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»Da, lies mal!« In Marie-Luises Zimmer war Marga Moebius gestürmt, ohne anzuklopfen, in einer raschen, fast hastigen Art, die Aufregung verriet. Ein Blatt, flüchtig mit Bleistift beschrieben, hatte sie vor die Freundin auf den Tisch geworfen: »Da lies das, bitte! Von einer Schülerin. Derselben, die dir neulich bei mir auffiel; das wunderte mich noch. Es ist doch eigentlich nichts Besonderes an Mia Meinhardt. Ein schüchternes Ding, das immer gleich rot wird – aber freilich, die Augen – ja, die sprechen!«
»Warum soll ich denn das lesen?« Marie-Luise, die mit einer Arbeit beschäftigt war, hob verwundert den Kopf.
»Lies! Und dann wirst du auch wissen, warum. Du mußt das lesen. Ich hab' es extra abgeschrieben für dich, aus Mias Tagebuch. Käte Braun, die nach der Tanzstunde bei Meinhardt über Nacht geblieben war, fand es in Mias Schublade und hat das Buch heimlich mitgenommen.«
»Das war eine Gemeinheit!« sagte Marie-Luise scharf. Sie schob den Zettel von sich: »Nein, nein, ich will nichts lesen!«
»Doch, du mußt –« Marga drängte – »denn du mußt mir raten. Mir wäre es auch lieber, ich hätte es nicht gelesen. Ach, hätte Käte das Buch doch nicht weggenommen, es mir nicht gebracht! Aber jetzt – was soll ich eigentlich tun? Es ist mir recht unangenehm – ach nein, aufrichtig gestanden, es ängstigt mich sogar. Was soll man bloß mit so einem Mädel machen? Lies, lies!«
Und nun las Marie-Luise:
»Jetzt bin ich sechzehn; gestern war mein Geburtstag. Aber ich wünschte, ich wäre schon sechzig – was fange ich mit den Sechzehn an?! Ich bin nicht Fisch und nicht Fleisch, ich bin nicht halb mehr und doch auch noch nicht ganz. Ach, für uns, die wir ins Lyzeum gehen, ist es sehr schlimm. Ich beneide jedes Mädchen, das in die Volksschule geht. Die wissen mit vierzehn schon so Bescheid im Leben, stehen so mitten drin, daß nichts sie mehr schreckt. Und daß sie nicht neugierig sind. ›Not der Jugend‹, ›Sexuelle Aufklärung‹ – darüber wird jetzt eine Menge geschrieben. Ich habe erst vorgestern darüber gelesen, ich lese es meistens alles, aber ich wünsche dann, ich hätte es nicht gelesen; es macht nur konfuse – mich jedenfalls noch trauriger. Käte Braun hat einen Freund, sie fährt mit ihm Motorrad, rudert und schwimmt mit ihm – ob ihre Eltern das wissen? Ich glaube: ja. Aber mir würde solch ein Freund gar nichts helfen; es sind doch auch meist nur dumme Jungen. Ich begreife meine Freundinnen alle nicht.
Meine Eltern haben Geld, meine Mutter zieht sich gut an. Vorgestern, als sie in die Oper ging, sah meine Mutter sehr schön aus, bildschön in rosa Seide. Ich habe auch hübsche Kleider, aber ich lege nicht Wert darauf. Ich passe auch in das ganze Leben nicht, das wir führen. Überhaupt nicht ins Leben. Meine Mutter sagt: ›Du bist überspannt‹, darin mag sie recht haben. Aber warum bin ich überspannt? Ja, wenn ich das wüßte! O mein Gott, wie wohl wäre mir dann, dann könnte ich mir ja helfen! Mutter sagte gestern: ›Sei doch froh, daß du sechzehn bist, genieße deine sorglosen Jahre!‹ – Was weiß sie von meinen sorglosen Jahren?! Sorgen habe ich, schwere Sorgen.
Was wird aus unsereinem, aus einem Mädchen, das nicht darauf angewiesen ist, sich sein Brot zu verdienen? Ich werde studieren, ja – lieber möchte ich Schauspielerin werden, Filmdiva oder Krankenschwester, in unserem Alter wollen wir alle etwas Besonderes – aber zu guter Letzt werde ich mich doch verheiraten. Ich werde eine Braut sein, und wenn ich das auch vielleicht möchte – vielleicht, ich weiß es nicht genau – das Frau werden, das ängstigt mich. Und dann das Festgebundensein. Ach, wenn ich doch jemanden hätte, bei dem ich mal drüber sprechen könnte, mich aussprechen – aussprechen, wo ich mich nicht zu schämen brauchte, aussprechen, ohne über mich selber zu erschrecken. Fräulein Moebius –?! Ach, die geliebte Moebius ist ja Lehrerin, bei der kann man das nicht; man ist ja auch nie allein mit ihr, und Enthüllungen vor vielen Ohren sind Beschämungen. Sie ist auch nicht die Person dazu, sie ist ja sehr nett – ›himmlisch‹ sagen Käte und die anderen – aber, aber – Nein, ich möchte eine Mutter haben, die mich verstünde, ohne daß ich Worte zu machen brauchte! Die mir antwortete, ohne daß ich zu fragen brauchte. Ob es solch eine Mutter wohl gibt?
Oh, wie unsagbar glücklich ist eine Tochter, die solch eine Mutter hat! Ich würde alles hingeben – meine Kleider, mein hübsches Zimmer, Reisen, Komfort, alles, was angenehm ist im Leben – wenn ich solch eine Mutter dafür eintauschen könnte! Ob meine Mutter ahnt, was in mir schreit?! Nein, nein, nein.
Ich habe nur dich, mein Buch. Dir allein kann ich sagen, wie seltsam, ja, wie verzweifelt mir oft zumute ist. Ach, wie wirr das Leben vor mir liegt und wie unaufgeklärt alles Menschliche – Allzumenschliche! O Gott, wenn du mich verrietest! Wenn du einmal in andere Hände kämst! Ich wüßte nicht, was ich dann täte – ja, doch, ich weiß es. Und ich zittere vor dem, was ich dann tun würde –«
Marie-Luise blickte rasch auf: »Ist das Buch schon wieder zurückgelegt worden?«
»Ja, ja. Du brauchst mich gar nicht so böse anzusehen. Natürlich. Mir war es selbst viel zu peinlich; ich las nur dies, und mir brannte das Buch schon in den Fingern. Ich gab es gleich Käte zurück: »Trag es sofort wieder hin! Rasch zu Meinhardts, ehe Mia zu Hause ist, lege das Buch da hin, wo du's gefunden hast. Und nie ein Wort darüber, hörst du?« Sie versprach es mir auch feierlich. Ach, Marie-Luise, was solche Mädels einem doch zu schaffen machen! Ich hatte schon früher mal eine solche Schülerin – Dora Ritter, auch ein begabtes Mädel – die schrieb damals einen im Grunde ganz ähnlichen Quatsch. Diese Art scheint typisch. Man sollte sich darüber wirklich nicht aufregen. Aber ich rege mich doch auf!«
Marga Moebius hatte sich bis jetzt noch gar nicht gesetzt, unruhig war sie vor Marie-Luise auf und ab gelaufen, nun ließ sie sich auf einen Stuhl, der Freundin gegenüber, fallen und stützte den Kopf in die Hand. Sie sah angegriffen aus und ihre Augen blickten unruhig. »O weh, wenn Mia etwas davon merkt, daß wir in ihr Tagebuch geguckt haben! Ich mache mir ordentlich Sorge. Aber ist es vielleicht am Ende nicht doch gut? Man könnte vielleicht ihrer Mutter einen Wink – ach was, Unsinn – nein! Unmöglich! Und wie dieses sechzehnjährige Ding mich einschätzt! ›Die Moebius, sehr nett, aber – aber!‹ Ist das nicht eigentlich beleidigend? Was soll ich tun?! Marie-Luise, du sagst ja gar kein Wort!«
»Ich weiß nichts zu sagen.« Marie-Luise war aufgestanden und strich sich mit beiden Händen das überquellende Haar aus der Stirn zurück, eine ihr ganz eigene Bewegung; so, mit freier Stirn, konnte sie auch klarer denken. »Tun, Marga, was willst du denn tun? Jetzt kannst du kaum mehr etwas tun; früher hättest du es vielleicht gekonnt. Vielleicht –! Jetzt muß man sie ruhig sich selber überlassen, sich und ihrem Schicksal. Ach, wir sind im Grunde ja doch so machtlos!« Mit einem tiefen Atemholen legte Marie-Luise die Hand auf Margas Schulter: »Das deprimiert. Ich kenne solche Stimmung. Aber, beruhige dich, sie geht vorüber. Und mit jeder neuen Aufgabe, die ja in jedem neuen Kind uns gestellt ist, kommt uns auch wieder neuer Mut. Ich wenigstens habe das an mir schon erfahren.«
»Du bist zu beneiden«, sagte Marga Moebius, »daß du an der Volksschule bist. Mia hat ganz recht: die Sorte Mädchen hat es leichter, und darum sind sie auch leichter zu haben. Die machen einem wenigstens kein Kopfzerbrechen.«
»Meinst du?« Marie-Luise lächelte nur, sie sagte nichts zur Entgegnung. Aber ihre Gedanken wurden dahingetragen wie Falter von zwingendem Luftzug. Sie flatterten ohne Rast und Ruh um drei junge Mädchenköpfe: Trude – Lenchen – Irma.
»Mein Gott, wenn du einst in andre Hände kämest – ich zittre vor dem, was ich dann tun würde«, hatte Mia Meinhardt geschrieben. Das verfolgte Marga Moebius in dieser Nacht und ließ sie keine Stunde Schlaf finden. Dummheit, das für Wahrheit zu nehmen, was solch ein überspannter Backfisch hinschrieb! War es nicht genug, daß man sich jahraus, jahrein tagsüber mit diesen Mädels plagte, mußte man sich auch noch nachts mit ihnen herumquälen? Aber gräßlicher Gedanke, wenn sie dahinter käme und sich etwas antäte!
Ächzend warf sich die Schlaflose vom Rücken auf die Seite und von der Seite auf den Rücken. Schwarze Finsternis um sie her und in dieser Schwärze ein weißer Fleck: Das Gesicht von Mia Meinhardt. Ein ganz liebes, hübsches und anscheinend unbedeutendes Gesichtchen – nur die Stirn, die Stirn und die Augen, die verrieten etwas. »Was hab' ich dir getan«, schien der in den Winkeln ein wenig gesenkte Mund jetzt zu fragen, »daß du mir nachspürst? Das, was ich geschrieben habe im geheimen, ans Tageslicht zerrst und dich darüber lustig machst?«
O Gott, nein, lustig nicht, lustig machte sie sich darüber wahrhaftig nicht! Die Schlaflose hielt sich mit beiden Händen die pochenden Schläfen.
»Daß Käte mir das Buch entwendet hat und es dir bringt, daß ihr zusammen darin gelesen habt, das ertrage ich nicht«, sprach der Mund weiter. »Ich ertrage es nicht, jetzt so nackt dazustehen. Darum werde ich von dem kleinen Balkon an meinem Zimmer, der drei Treppen hoch überm Hof hängt, hinunterspringen, mir die Beine zerschmettern. Aus meinem Kopf, aus meinem armen Kopf wird Blut spritzen, Blut und Hirn. Oder ich werde in das Zimmer meines Vaters schleichen, da liegt in seinem Schreibtisch eine Pistole – ist die geladen? Ich verstehe nicht damit umzugehen. So werde ich mich weiterschleichen in die Küche; in der ist kein Mensch – alle schlafen – da werde ich die Flasche aus dem Putzspind nehmen, auf deren Etikette ein Totenkopf, drei Kreuze darunter, zu sehen ist. Die werde ich an den Mund setzen. Das Zeugs schmeckt scheußlich, es verbrennt den Schlund – aber ich werde doch trinken, die Flasche ganz leer trinken – und dann werde ich sterben!«
»Oh, oh!« Marga Moebius stöhnte laut. O schreckliche Gedanken, schreckliche Bilder! Sie konnte die Dunkelheit gar nicht mehr ertragen; Tropfen waren ihr auf die Stirn getreten, sie fühlte, daß sie am ganzen Körper naß von Schweiß war. Mit zitternder Hand tastete sie nach der Nachtlampe; in ihrer Aufgeregtheit konnte sie nichts finden; wo, wo mußte man andrehen? Endlich, Gott sei Dank, Licht!
Die kleine Lampe brannte tröstlich und zeigte, daß niemand im Zimmer war. Kein bleiches, verstörtes Gesicht mit schmerzlich verzogenem Mund, keine Augen, die voll Trauer und Vorwurf blickten. Friedlich standen die Möbel da, schweigsam der große Kleiderschrank und der Toilettentisch mit den Bürsten und Flakons und dem runden Spiegel. Alles wie immer, hübsch und geschmackvoll, gar nicht so, wie man es bei einer Lehrerin erwartet – merkwürdig, wie Marie-Luise sich damit abfand, es jetzt so einfach zu haben! Sehr einfach. Aber das paßte zu ihr – Volksschullehrerin – das brachte die Umgebung, die Stadtgegend, die Straße, die Schule, die Kinder, die diese Schule besuchten, mit sich. Und doch, wie war Marie-Luise zu beneiden!
Marga sah jetzt, da es hell im Zimmer war, so deutlich Marie-Luise. Wie ruhig, wie freundlich die da stand – ihr Haar, zum Knoten geschlungen, schimmerte golden – aber halt, zeigte sich da nichts Silbernes an den Schläfen? Ein paar vereinzelte Fäden nur, aber wenn die ersten erst da sind, kommen bald mehr nach. Und die Stirn wies Linien auf, die noch fein waren, aber doch Spuren nachdenklicher Stunden – von Kämpfen vielleicht. Wie, sollte dies schöne, helle, friedliche Gesicht denn auch Kämpfe kennen?
Marga sprang aus dem Bett und blickte in den Spiegel an ihrem Toilettentisch. Fast ängstlich spähte sie da hinein: sah man auch ihr schon ihr Alter an? Mit Vierzig kann man noch schön sein. Sie lächelte. Aber dann wendete sie, erschrocken, den Blick rasch ab: nein, heute, jetzt war sie nicht schön! Oh, wie sah sie denn aus? Die Augen, weit aufgerissen, glanzlos und Schatten darum – vor Angst, vor Unruhe, vor lauter Angst um das dumme Mädel! Wie konnte man bloß so töricht sein, sich seine Nachtruhe so stören lassen?! Marga ärgerte sich über sich selber. Sie fühlte sich übermüdet und förmlich krank, und doch konnte sie ihre Gedanken nicht wegzwingen, in andere Geleise bringen: was würde sie morgen hören müssen? Ob es Käte gelungen war, unbemerkt das Buch an seinen Platz zu legen? Das gebe Gott!
Merkwürdig, warum dies Geschreibsel eines Backfisches einen nur so alterieren konnte? Warum konnte man das nicht ruhiger hinnehmen? Nein, das konnte man nicht. Man war eben zu lange schon Lehrerin.
Marga Moebius verbrachte eine scheußliche Nacht. Stunde um Stunde verging, sie hörte die Uhr schlagen: eins, zwei drei, vier, fünf – noch immer schlief sie nicht. Und wieder dachte sie mit einem gewissen Neid an Marie-Luise – die lag nun in ihrem Bett und schlief sanft und friedlich. Nichts bekümmerte die. Sorgen dieser Art waren der alle erspart. Da lag sie, das blonde Haar übers Kissen flutend, die Hände auf der gleichmäßig ruhig sich hebenden und senkenden weißen Brust zusammengelegt, schlief so gesund und fest, daß der späte Lärm der noch im Einschlafen lauten Straßen sie nicht störte, und der frühe der wiedererwachenden Straße auch nicht. Oh, wer doch so schlafen könnte wie jene! –
Aber Marie-Luise schlief nicht. Am Abend hatte sie noch einen Brief erhalten. Durch die Klappe in der Tür hatte der Briefträger ihn hineingeworfen, ohne zu klingeln. Sie sah etwas weiß leuchten am Boden, als sie über den abendlich verdunkelten Korridor ging. Ohne Ahnung hob sie ihn auf, kein Herzschlag zeigte ihr an, was dieser Brief für sie war. Erst als sie die Handschrift genauer ansah, fing ihr Herz an zu klopfen – von wem, von wem? Diese Handschrift kannte sie doch, und erst an Tante Gläßner gegangen? Sie mußte sich setzen, die Knie gaben auf einmal unter ihr nach. Von ihm, von ihm!
Sie saß und hielt den Brief in der Hand und wagte nicht ihn zu öffnen. Sollte sie sich noch einmal die Ruhe stören lassen, ihre schwer, aber endlich erkämpfte Ruhe, die ihr jetzt so beglückend war? Aber sie mußte doch lesen – wer weiß, was er wollte – man konnte einen Brief doch nicht einfach uneröffnet lassen, weil er von jemandem kommt, den man vergessen will. »Den man vergessen hat«, flüsterte es ganz leise von irgendwo – nein, das war nicht wahr, sie hatte ihn nicht vergessen! Und würde ihn auch niemals vergessen! Das wäre ja keine wahre Liebe gewesen, die so restlos auslöscht, daß nicht ein Funken übrigbleibt von dem einstigen Feuer.
Sie riß den Brief auf, rascher jetzt und hastiger, als sie selber wußte. Und las, las lange daran, viel länger als die drei beschriebenen Seiten des Briefbogens eigentlich Zeit bedurft hätten. Ihre Blicke waren noch immer starr auf die Zeilen geheftet, als sie die längst zu Ende gelesen hatte, und so in sich aufgenommen, daß sie die auswendig wußte. Sie brauchte kein Licht mehr, sie las und las diese Zeilen wieder und immer wieder, als sie längst im Dunkeln auf ihrem Bette lag und keinen Schlaf finden konnte. Den wollte sie auch gar nicht finden. Es war ihr ein wunderbar schönes und süßes Gefühl, so still dazuliegen und in sich, in ihrem Herzen, das, was er geschrieben hatte, noch einmal zu lesen – liebe, gute und auch warme Worte, Worte so voll von Ehrenhaftigkeit, daß es sie beglückte und stolz machte.
Ein paar Jahre hatte er sich herumwerfen lassen, er hatte viel gesehen und manches erlebt. Einmal war er auch sehr krank gewesen, hatte sich eine Infektion zugezogen im Beruf – Gott sei Dank, daß sie das nicht gewußt hatte! Sie faltete erschrocken die Hände. Aber nun war er längst wieder gesund.
»Ich bin frischer und tatkräftiger als je, denn nun bin ich in die glückliche Lage gekommen, meinen Beruf auch wirklich so ausüben zu können, wie ich es mir immer gewünscht habe.«
Oh, das war ja schön, das war wunderschön – wie sie ihm das gönnte! Er war im rheinischen Industriebezirk am Knappschaftslazarett, einem großen, ganz neuen, stets überbesetzten Krankenhaus als leitender innerer Kliniker angestellt. Er schrieb beglückt über gute hygienische Einrichtungen, die er auch noch weiter auszubauen hoffte.
Glücklich – also er war glücklich! Sie faltete ihre Hände und lag ganz still, wie übernommen von der starken, dankbaren Größe eines fast mütterlich empfundenen Glückes. Aber was er dann noch schrieb? Ihre Augen schlossen sich – nein, das wollte sie nicht sehen! Sie schluckte, als zwänge sie etwas nieder. Sie wollte nur sein Krankenhaus sehen, seine Tätigkeit, in der er so glücklich war, die kleine Villa wollte sie nicht sehen, die hinter dem großen Hauptgebäude stand. Nicht das hübsche Gärtchen mit dem Rasenplatz in der Mitte und den hochstämmigen Rosenstöcken, deren rote, gelbe und weiße Blüten immer wie bestäubt waren, berußt vom Rauch der Schlote.
»Denn unser Himmel ist angeraucht, unsere Gardinen sind auch sofort grau, unsere Wege sind nicht gelb wie der Sand in der Mark, schwarz sind sie vom Kohlenstaub, auf alles fällt der. Aber es lebt sich doch gut im Land der Hochöfen und Zechen, du kannst es schon wagen. Ich habe dich noch nicht vergessen, ich habe dich noch immer von Herzen lieb, und ich glaube, ich verstehe dich jetzt besser, als ich dich damals verstand. Ich möchte gutmachen. Schreibe mir, daß du einwilligst, meine Frau zu werden, und so werde ich, sobald es mir möglich ist, kommen. An einem Samstagabend könnte ich abreisen, dann bin ich morgens früh in Berlin. Wir haben den Sonntag, um alles zu besprechen; am Abend muß ich dann wieder fort.«
»Ich möchte gutmachen« – ach, er hatte ja nichts gutzumachen, gar nichts, wie kam er nur darauf?! Nun weinte sie doch. Aber es waren nicht Tränen eines unversieglichen Schmerzes, die nicht getrocknet werden können, es war auch keine schwächliche Wehmut, die sie weinen machte. Sie war nur unendlich gerührt. Ja, da stand er wieder vor ihr, der liebe, gute Mensch – Alwin Droste – der Geliebte, dem sie Stunden zu danken hatte, so reich an Schönheit und Glück, daß sie die Schmerzen wettmachten, die ihr die Trennung gekostet hatte. Schmerzen – Trennung –?! Das waren ja nur Worte. Sie sprach sie jetzt leise vor sich hin mit einem Lächeln, ihr Herz war übervoll, noch einmal gefüllt bis an den Rand von Liebe, von Hingebung, von Verlangen. Er war wieder da, er war wieder in ihr Leben getreten, er! Und er streckte seine Hand nach ihr aus!
Sie drückte beide Hände gegen ihre Brust: wie das darin klopfte und wogte und sehr unruhig war, aufwallten Wellen des Glücks und wallten wieder zurück, eine wilde chaotische Brandung von Wünschen, Hoffnungen, erregten Gefühlen. Was sollte sie ihm antworten, was ihm schreiben? Er wollte bald Antwort haben. Wenn sie nicht gleich schrieb, würde er warten – ließ sie ihn vielleicht vergeblich warten, um ihm zu zeigen: ich habe nicht auf dich gewartet, ich bin keine, der man nur zu winken braucht, und sie kommt? Ach nein, von so etwas konnte hier nicht die Rede sein, dazu kannte er sie ja auch viel zu gut, das würde er nicht denken. Bedenkzeit nur mußte sie haben, eine Bedenkzeit – das würde sie ihm auch morgen gleich schreiben. Er hatte sie noch lieb, aber der Schmelz dieser Liebe war abgestreift, den hatte die lange Trennung, in der sie ohne irgendwelche Kunde von einander, ohne jeglichen Austausch gelebt hatten, aufgezehrt. Darum würde er warten und ganz in Ruhe. Aber sie, hatte sie Ruhe? In dieser Nacht sicherlich nicht. –
Marie-Luise, die gewohnt war, sieben Stunden durchzuschlafen, ohne nur einmal aufzuwachen, war wie zerschlagen, als sie aufstand. Spät gegen Morgen war sie erst eingeschlafen, auf ihre nassen Augenlider hatte sich endlich doch ein Schlummer gesenkt, aber da rasselte auch schon der Wecker: auf, auf ins Tagewerk! Sie lag noch eine Weile ganz betäubt, vermochte sich nicht aufzuraffen, die Glieder waren ihr wie gelähmt. Dann aber fuhr sie empor: die Schule, die Schule! Noch verwirrt sah sie um sich; es war ja alles nur Traum, er hatte gar nicht geschrieben, sie wußte nichts, gar nichts von ihm. Träumend hatte sie etwas erlebt, was sie nie mehr zu erleben geglaubt hatte, war erfreut gewesen, beglückt, ja beseligt – und hatte sich doch gefürchtet. Auch jetzt im Wachen, am hellen Tag, der ihr gebieterisch zurief: »Mach dich fertig zur Schule«, fürchtete sie sich noch. Das gewohnte Leben grüßte zu ihr herauf, die Elektrischen dröhnten, schwere Lastautos rasselten, das Haus erzitterte davon; fernes unbestimmtes Summen ließ sich vernehmen, das Summen wie im riesigen Bienenstock. Das waren die Stimmen der großen Stadt, der Stadt der Arbeit, der Stadt ihrer Pflichten.
Marie-Luise rüstete rasch, sie mußte sehr eilen, in einer halben Stunde schon fing die Schule an; sie konnte sich kein Frühstück mehr bereiten, aber so viel Zeit nahm sie sich doch noch, um mit ihrer klaren Schrift in großen Zügen ein paar Zeilen für ihn aufs Papier zu werfen. Die hatte er dann schon morgen.
»Laß mir Zeit, ich muß mich besinnen. Wenigstens eine Woche – nein, einen Monat noch. Gestern abend kam Dein Brief bei mir an, noch bin ich zu sehr überrascht, bin wie im Traum. Aber ich danke Dir und grüße Dich vielmals.«