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Also auch er war zu Ende? Ja, so sah er auch aus. Marie-Luise hatte heute Herrn Halbhaus gesehen und war erschrocken: der Mann, noch nicht vierzig, war wie ein Fünfziger. Und so vergrämt sah er aus. Er kam in die Schule, um seine Frau abzuholen, man hatte ihm in die Bank telephonieren müssen, daß diese unwohl geworden sei. Man hatte Frau Halbhaus unten im großen Souterrainraum, der der Schulärztin als Ordinationszimmer diente, lang gelegt, ihr die Füße hochgebettet und vor allem die Kleider gelockert. Mehr konnte das Fräulein Doktor, das zum Glück gerade Sprechstunde abhielt, auch nicht tun; die Schulschwester rieb die ganz abgestorbenen Hände und Füße mit Franzbranntwein. Es war eine lange Ohnmacht.
Marie-Luise hatte den schweren Fall gehört und den gellenden vielstimmigen Aufschrei in der Klasse nebenan. Wer?! Wo?! Was war passiert?! Sie hörten alle das Laufen über den Korridor, das Rufen nach der Schulärztin, und dann das Heraufbringen der Bahre. Und dann wieder das Abtransportieren. Es war ein großer Schrecken; für die Kinder aber noch weit mehr eine Sensation, über die sie sich lange noch nicht beruhigen konnten: die Halbhaus war umgefallen, weil sie ein Kind kriegte! Sie war mitten im Vortrag über Doktor Martin Luther gewesen, der schlug gerade die Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg, da war sie ganz schneeweiß im Gesicht geworden, ihre Augen hatten starr auf einen Punkt gestiert, sie hatte den Mund aufgemacht wie zu einer Frage, hatte, mit beiden Händen einen Halt suchend, um sich gegriffen und war dann plötzlich der Länge nach niedergefallen. Die Dreizehnjährigen, bei denen es passiert war, erzählten es den Zwölfjährigen, die Zwölfjährigen den Elfjährigen, die Elfjährigen den Zehnjährigen, und so ging es herab bis zu den Kleinen und Kleinsten. Von denen glaubte manch eine noch an den Storch, nun wurde die mächtig ausgelacht.
In den Klassen surrte es wie von Bienenschwärmen, die ganze Schule war in Aufregung. Man hatte zu tun, einigermaßen die Aufmerksamkeit wiederherzustellen. Sowie ein unbeachteter Augenblick war, steckten ein paar Mädel wieder die Köpfe zusammen; sie waren rot und heiß, und eine wußte immer mehr als die andere. Sie, für die es bei der Wohnungsbedrängnis keine Heimlichkeit mehr gab, die Großen, die viele kleine Geschwister hatten und die der Mutter manchen Dienst leisteten, wenn die im Wochenbett lag, die vielleicht nicht mit der Wimper zuckten, wenn der junge Mann, der in Schlafstelle bei ihnen war, sich ein Mädel mitbrachte, oder wenn die große Schwester lieber vorn in der guten Stube, die der möblierte Herr bewohnte, nächtigte, als hinten im Berliner Zimmer, wo alle anderen eingepfercht waren, die waren geradezu empört: eine Lehrerin, eine Lehrerin? Bei der durfte doch so was nicht vorkommen; eine, die einen lehren wollte, anständig sein! Die sollte einem nur noch mal etwas sagen, daß sie gehört hätte, man ginge mit Jungens. Die sollte vor ihrer eigenen Tür kehren, die!
Als Frau Halbhaus nach acht Tagen wiederkam – es ging ihr jetzt besser, die Beschwerden der ersten sechs Monate waren plötzlich verschwunden – hätte sie ganz unbehindert unterrichten können, aber sie konnte es doch nicht. »Sie ahnen es nicht, wie gräßlich die Mädchen sind«, klagte sie weinend Marie-Luise. »Sowie ich die Klasse betrete, geht das Getuschel los. Und diese Augen, ich sage Ihnen, diese blöden und doch so listigen Augen! Die sehen einen durch und durch, ziehen einem förmlich die Kleider vom Leibe, das Hemd, die ganze Pelle. Man steht wie nackt vor ihnen. Ganz nackt. Und schämt sich. Und wenn ich mich auch zusammenreiße, gar nicht desgleichen tue, sie hart anfasse, dann haben sie doch noch keinen Respekt. Sie tun wohl ein bißchen so, aber im Grunde weiß ich – ja, ich fühle es ganz genau – sie sehen in mir nur ihresgleichen: eine wie alle, nicht eine, die ihnen vorgesetzt ist.«
»Sagen Sie es mal dem Rektor, beklagen Sie sich doch«, riet Marie-Luise.
»Ich werde mich hüten. Daß der mir wieder das Verheiratetsein vorwirft! Er hat es gut, er kann ja verheiratet sein, und nochmal verheiratet und meinetwegen dreimal verheiratet, wir Armen, wenn wir's einmal riskieren, nach langen Jahren des Wartens, nach inneren und äußeren Kämpfen und mit vielem Überlegen, dann geht es uns so. Lieber Zeitungen austragen, Zeitungspacken im alten Kinderwagen mühselig vor sich herschieben wie so manches arme Weib – ›gesegneten Leibes‹, wie man sagt – das ich auf der Straße sehe, als so vor der Klasse stehen! Nein, es geht nicht, es geht nicht, es vereint sich nicht!«
Ging es nicht, vereinte es sich nicht? Wirklich nicht?! Marie-Luise dachte viel darüber nach. Das Unglück von Frau Halbhaus – denn ein Unglück war es für die – beschäftigte sie so, daß sie nächtelang nicht schlafen konnte. Abends ging sie mit dem Gedanken daran zu Bett, schlief zuweilen auch ein, erwachte aber dann sehr bald wieder. Ein jäher Schrecken, der fast körperlich weh tat, war auf sie herabgestürzt, hockte ihr wie ein Alp auf der Brust und ließ sie nicht mehr frei. Wenn sie nun in diese Lage käme, sie?! Es könnte doch sein. Alwin liebte Kinder, er sagte zuweilen »unsere Kinder«, er wünschte eine Zukunft für sich, in der er Vater war. Und dieses Wünschen, dieses Hoffen sollte sie nun zunichte machen? Nein, das konnte sie ja gar nicht! Das durfte sie auch nicht tun. Aber Lehrerin –?! »Es geht nicht, es geht nicht, es vereint sich nicht«, das hörte sie in einem fort. Es war niemand bei ihr im Zimmer, sie war ganz allein, aber aus jedem Winkel trat etwas auf sie zu und schrie sie an mit einer Stimme, die der der Halbhaus glich. In Angst und Verzweiflung schrillte es ihr ins Ohr, ging ihr durch Mark und Bein mit schneidend scharfer, messerscharfer Wahrhaftigkeit: »Es vereint sich nicht, es vereint sich nicht!« Sie mußte es hören, wenn sie auch, um es nicht zu hören, dieser messerscharfen Stimme der Wahrhaftigkeit sich zu entziehen, ihren Kopf einwühlte und sich die Ohren mit dem Kissen verdeckte. Sie hatte diese Stimme ja tief in sich. Und wie zerschlagen stand sie auf, zermürbt von den immerwährenden inneren Quälereien.
Er sagte: »Liebste, du siehst blaß aus, was ist dir denn? Deine schöne Frische ist ganz weg. Sag mir doch, fehlt dir was?«
Ja, ihre Frische, die war's, die er liebte. Ihre Frische hatte ihn zuerst angezogen, er hatte ihr das ja so oft gesagt – ihre Frische, ihre Frische, wo war die? Schon jetzt weg? Wie sollte das erst später werden? Er war ja so liebevoll, richtig verliebt, so wie es seinen Jahren zukam, er hätte ihr jeden irgend möglichen Wunsch gern erfüllt, sie hatte nur immer zu wehren: »Schenke mir nichts, bringe keine Blumen« – aber das vertrug er nicht, wenn sie ernst und nachdenklich war. »Ich vermisse dein Lachen, ich sehe es so gern, wenn all deine weißen Zähne blitzen. Ich mag es so gern hören, wenn deine Stimme bis hoch hinauf steigt, es klingt wie Lerchengetriller. Warum lachst du heut nicht?« Ach, sie konnte es ihm ja nicht sagen. Eine geheime Scheu hielt sie davor zurück. Denn ob er sie wohl ganz verstehen würde? Nein. Er schalt sehr oft auf die Schule, er benutzte jede Gelegenheit, um die als ein lästiges Übel hinzustellen. Er wollte sie ihr verleiden. Daß die Schule ihm wie eine Nebenbuhlerin erschien, eine, die ihn schon jetzt, seiner Meinung nach, um vieles brachte, das wußte sie wohl. Und darum sagte sie nichts. Nie hätte sie ihm, dem Arzt, von Frau Halbhaus erzählen mögen – er hätte die sicherlich hysterisch genannt. Wie konnte sie dem Mann, der auf Kinder rechnete, von ihren Ängsten sprechen?! Aber dieses Verschweigen gab ihr eine gewisse Unsicherheit; sie war nicht heiter, nicht restlos glücklich mehr wie in der ersten Zeit ihrer Liebe. Nicht daß diese Liebe weniger geworden wäre, geringer an Stärke und nicht mehr so leidenschaftlich in ihrem Drang nach Hingabe, aber etwas hatte sich ihrer Liebe noch beigesellt, das gleichstark war: ein tief begründetes, fast mütterliches Empfinden. Wenn Marie-Luise den Kopf des Geliebten an ihre Brust zog, sanft über seine Stirn strich, die sich krausen wollte in Unwillen, weil sie schon wieder, schon wieder nicht die Zeit, die er beanspruchte, für ihn hatte, dann war sie diejenige, die flüsterte: »Sei doch verständig!« Die ihn das zu lehren versuchte, das, um was sie selber sich heiß und mit aller Willenskraft mühte: das Verzichtenkönnen.
»Du bist mir viel zu verständig«, sagte er dann wohl ganz ärgerlich. Und sie lächelte traurig. Ach, wenn er wüßte, was sie wußte, was sie täglich mehr als eine unumstößliche Gewißheit erkannte! Sie zerquälte sich, sobald sie allein war, auf der langen Fahrt zur Schule und von der Schule, zumeist aber in den einsamen Nächten, die so verworren waren und so dunkel, daß sie aus dem Labyrinth ihrer Gedanken den Weg heraus nicht mehr finden konnte. Kein Schlaf, und auch keine Lust zu essen; sie magerte ab.
»Du siehst gar nicht gut aus«, sagte der Doktor.
»Sie sehen gar nicht gut aus«, sagten auch die Kolleginnen in der Schule, »was ist denn bloß los mit Ihnen, Fräulein Büchner? Das ist ja jetzt wie verhext bei uns, die Halbhaus gar nicht auf dem Posten und Sie zur Zeit nur halb!«
Was, sie nur halb?! Marie-Luise erschrak. Sie nahm sich zusammen, sie drängte mit Gewalt alles andere zurück – nur hier ihre Kinder, nur für die da sein! Aber es gelang ihr doch nicht. Es war ihr klar: sie versagte. Und da dachte sie nun in mancher der kommenden schlaflos verbrachten Nächte: wenn ich nun das täte, das, was er im geheimen wünscht? Meinen Beruf aufgäbe? Er hat mir nur ungern, nur auf meine dringenden Vorstellungen hin, sozusagen auf meine Bedingung hin, es zugegeben, daß ich an der Schule bleibe. Er würde gewiß sehr zufrieden sein, wenn ich sagte: »Nun mag ich nicht mehr, ich werfe die Lehrerin ab – ein Kleid, das mir nicht mehr paßt.« ›Es vereint sich nicht, es vereint sich nicht‹, sagte ganz deutlich die Halbhaus. Nein, es vereinte sich auch nicht! Sie richtete sich jäh aus ihrem schlaffen Hindämmern auf, stramm wie der Soldat, wenn das Kommando ertönt, aber gleich darauf sank sie wieder zusammen: aber das Aufgeben, das ging doch nicht. Dann konnten sie ja nicht heiraten! Und er wollte heiraten, heiraten, sobald als möglich. Und sie – wollte sie ihn denn nicht heiraten, ihn nicht besitzen? Oh, einen Mann besitzen, diesen Mann besitzen! –
Sie würden heiraten, sobald sie wußte, daß man sie, auch verheiratet, an der Schule behielt. Aber dieser Bescheid stand noch aus. Der stand vielleicht noch recht lange aus?! Da atmete sie so, als könne sie noch einmal tief Luft schöpfen vor dem kühnen Sprung über einen weitgähnenden Abgrund.
»Sie sehen nicht gut aus, Kind«, sagte auch die Ebertz. Zu der war Marie-Luise endlich, nach langer Zeit, einmal wieder gekommen. Sie hatte durch Zufall zwei Stunden nichts zu tun am Vormittag, ihre Kinder übten im Gesangsaal den Chor mit zu einer großen volkstümlichen Feier. Es war ihr lieb, diese Pause benutzen zu können, sonst kam sie doch nicht so leicht zu der alten Kollegin hin. Sie war erstaunt, wieviele Häuser hier draußen inzwischen entstanden waren, ein ganzes Viertel in den zwei Jahren, die sie nicht hergekommen war. Zuletzt war sie hier gegangen zu jenem Kaffee bei Fräulein Ebertz, an dem Kläre Spiegel noch Braut war. Aber das Haus, in dem Fräulein Ebertz wohnte, lag doch immer noch so weit ab, daß es freien Ausblick hatte rundum auf die Öde sandiger Weiten. Ich möchte hier doch nicht wohnen, dachte Marie-Luise, als sie einsam ging. Von einem Neubau pfiffen Arbeiter nach ihr und winkten ihr lachend, und hinter einem Bauzaun erhob sich plötzlich gähnend ein Kerl, der am hellichten Tag da geschlafen hatte. Er rief ihr etwas zu, was sie zum Glück nicht verstand. Komisch, damals war es ihr so unsicher nicht hier vorgekommen, da waren ihr nur die Kinder begegnet, jetzt brachte die Bauerei viel Gesindel hierher.
Aber Fräulein Ebertz schien von Unsicherheit nichts zu empfinden, und auch nichts davon wissen zu wollen: »Oh, hier ist es ganz sicher, viel sicherer als so mitten drin in der Stadt. Lesen Sie doch in der Zeitung, was da tagtäglich alles passiert!« Sie lachte und streichelte Marie-Luise die Wangen, die vom raschen Gehen erhitzt waren. »Ich freue mich ja so, Sie mal wiederzusehen! Aber im Frühjahr, als ich bei Ihnen war, sahen Sie trotz dem Kummer um Ihre Mutter eigentlich besser aus, Büchner. Und was ist's mit dem Doktor? Wird's doch mit dem was, oder wird es nichts? Ich habe schon oft mit herzlichen Wünschen Ihrer gedacht.«
»Wir sind verlobt«, sagte Marie-Luise. Aber sie sagte es ohne die Lohe der Freude, die Bräuten sonst in die Wangen steigt.
»Ich gratuliere, ich gratuliere!« Die alte Jungfer war ganz außer sich. »Also doch, also doch! Wie mich das freut! Na, sehen Sie, das hab' ich Ihnen ja damals schon prophezeit, als ich Sie eben kennengelernt hatte: Sie heiraten, wann denn, wann denn?«
Marie-Luise zuckte die Achseln: »Das weiß ich nicht.« Sie sagte es kurz und glitt dann hinüber auf etwas anderes, obgleich die Ebertz sich gar nicht losreißen konnte; sie hatte die Jüngere so lieb, sie hätte gern alles bis auf das I-Tüpfelchen gewußt. Aber Marie-Luise war und blieb einsilbig. Sie war froh, als Fräulein Ebertz dann von sich selber berichtete.
Fräulein Melitta Ebertz war noch immer gleicherweise zufrieden mit ihrer Wohnung; die war wirklich reizend – schöne Aussicht, viel Sonne – und auch im Winter war sie gemütlich, wenn auch der Wind gelegentlich etwas pfiff. Der sauste manches Mal so und rüttelte so an Mauern und Fenstern, daß man denken konnte, es versuche sich einer an der Entreetür. Aber es war immer nichts. Und sie hatte ja auch selten allein gesessen, meist war der Junge, der Theo Schindler, bei ihr, der verbrachte hier seine Abende. Sie erlaubte es gern, denn er trug ihr Holz und Kohlen, machte Feuer an, holte ihr ein, und wenn sie selber es nicht wollte, brauchte sie keinen Fuß auf die Straße zu setzen. Er litt es schon bei gutem Wetter nicht, daß sie die vielen Treppen stieg, geschweige denn, wenn es schlechtes Wetter war. Er war wie ihr kleiner Diener, sehr gefällig, und immer war er so auf sie bedacht, als wenn er zu ihr gehörte. »Beinah wie ein Sohn – wie ein guter Sohn«, sagte sie gerührt. »Man sollte es gar nicht glauben, daß in einem Kind aus solcher Umgebung so viel Gefühl stecken kann. Und so viel feines Empfinden: der Junge erzählt nie von zu Hause. Und wenn ich früher mal fragte: na, was machste denn heut, und besonders abends, wenn du mal nicht hier bist, dann weicht er immer aus. Es ist dem armen Jungen peinlich, von dem zu reden, was er wohl zu Hause mitansehen muß und was er alles zu hören kriegt. Ich frage jetzt auch gar nicht mehr, ich mag ihn nicht so beschämen. Und die Mutter habe ich als Waschfrau auch abgeschafft – o je, die war gar nicht nett! Lieber nicht in die Nähe! Nun wasche ich mein bißchen Wäsche alleine, und der Theo hilft mir dabei. Es müssen ja üble Verhältnisse bei den Schindlers sein.«
»Sehr üble«, sagte Marie-Luise und dachte dabei mit einiger Unruhe an das blasse, verderbt aussehende Ding, die Trude.
»Aber, Gott sei Dank, der Junge, der hat seinen besonderen Schutzengel, alles Häßliche läuft von dem ab wie Wasser, es kommt gar nicht bis an ihn selber heran. Und Verstand und Energie hat er auch. Der Theo wird es noch mal zu etwas bringen, passen Sie auf«, beschloß das alte Fräulein ihr Rühmen in prophetischem Ton.
»Von seiner Schwester, der Trude, spricht er wohl auch nicht?«
»Nie«, versicherte die Ebertz. »Ich glaube aber, die ist noch die Beste von der ganzen Gesellschaft. Und ein schlaues Mädel, ich hatte sie ja vor ihm, sie war mir nur zu keß. Ich liebe die Bescheidenheit und ein sanftes Wesen. Der Theo, der ist wirklich sanft und bescheiden, das muß ich sagen; er hat auch ganz das Gesicht danach, fast wie ein Mädchen, so groß und stark er auch ist. Ich bin nur besorgt, daß sie ihn mir verderben, wenn er als Page in den Hotelbetrieb kommt. Wissen Sie, Büchner –« und sie dämpfte ihre Stimme dabei und machte ganz große entsetzte Augen – »es soll ja Männer geben, wahre Unmenschen, die hinter solch hübschen Knaben arg her sind. Na, so lange ich lebe, wird ihm schon nichts widerfahren, da halte ich das Gegengewicht. Es wäre ja auch ein Jammer um ihn!«
In der einsamen Seele der alten Lehrerin und in ihrer engbegrenzten äußeren Umgebung hatte nicht viel anderes Platz als Theo Schindler. Was sie gern wollte: noch weiter unterrichten, dazu fand sie bei ihm reichlich Gelegenheit, und zum Glück auch Ohr und Interesse. Nun dachte sie viel darüber nach, wie es wohl werden würde, wenn er jetzt bald seine Stellung antrat. Binnen wenigen Wochen würde das sein; Winteranfang, und damit regerer Hotelbetrieb, war nicht mehr allzu weit, schon segelten braune und gelbe Blätter an den Fenstern vorbei. Der Herbstwind hatte die irgendwo abgerissen und von weit, weit her mit sich geführt. Hier in der Nähe gab es noch keine Alleen, überhaupt keine Bäume und keine schattigen Gärten, nur ein kleines Rasenstückchen war vor jedem Neubau. Das war geschützt durch ein rot grundiertes Drahtgitter in halber Mannshöhe, aber herrenlose Hunde sprangen leicht darüber weg und hoben ihr Bein an dem winzigen Tännling und den kleinen runden Buxbäumchen, die zur Linken und Rechten gepflanzt waren. Noch waren diese Zierden nicht angewurzelt, und schon waren sie auch verunziert; sie kränkelten gelb und dürr, die Hunde hatten sie zunichte gemacht.
Mit wahrer Trauer hörte die Einsame ihren Schüler von seiner demnächstigen Anstellung sprechen. Und davon sprach Theo oft. Ach, der gute Junge, der konnte ja nicht ahnen, wie es ihr jedesmal durchs Herz schnitt, wenn er sagte: »Da wer' ich zu nichts anderm mehr Zeit haben – au Backe!«
»Aber Theo, du darfst doch nicht so berlinisch reden, wie klingt denn das!« Sie hätte viel lieber gesagt: »Für mich mußt du aber doch noch Zeit haben.« Wie sollte sie die Abende des kommenden Winters wohl hinbringen, wenn er nicht mehr kam?! Der Regen prasselt gegen die Scheiben, die Winde heulen und fauchen – hui, hui und huhu, langgezogen wie klägliches Weinen – unheimliches Wetter, keine bekannte Seele traut sich bis hier heraus, man sitzt und sitzt, hat eiskalte Füße, die Hände sind ebenso kalt, und die Seele friert auch. Allein, ganz allein beim trübbrennenden Gas! Die Hängelampe schaukelt, vom Zugwind, der durchs schlecht schließende Fenster fährt, leise bewegt. Da kommt es herangeschlichen wie Trübseligkeit, wie sehnsüchtiges Verlangen nach dem Knabenkopf, der sich über Heft oder Buch beugt und auf dessen blondem Scheitel der trübe Lichtschein wie ein Sonnenstrahl glänzt. Man kann doch nicht immer nähen oder stricken, und auch nicht immer lesen; schon lassen die Augen nach. Wieder ein paar Strümpfe für ihn fertig, und wieder ein Paar. Und Taschentücher gesäumt und gestickt – ob er sich wohl darüber freuen wird, wenn er endlich mal kommt? Er kann leider nicht öfter kommen, alle vierzehn Tage nur darf er fort, aber auch dann nur auf kurz, die Jüngsten haben am allerwenigsten freie Zeit, die werden von morgens bis abends angespannt. Aber das ist ja nur gut, sie darf und will darüber nicht klagen. Sie wird sich freuen, nur freuen, wenn er endlich da ist. Sie hat guten Kaffee gekocht und Kuchen geholt; sie macht sich jetzt alles allein. Wozu jemand Fremdes, den man erst anlernen muß? Sie ist ja gesund, kann sich selber helfen, und wenn sie recht zu tun hat, vergeht die Zeit rascher. Und dann ist sie so müde, daß sie schnell einschläft, kein Ticken der Uhr mehr hört, kein Knacken im Gasrohr, kein Wehen ums Haus, kein Rütteln an den Fenstern und Tasten draußen an der Tür.
Dann wird sie von dem Jungen träumen, so lebhaft träumen, daß sie am Morgen, wenn sie endlich aufwacht und sich die Augen reibt, glaubt, er sei wirklich dagewesen.
Theo Schindler klagte seiner Gönnerin; er sprach stockend, und sie merkte es ihm an, wie schwer es ihm wurde, auf seine Eltern etwas zu sagen. Die sorgten doch auch gar nicht für ihn. Jetzt war es so weit, daß er am ersten November eintreten könnte, im feinen Hotel am Alexanderplatz, aber er hatte nichts an besserer Kleidung, gar nichts, um sich auch nur halbwegs anständig vorzustellen. Der Portier, der war ihm sehr gewogen, auch der Empfangsherr, die waren beide sehr wohlwollend und lächelten ihn jedesmal an, aber der Chef, der Chef, der gab alles auf den Anzug. Und er hatte doch nur die Hosen, die das Fräulein so gut gewesen war, ihm wieder und immer wieder zu flicken, und die alte blankgescheuerte Jacke, deren Ärmel ihm zu kurz geworden waren. Es war, als ob ihm die Tränen dabei kommen wollten, er wendete sich ab und wischte sich Augen und Nase. »Verflucht, daß man ooch gar kein Geld hat!«
Da sagte Fräulein Ebertz, und sie mußte dabei sich selber überwinden, jeden Egoismus: »Ich werde dir das Nötige kaufen. Ich will nicht, daß du deswegen womöglich die Stellung nicht kriegst.« Es war ihr schwer, das zu sagen, weil es für sie ja soviel besser gewesen wäre, wenn es so blieb, wie es war; aber für ihn war es so besser, er mußte doch einmal hinaus ins Leben. Und recht hatte er, so konnte er sich nicht vorstellen: wie streckten sich seine roten kräftigen Knabengelenke lang aus den verschabten ausgewachsenen Jackenärmeln hervor! »Also, denn komm in Gottes Namen, denn wollen wir gleich mal zusammen zu Peek und Kloppenburg gehen und dir einen Anzug kaufen!«
Er fuhr ordentlich zusammen; es übermannte ihn schier etwas.
Sie ging an den kleinen altmodischen Schreibtisch, auf dem verblaßte Photographien ihrer Eltern standen, und noch verblaßtere von anderen ihr lieben Verstorbenen, schloß ein Schubfach auf und nahm ein eisernes Kästchen heraus. Vor des Knaben Augen zählte sie Scheine, tat welche davon in ihre Geldtasche und schloß die andern wieder im Schubfach ein. Eine Menge Geld, eine Menge Geld, sie brauchte ja so wenig, sie konnte schon für den Jungen was springen lassen.
Aber Theo sagte hastig: »Ich kann jetzt nich. Morgen – nee, übermorgen – nee, Ende der Woche erst!«
»Ich denke, es ist so eilig? Aber, na, wie du willst. Wenn du so lange noch warten kannst, ich kann noch warten.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter: »Bleibe brav, Theo. Und denke nicht, daß Geld allein glücklich macht.«
Wußte die Alte es denn, daß er nach Geld gierte, nach Geld allein?! Es wurde ihm ordentlich unheimlich. Er zwinkerte und sah scheu vor sich nieder.
»Na, was hast du denn? Du bist ja auf einmal ganz blaß geworden. Ja, mein Junge, das merk dir – auch wenn ich mal nicht mehr bin, um es dir zu sagen – Geld ist etwas, in dem der Teufel steckt.«
»Aber wenn man keins hat, geht man auch zum Teufel«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und steckte seine Hände, zu Fäusten geballt, in die Hosentaschen.
Es kam nun doch nicht dazu, daß sie zusammen den Anzug kauften, schlechtes Wetter setzte ein, starker Herbstregen mit viel Wind. Das alte Fräulein hatte sich erkältet, und Theo wollte durchaus nicht, daß sie ausging. »Ich kann mir den Anzug ganz gut alleine kaufen. Sie können nicht ausgehen bei dem Sauwettter. Nee, ich leid es nicht, daß Sie mitgehen. Was wollen Sie denn auch dabei, ich werd' schon alleine fertig.«
Er war fast ungezogen in seinem Streben, sie zurückzuhalten – recht heftig – aber seine Angst, daß sie etwa doch mitgehen würde, sich dabei noch mehr erkälten, rührte sie: diese Sorge! So tat sie ihm denn den Willen und blieb zu Hause, schärfte ihm nur ein, auf was er beim Einkauf besonders zu achten hätte. Sie gab ihm hundert Mark mit, denn er sollte sich auch noch ein Lodencape kaufen; es erbarmte sie, daß er so ungeschützt vor ihr stand, schlotternd vor kalter Nässe. Es fröstelte sie bei seinem Anblick.