törichte Heirat man mehr als einmal die Achseln gezuckt hatte, wurde auch beneidet. Der Mann war zwar kränklich, und das kleine Kind schrie so viel in der Nacht, daß sie kaum Schlaf kriegte, aber besser war es doch immerhin, in Familie zu leben, als mutterwind allein. Fräulein Naunberg und das Fräulein Düsterweg, dessen alte Eltern endlich fast auf einen Tag starben, entschlossen sich schnell, zusammenzuziehen. Fräulein Naunberg hielt es zwar mit Theater und Konzerten, Fräulein Düsterweg nur mit Fußwanderungen. Die Naunberg hatte Sinn für Eleganz, ein gepflegtes Äußeres war für sie Lebensbedingung – sie beurteilte auch die Menschen danach – Fräulein Düsterweg war jetzt erst recht Naturbursche, kleidete sich auch in Berlin in Lodenrock und derbe Stiefel und sparte ihr Geld für die Sommerreise auf. Wenn die Naunberg von einer Aufführung der Staatsoper schwärmte oder begeistert erzählte, wie himmlisch Kreißler gestern gespielt hatte, so sprach sie von ihren Plänen, in denen sie Rosengarten und Marmolata, und später vielleicht sogar dem Langkofel auf den Leib rücken wollte. Der Traum ihrer Nächte waren die höchsten Berge. Fräulein Naunberg und Fräulein Düsterweg paßten also zueinander ungefähr wie der Daumen aufs Auge, aber das half nichts, man mußte sich eben miteinander schicken; unterhalten war ja nicht Bedingung, Bedingung war nur das Zuzweiensein.

Fräulein Zimmermann dachte ernstlich daran, sich wieder aufs Land zurückzumelden. Da war es harmloser, nicht so unsicher; wenn man auch als Mensch den Gedanken an das Sterben gewohnt sein mußte, so zu sterben, da sei Gott vor. Es war geradezu Leichtsinn, in Berlin für sich allein zu wohnen.

Die Junglehrerin, die Frau Halbhaus noch immer vertrat, und ein paar andere Junglehrerinnen, die zur Zeit an der Schule beschäftigt wurden, teils aushilfsweise, teils um zu hospitieren, waren noch jung genug, um nicht so besorgt an die Zukunft denken zu müssen.

Keine von allen aber hatte der Tod von Melitta Ebertz so erschüttert wie Marie-Luise. Sie dachte weniger als die anderen an sich dabei, eine Furcht beschlich sie auch nicht, aber sie dachte so sehr an die alte Kollegin. Dieser beim ersten Kennenlernen nicht liebenswürdige und doch herzensgute, eigentlich ganz alltägliche und doch so sonnensehnsüchtige Mensch war ihr lieber gewesen, als sie selber gewußt hatte. Oh, wie innig hätte sie der Armen einen besseren Abschluß ihres an Freuden nicht gerade reichen, aber an Mühen sehr reichen Lebens gewünscht! Fünfunddreißig Jahre Schuldienst! Wenn eine nach fünfunddreißig Jahren ein bißchen einseitig geworden ist, nur auf wenige Interessen noch eingestellt, wen darf das wundernehmen?

Marie-Luise weinte in dieser Zeit viel. Sie weinte um das Leben, das draußen in dem Haus, das so frei lag, daß es ungehinderte Aussicht hatte auf Sonnenaufgang und auf Sonnenuntergang – ein Fenster nach Osten, ein Fenster nach Westen – nun erloschen war. Und sie weinte, daß sie Alwin Droste nun nicht mehr sah, daß die Sonne ihrer Liebe, die lange Monate so hell geschienen hatte – o glückliche, glückliche Tage! – für sie jetzt erloschen war. Er war nicht mehr da. Rasch fort, alle Brücken abgebrochen. Hatte er's im Trotz getan, im Zorn über sie, oder nur im Kummer? Ach, möchte er doch böse, sehr böse auf sie sein, damit er sie rascher vergäße! Sie freilich würde ihn niemals vergessen. Und wenn sie fünfunddreißig Jahre im Schuldienst gewesen sein sollte – noch länger – und wenn es zu Ende ginge mit ihr, sie sich vielleicht danach sehnen würde, die Welt nicht mehr zu sehen, er würde doch immer noch die Erinnerung sein, auf die sie glänzenden Auges zurückschaute. Aber freilich, bis dahin war es noch lange hin. Und die Erinnerung an ihre Liebe war noch viel zu sehr mit Schmerz durchsetzt.

Als sie zum erstenmal sich in die Nähe seines Hauses getraute – vielleicht, daß er doch noch da war, Tante Gläßner hatte nichts ganz Bestimmtes gewußt – schlich sie wie jemand, der auf verbotenen Wegen geht. Scheu sah sie sich um: kam er auch nicht? Sie hatten sich's beide gesagt, daß sie sich nun nicht mehr sehen wollten – wozu den Schmerz immer wieder erneuern? – und doch konnte sie es nicht hindern, daß ihre Augen ihn suchten und daß ihr Herz so sehnsüchtig nach ihm schrie. Wie Verzweiflung kam es über sie, als sie ihn nicht sah, als sein Schild an der Tür verschwunden war, als an seinem Fenster die Jalousien heruntergelassen waren, auch am hellen Tag.

Und dann kam ein anderes Schild an die Haustür – ein Zahnarzt zog ein – die Jalousien waren hochgezogen, ein Fremder ging da aus und ein. Sie glaubte es nicht überleben zu können. Sie hatte es ja selber so gewollt – sie mußte frei sein – aber nun, da sie sich frei gemacht hatte, ihr Glück hingegeben, kam ihr das Opfer, das sie für das Freisein gebracht hatte, doch zu groß vor. War dieses unglückselige Mädchen, das den Anlaß zu ihrem plötzlichen Entschluß gegeben hatte – ach nein, plötzlich war dieser Entschluß nicht gekommen, er war schon immer, schon lange dagewesen – war diese Trude mit dem verkommenen Gesicht und der noch verkümmerteren Seele es wohl wert, daß sie sich für die aufopferte?!

Aber als die Schindler von ihr Abschied nahm – merkwürdig, darauf hatte das Mädchen bestanden, es wollte seiner Lehrerin durchaus Lebewohl sagen – waren es nicht Zorn und nicht Abscheu gewesen, die sie erregten. Aus den etwas schrägstehenden, grünlichbraunen, glanzlosen Augen, die in dem blassen Gesicht ihr oft so unverständlich gewesen waren, blickte heute etwas zu ihr auf, das ihr verständlich war, und ihre Seele wurde bewegt: so schlecht war dieses Kind also doch nicht, daß es nicht einer besseren, herzlicheren Empfindung fähig gewesen wäre? Es schien Trude leid, aufrichtig leid, sich von ihr zu trennen. Und solche bessere Empfindung erweckt zu haben, war das nicht doch eines Opfers wert? Marie-Luise legte, ihrer warmen Regung rasch folgend, ihre Hand auf den heute wieder ganz struppigen ungepflegten Kopf: »Ich bin in Sorge um dich, Trude. Von Herzen bekümmert. Du mußt nun fort, aber ich hoffe, es ist zu deinem Besten. Gib dir Mühe, Kind, werde brav, damit ich mich freuen kann, wenn wir uns mal wiedersehen.«

»Auf Wiedersehn«, sagte Trude leise. Sie senkte den Kopf tief, und dann hielt sie sich plötzlich ein angegrautes, zerknülltes Taschentuch vors Gesicht und weinte heftig.

Noch nie hatte Marie-Luise Trude Schindler weinen sehen; durch alle Schuljahre hindurch nur immer das gleiche stumpfe, und wenn ihr etwas nicht paßte, verdrossene Wesen. Nun aber weinte sie, und es war kein kindisches Weinen mehr.

»Ist dir bange, Kind? Nein, du brauchst nicht bange zu sein!«

»Bange bin ich doch nicht«, schluchzte Trude. »Nee, darum is es doch nich!« Und sich mit der einen Hand noch immer das Taschentuch, das so klein war, eigentlich nur ein schmutziges Läppchen, unter dem die Tränen vorkugelten, vor die Augen haltend, streckte sie die andere Hand nach ihrer Lehrerin aus: »Auf Wiedersehn, Fräulein!«

Also, es war doch nicht umsonst, wenn man Liebe gab und Geduld! Man mußte nur sehr viel von beiden geben. Aber sie würde es versuchen, zu geben, immer noch mehr zu geben, jetzt hatte sie ja nichts anderes mehr, was man von ihr forderte. Mitten in ihrem Jammer um Verlorenes fühlte Marie-Luise es doch wie eine leise Beglückung: nein, arm war sie noch nicht, sie hatte ja ihre Kinder. Und einsam war sie auch nicht. Sie begriff es darum nicht, warum die Kolleginnen so über Einsamkeit klagten und vor der schauderten. Sollte daran bloß der Tod der guten Ebertz schuld sein?

Marie-Luise hatte den Entschluß gefaßt, von den Gläßners fortzuziehen. Es erschien ihr notwendig, sich in Berlin eine Wohnung zu suchen. Als die Mutter lebte, hatten sie noch deren Pension, mit ihrem Gehalt zusammen war gut damit auskommen, nun lief ihr aber die Fahrt zur Schule zu sehr ins Geld: Vorortbahn, Untergrund und noch Elektrische, nein, das wurde zu teuer. Tante Gläßner widersprach zwar heftig: »Du brauchst uns gar keine Miete zu zahlen. Wenn du nur bleibst!« Aber das wollte Marie-Luise nicht. Sie gab vor, der Weg sei ihr auf die Länge der Zeit denn doch zu weit und zu anstrengend. Und damit sagte sie keine Unwahrheit. Der Mutter wegen hatte sie die Unbequemlichkeit der weiten Entfernung gern auf sich genommen, jetzt aber fühlte sie die Ermüdung. Es kam wie Abspannung über sie, wenn sie eine Fahrgelegenheit nach der anderen benutzen, sich drängen und schieben lassen mußte. Und wozu soviel kostbare Zeit verlieren? Aber Ermüdung und Zeitverlust waren es nicht allein, die sie in die Stadt trieben, am meisten das: »Du magst, du kannst nicht länger mehr hier draußen wohnen, weil dich alles hier immer wieder zu sehr erinnert! Hier bist du mit ihm gegangen, hier auf dieser Bank, an der du jetzt scheu vorbeiläufst, hast du mit ihm gesessen! Hier ist die Straße, in der er wohnte, hier sind die zwei Fenster seines Zimmers – hier, hier an dieser Ecke stand er, wenn er dich von der Bahn abholte, wenn er schon von weitem winkte, leuchtende Freude in seinem Gesicht!«

Als es an der Schule bekannt wurde, daß Fräulein Büchner in Berlin eine Wohnung suchte, boten sich gleich mehrere Kolleginnen an. Und Fräulein Naunberg dachte: Schade, daß ich mich schon mit der Düsterweg eingelassen habe, und sagte das auch: »Mit Ihnen wär's mir zehnmal lieber gewesen, Fräulein Büchner. Wir hätten viel besser zusammengepaßt!«

Wer weiß, dachte Marie-Luise und lächelte heimlich. Sie konnte jetzt zuweilen wieder ein wenig lächeln und empfand das dankbar. O Gott, eine Gnade, einst nicht nur lächeln, nein, auch lachen zu können! Noch konnte sie es nicht. Aber sie fragte sich doch: werde ich's nicht wieder lernen?

Auch Fräulein Blank und Fräulein Zimmermann dachten daran, der Kollegin den Vorschlag eines Zusammenziehens zu machen, das heißt, Fräulein Blank in ihrer stillen, bescheidenen Weise wagte es nur anzudeuten, die Zimmermann dagegen rückte energischer damit heraus: »Ziehen wir doch zusammen! Ich graule mich ja so, ich graule mich ganz entsetzlich. Dies Berlin steckt ja voll von Verbrechern, man ist seines Lebens nicht mehr sicher.« Auch darüber lächelte Marie-Luise.

Aber als Frau Halbhaus sie bat: »Ziehen Sie zu uns«, lächelte sie nicht. Von ihrer ohnehin jetzt knapp gewordenen Wohnung – Mann, Frau, Kind – wollte die Halbhaus noch abgeben? Und das beste Zimmer? »Es ginge ganz gut«, sagte Frau Halbhaus. »Unser Kind ist ja noch ein so kleines Ding, das nimmt keinen Platz weg. Sie hätten das schöne große Zimmer, Sie könnten auch Möbel mitbringen, ich bringe dann von meinen Möbeln auf dem kleinen Boden über der Küche unter oder verkaufe was. Ach, ich werde es ja nicht durchführen können, an der Schule zu bleiben, und wenn ich nicht mehr an der Schule bin, dann muß ich doch zusehen, daß ich mir die Miete erleichtere.«

Also ein Zimmer vermieten, sich selber auf das mindeste beschränken?! Im Traum der Nacht erschien Marie-Luise noch das Gesicht der Kollegin, dies rasch gealterte, schon jetzt so müde und unter alltäglichsten Sorgen auch selber alltäglich gewordene Frauengesicht. Arme Cläre Spiegel! Aber zu den Halbhaus ziehen? Nein, das konnte sie doch nicht.

Aber wo eine passende Wohnung finden? Es war noch einmal eine Versuchung, als Marga Moebius an sie schrieb: »Willst du nicht zu mir ziehen?« War das nicht großzügig von Marga? Denn Marie-Luise war sich wohl bewußt, wie sehr sie die vernachlässigt hatte. Einst so sehr geliebt, dann gemieden, und dann – nein, vergessen hatte sie Marga nicht, die war und blieb die Freundin ihrer Jugend, einer Jugend, die ihre Torheiten gehabt hatte wie jede Jugend.

Als Marie-Luise eines Nachmittags, ohne daß sie sich vorher angemeldet hatte, an der Wohnung von Marga Moebius klingelte, öffnete ihr ein hübsches junges Mädchen: sehr kurzer Rock, elegant seidenbestrumpfte Beine, wohlgepflegter, duftender Bubikopf – ganz »höhere Tochter«. »Fräulein Moebius ist zu Hause«, sagte die Hübsche mit einer höflichen Verneigung, »wir haben gerade unsern englischen Zirkel. Aber, bitte, wollen Sie nicht doch eintreten?«

Drinnen im Zimmer, in dem Blumen umherstanden – jede Spende für sich in einer besonderen Vase – saß Marga am runden Tisch. Und um den gereiht sieben junge Mädchen. Alle ungefähr im gleichen Alter, fünfzehn-, sechszehnjährig, und wie die Hübsche, die die Tür geöffnet hatte, alle gut angezogen. Waren das noch Schülerinnen oder schon junge Damen? Marie-Luise dachte an ihre Kinder in der Volksschule – ach, so sahen die freilich nicht aus und würden auch niemals so aussehen! Wieviel leichter hatte Marga es doch mit solchen Mädchen! Wie hübsch waren diese intelligenten Gesichter, wie wohlgepflegt das Haar, der Teint, die Hände! Marie-Luises Blick blieb unwillkürlich an diesen weißen, zugespitzten Fingern mit den langen, blankpolierten Nägeln haften. Wie oft, wie sehr oft mußte sie aus ihrer Klasse, in der doch auch schon Größere saßen, welche herausschicken: »Geh, wasch dir erst mal die Hände! Und wenn deine Nägel morgen noch mal solche Trauer zeigen, dann schneide ich sie dir kurz ab, ganz kurz, und du schreibst mir dreißigmal zur Strafe: ›Ich schäme mich, weil ich so ein schmutziges Mädchen bin.‹« So etwas würde Marga nie nötig haben.

Marga hatte einen kleinen Schrei freudigster Überraschung ausgestoßen: »Marie-Luise, o du! Warum hast du dich nicht angemeldet? Aber wir werden eher schließen – nein, sofort. Es tut mir leid« – sie sah dabei um den Tisch herum mit ihrem leis-spöttischen und doch so reizenden Lächeln und zwinkerte in die plötzlich langgewordenen Gesichter: »Kinderchen, nicht wahr, ihr geht jetzt? Das nächste Mal dafür etwas länger.«

»Ohh!« Ein Ton allgemeiner Enttäuschung. Man merkte es den Mädchen an, daß sie ungern schon gehen wollten.

»Gib deine Stunde nur ruhig zu Ende«, sagte rasch Marie-Luise. Marga konnte doch nicht einfach, weil es ihr besser paßte, so abbrechen. »Ich höre gern ein bißchen zu.«

Die jungen Mädchen, die schon, wenn auch zögernd, aufgestanden waren, setzten sie wieder hin, nur die hübsche Große, die Marie-Luise eingelassen hatte, sagte gewandt: »Wir wollen lieber nicht stören.«

»Sehr nett von dir, Käte!« Die Lehrerin lächelte die Schülerin an: »Ich danke dir. Ich habe meine Freundin so lange nicht gesehen und Dringendes mit ihr zu besprechen.«

Neugierige und zugleich neiderfüllte, eifersüchtige Blicke wandten sich dieser Freundin jetzt zu.

Die Mädchen schienen ja alle mächtig für Marga zu schwärmen! War die nun eine so gute Lehrerin, verstand es, die jungen Gemüter besonders zu fesseln, fragte sich Marie-Luise, oder war es ihr Äußeres, das, noch immer schön, so an sich zog?

»Die kann ich einfach um den Finger wickeln«, sagte Marga lachend, als die Schülerinnen nach Knicksen und Händedrücken und nach längerem Hin und Her – sie standen immer noch ein bißchen verlangend-zögernd: sie hätten alle zu gern sich über die Wange streicheln lassen – gegangen waren. »Endlich!« Sie fiel der Freundin um den Hals.

»Sind das deine Schülerinnen alle?« fragte Marie-Luise.

»Gott bewahre! Aber diese sieben mag ich gerade besonders gern. Die Große, die Käte Braun, die ist doch bildschön, nicht? Und die kleine Zierliche mit dem Stumpfnäschen, findest du die nicht auch reizend? Es ist mir direkt ein ästhetisches Vergnügen, mich mit diesen Mädels zu umgeben – meine Leibgarde. Wenn sie nicht so reizend wären, würde ich ihnen wahrhaftig nicht noch einen Nachmittag in der Woche opfern. Und daß sie gerade besonders befähigt wären, kann ich auch nicht behaupten, die schöne Käte ist eigentlich ein Dummchen, und die zierliche Junge nicht minder; du solltest nur wissen, was die sich an Aufsätzen leisten. Aber die Mia Meinhardt – hast du die bemerkt? – die, die sich am stillsten verhielt, die mit den großen Augen, die aber scheu wegguckt, wenn man sie ansieht, die hat was los. Sie überrascht mich oft. Die anderen haben, außer Schwärmerei für mich, nur ihre Liebeleien im Kopf und ihre Rendezvous.«

Liebeleien, Rendezvous?! Es stieg Marie-Luise auf einmal heiß zu Kopf: wie leicht Marga das nahm, wie lachend sie das sagte! »Man ist als ihre Lehrerin doch verantwortlich für sie.«

»Wieso?« Marga sah sie verwundert an. »Wie kann ich verantwortlich sein für Dinge, die außerhalb der Schule liegen? Das ist doch Sache der Eltern, der Mutter vor allem. Sie brauchen ja nicht alle eine solche Mutter zu haben wie Mia Meinhardt. Reiche Leute, machen anscheinend ein Haus. Die Mutter wird wohl aufgehen in Eleganz und Gesellschaft. Aber sage mir bloß, was soll ich dabei machen, wenn dieses Mädchen sich anscheinend mit Gedanken abgibt, die ihr schlechter bekommen, als wenn sie sich alle Tage mit einem Primaner ein Stelldichein gäbe? Die anderen tun das, ich weiß es ganz genau, und sie sind viel frischer, viel glücklicher als dieses Mädchen, das, ohne sich irgendwie aufzuhalten, aus der Schule nach Hause geht, sich nicht umsieht, wenn einer hinter ihr dreinsteigt, und nicht einmal Tanzstundenbälle mitmachen will. Äußerlich noch ein völliges Kind, äußerlich. Es steckt aber wohl anderes dahinter. Ich habe vor Jahren einmal eine Schülerin gehabt – Dora Ritter – etwas jünger noch als Mia, aber die war ihr ganz ähnlich. Die schrieb's im Aufsatz, Mia Meinhardt soll ein Tagebuch schreiben. Das möchte ich wohl einmal lesen.«

Eine unter den sieben war Marie-Luise aufgefallen, eben diese Mia Meinhardt. Ein ganz anderes Gesicht als die andern!

»Käte kann's vielleicht einmal erwischen«, plauderte Marga weiter. »Dann wollen wir mal zusammen hineingucken, was, Liebste?«

»O nein«, Marie-Luise wehrte ab. »Ich will mich nicht in ihr Geheimstes drängen. Aber du hast recht, ich glaube, hinter diesem Kind steckt etwas. Ich habe das Gefühl, du könntest viel für sie sein.«

»Wieso, warum? Wie kann ich das? Du bist komisch, Marie-Luise. Die Mutter würde mich schön angucken, wenn ich mich eindrängen wollte. Sie würde jede Einmischung für Anmaßung halten. Ich kenne ihre Mutter ja auch gar nicht. Wie kann man überhaupt die Mütter aller Schülerinnen kennen?! Und was sollte ich für Mia Meinhardt tun? Es fehlt ihr ja gar nichts!«


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