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»Warum bemengen Sie sich mit so etwas, Fräulein Büchner?« Der Rektor stand vor ihr und sah ihr tief in die Augen.
Es war im Lehrerzimmer, dem langen schmalen Zimmer, dessen Mitte der Tisch ausfüllte, an dem, dicht nebeneinander, Lehrer und Lehrerinnen der Schule Platz nahmen, wenn Konferenz war. An den Wänden entlang standen gedrängt große Schränke, hinter deren Glasscheiben man Bücher sah und allerlei physikalische und technische Lehrmittel. Besondere Säle dazu, wie in den modernen, mit soviel mehr Raumverschwendung gebauten Schulen, gab es hier nicht. Man konnte sich kaum ausweichen in dem beengten Zimmer.
Die blonde Lehrerin sah übermäßig rot aus, erhitzt und ganz verstört. Sie war zurückgewichen, so weit sie konnte, und preßte den Rücken gegen das Glas des großen Schrankes, hinter dem ein Totenschädel grinste und dicht daneben ein ausgestopftes Eichhörnchen, ganz wie lebend, eine Nuß zum Anknabbern in den Pfötchen hielt. Oh, daß sie doch hätte weglaufen können!
So, ganz so hatte sie auch vorher hier gestanden, Herr Krause ihr dicht gegenüber. Wenn sie gewußt hätte, daß er es war, der sie zu sprechen wünschte, so hätte ihre geheime Abneigung sie gewarnt, sich herausrufen zu lassen mitten in der Stunde.
Dieser Besucher war nicht im Flur stehengeblieben. Die Mütter, die irgendein Anliegen hatten oder eine Besorgnis, warteten immer draußen im Gang: ›Das Fräulein mußte gütigst entschuldigen, daß Gerda heute keine reine Schürze anhatte‹ – ›das Fräulein hatte gewiß nichts dagegen, wenn Gretchen ein paar Tage zu Hause blieb, die mußte jetzt statt ihrer gehen, Zeitung austragen, denn sie kam jetzt nieder‹ – ›das Fräulein würde es gewiß verstehen, wenn Annchen bei dem nassen Wetter nicht zur Schule kam, die Stiefelchen waren entzwei und in Latschen konnte man das Kind doch nicht laufen lassen‹ – diese Besuche waren bescheiden. Aber Herr Krause war geradewegs ins Konferenzzimmer hineingegangen, dessen Tür zufällig offen stand. Als die Lehrerin im Zimmer war, machte er die Tür zu: »So.«
Sie sah ihn groß an: was fiel dem denn ein?
»Das wer' ich Ihnen gleich sagen, was ich will.« Er lachte zornig auf. »Beschweren will ich mich. Wie kommen Sie dazu, mir die Jugendfürsorge auf den Hals zu hetzen? Ich brauche diese Frauenzimmer nicht, die mir die Bude einrennen und überall rumschnüffeln. Wenigstens in seinen vier Wänden will man ohne Aufpasser sein.«
Sein Ton empörte sie. Ja, sie hatte die Fürsorge benachrichtigt, denn den ganzen Winter über hustete die Kleine in der Klasse; sie war auch ganz unzulänglich gekleidet, ein Mäntelchen wie aus Papierstoff und die Schuhe zerrissen. Oft fehlte Lenchen. »Krank«, sagte Trude Schindler. Aber wenn das Kind dann zur Schulärztin bestellt wurde, kam es nicht. Da mußte doch eingegriffen werden, wozu war das Jugendamt da? Sie, als die Lehrerin, hatte Anzeige erstattet – war sie denn nicht voll berechtigt, ja verpflichtet dazu, wenn der Vater so schlecht sorgte? Aber Marie-Luise hielt noch an sich, ruhig sagte sie: »Lenchens Gesundheit muß überwacht werden, Herr Krause. Sie müssen bedenken, Ihre Frau starb an Tuberkulose, das Kind könnte von der Mutter etwas geerbt haben.«
»Quatsch – Pardong, Fräulein, aber das is mir denn doch zu dumm!« Er sah ihre Erregung, das Pulsen des Blutes unter ihrer zarten Haut, und sein Blick begann zu flimmern. Er hatte in der Destille ein paar Schnäpse getrunken, eine gewisse Lüsternheit entzündete sich rasch in ihm: Wenn er nun diese hübsche Person einfach dreist um die Mitte faßte, was würde sie dann wohl sagen? Und wenn er sie gegen die Wand drückte? Die Tür war geschlossen, auf dem Gang draußen alles still. Aber er getraute sich das doch nicht zu tun; ihre Augen waren argwöhnisch geworden, ließen ihn nicht außer acht.
Marie-Luise fühlte auf einmal, was diesen Mann durchschoß, und es befiel sie wie ein eisiger Schreck: oh, der Unverschämte, oh, der Unverschämte! Aber sie wußte, der Rektor war nebenan; ein Ruf, er hörte sie, er stand ihr bei. Und das gab ihr Sicherheit: »Quatsch sagen Sie? Das ist kein Quatsch. Sie sollten froh darüber sein, daß für das Kind etwas geschieht. Ich werde sorgen, daß Lenchen sobald als möglich ins Gebirge kommt oder an die See, damit sie –« Ein plötzliches Auflachen ließ sie verstummen.
Er lachte, lachte ihr so nah vorm Gesicht, daß sie seinen unsauberen Atem spürte. War es Hohn, war es Wut? Oder was war das für ein häßliches Lachen? Seine Augen funkelten, er drängte ihr näher. Erschrocken fuhr sie zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Glaswand des Schrankes, daß die knackte, und schrie laut: »Was fällt Ihnen ein?!« Fast zur gleichen Minute war der Rektor im Zimmer.
Und nun wandte der Beleidigte sich gegen diesen. »Sie haben gar kein Recht, das Kind zu verschicken, wenn ich det nich zugebe. Ich bin der Vater. Ich will erst gefragt werden. Und ich sage ›nein‹. Nein, und zum drittenmal nein! Sie brauchen mir keine Fürsorge auf'n Hals zu schicken, ich verbitte mir das. Das Kind is kerngesund. Ich sorge schon selber gut für mein Kind.«
Marie-Luise wollte dazwischen rufen: ›Nein, er sorgt nicht gut!‹ – aber kaum, daß ihr das ›Nein‹ entfahren war, kehrte der Mann sich auch schon wieder gegen sie. Als ob ihr blühendes Blond ihn reizte und aufbrächte, so war es. Er schnitt eine Grimasse nach ihr hin.
Nun empörte der Rektor sich: Was sollte das heißen, diese Frechheit gegen das Fräulein? Was fiel dem Mann ein, sich hier dergestalt aufzuführen?! Man würde sich hüten, einem Menschen Wohltaten aufzudrängen, einem, der kein Einsehen hatte.
Einsehen? Nein, das hatte er auch nicht! Der Mann gab sich noch immer nicht zufrieden, er höhnte. Und nun sprach er auch nicht mehr halbwegs gebildet: »Wohltaten, Wohltaten? Lieber verrecken lasse ick ihr! Ich kenne eure Wohltaten – ich scheiße drauf!« Und dann hob er, schon in der Tür, noch drohend die Hand gegen das blonde Mädchen, das, als hätte ein Schlag ins Gesicht es getroffen, am Schrank lehnte. »Die da, die da, die kann sich vor mir in acht nehmen – warte, wenn ick dir mal erwische!«
Der Mensch war betrunken, es konnte nicht anders sein – oder verrückt! »Regen Sie sich nur nicht so auf, liebes Fräulein!«
Der Rektor hatte ihre Hand genommen.
Sie ließ die ihm vorerst willenlos. Sie hätte anfangen mögen, laut zu weinen; es war weniger noch der Schreck, der sie so angriff, als der Kummer um das Kind – ein Kind bei solch einem Vater! Sie konnte es nicht hindern, daß Tränen anfingen ihr über die Wangen zu laufen.
Am liebsten hätte der Rektor sie ihr zärtlich weggewischt: bei aller Tapferkeit und Energie, bei aller Tüchtigkeit im Beruf war sie doch nur ein Wesen, schwach und hilflos der Rohheit der Welt gegenüber, dazu bestimmt, sich anzulehnen und in einen starken Arm zu schmiegen. Es fehlte nicht viel, und er hätte jetzt, gleich, bei dieser an sich doch eigentlich recht fatalen Angelegenheit, Fräulein Büchner von seiner Absicht gesprochen.
Aber als ob Marie-Luise dies an seinen unruhigen, feucht werdenden Fingern fühlte, so entzog sie ihm jetzt ihre Hand mit einem Ruck, fast wie unwillig über sich selbst: »Ich ärgere mich, wie konnte ich mich nur so einschüchtern lassen?! Aber – oh, ich fürchte mich nicht, ich werde das Kind doch nicht aus den Augen lassen!« Sie lachte ein wenig nervös und wischte hastig ihre Tränen ab.
»Überlassen Sie das lieber mir, Fräulein Büchner. Das ist Sache des Mannes!« Er fühlte sich ganz als Beschützer. »Warum bemengen Sie sich mit so etwas?«
»Weil ich muß. Nein, nein. Sie irren, das ist Sache der Frau – meine Sache!« Fast gereizt fuhr sie fort: »Wie könnte ich je eine gute Lehrerin werden, wenn ich das Geschick eines mir anvertrauten Kindes nicht mit dem meinen verknüpfte? Vierzig Kinder in der Klasse, vierzig Geschicke. Kleine Geschicke, sie reichen jetzt noch nicht viel weiter als vom Schlaf zum Spiel, vom Zuhause zur Schule, aber sie werden immer größer werden, ihre Grenzen werden weitere und weitere. Wenn ich jetzt schon versage, was will ich dann später machen? Dann tauge ich ja nicht mehr – oh, und der Gedanke ist mir schrecklich!«
Sie legte die Hände an die Schläfen, als ob sie sich den Kopf halten müsse wegen eines stechenden Schmerzes.
»Sie werden immer taugen!« Er sah sie ganz verliebt an. »Sie sind wirklich eine von den wenigen, die berufen sind. Aber trotzdem – ich möchte sagen: Gott sei dank« – er räusperte sich und war etwas verlegen – »trotzdem sind Sie zu anderem doch ebenso berufen. Nein, noch weit mehr!« Er suchte wiederum nach ihren Händen. »Es gibt für ein weibliches Wesen keine höhere, keine schönere Berufung als die, die treue Gefährtin eines Mannes zu sein.« Er sagte nicht ›meine Gefährtin‹, aber sie verstand es wohl, wie er es meinte, und wurde ganz blaß: Um Gottes willen, was fiel Herrn Volbert nur ein?! Dem kam doch nicht etwa der Gedanke, sie heiraten zu wollen? Sicher ein ehrenwerter Mann, sie schätzte ihn als Kollegen, sie war ihm auch sehr dankbar für sein Wohlwollen, von Anfang an war sie dadurch ermutigt worden – aber heiraten, um Gottes willen, den heiraten?! Überhaupt heiraten –?! Was würde wohl Marga dazu sagen? Und vor ihr in dem nüchternen, verständigen Konferenzzimmer mit den Wänden voller Schränke, die einer wie der andere gleich breit, gleich hoch dastanden und alles Wissenswerte und Nützliche in bester Ordnung enthielten, tauchte Margas Gesicht auf. Oh, dieses so geliebte schöne Gesicht mit dem leicht ironischen und doch so lieben, süßen Lächeln! Oh, wie würde Marga sich amüsieren, wenn sie der von Herrn Volbert erzählte!
Die Hand zurückziehend und sich zum Gehen wendend, sagte Marie-Luise über die Schulter hin energisch: »Meines Erachtens ist das die höchste und schönste Berufung für die Frau nicht. Wenigstens für mich durchaus nicht.«