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»Ich muß ein Fenster nach Osten haben und eins nach Westen«, hatte die alte Lehrerin zu der jungen Kollegin gesagt. »Wie sonst die Wohnung ist, ist mir ganz egal. Nur erst mal raus aus dieser ewigen Dunkelheit hier in der Straße; ich habe genug davon. Jetzt will ich mein Leben genießen. Passen Sie auf, Büchner, nu werd ich auch noch 'ne Blume, die die Sonne bescheint.« Fräulein Ebertz war bester Laune, voller Humor; Marie-Luise hatte sie noch nie so vergnügt gesehen.
Als die Ebertz ihre Wohnung getauscht hatte gegen eine in den Neubauten, die – eine langgestreckte Kaserne, ein Haus eng neben dem anderen, ganz gleichförmig – nackt und bloß und kahl im Felde stehen, schien sie noch vergnügter zu sein. Marie-Luise bekam eine Einladung von ihr: »Ich habe alle unsere Kolleginnen eingeladen – keine Spielstunde diesen Sonnabend, kein Ausflug, keine Museumswanderung, kein Turnen, keine Beaufsichtigung beim Schwimmen – alle frei. Also zum Kaffee, pünktlich viereinhalb Uhr. Ich habe den Rektor auch eingeladen. Sie werden's mir doch nicht antun, liebes Fräulein Büchner, und absagen? Sie waren mir immer die Liebste. Nun sollen alle mal sehen, wie gut ich es habe.«
Ach, nun würde sie heute mittag den Doktor nicht treffen können! Marie-Luise sagte ihm das am Morgen, und er bedauerte es doppelt, da er ihr gerade hatte vorschlagen wollen, heute am Wochenende eine Fahrt mit ihm zu machen in seinem kleinen Boot. Aber sie durfte der alten Kollegin das nicht antun, nicht bei ihr zu erscheinen. Selbst die Mutter fand es in der Ordnung, daß sie zur Ebertz ging. »Eine schöne Person«, sagte Frau Professor, anerkennend nickend, »und immer so elegant!« Daß sie Fräulein Ebertz mit Marga verwechselte, davon ließ sie sich nicht abbringen.
Nun ging Marie-Luise gleich am Morgen schon in ihrem guten hellen Kleid fort, denn sie konnte von der Schule nicht mehr nach Hause fahren, sie mußte diesen Mittag in der Stadt eine Kleinigkeit essen. Als sie nun am Nachmittag, unweit des Zentral-Schlachthofes, in die große, zum Teil noch unbebaute Fläche öder Felder stapfte, war sie verstimmt. Oh, wieviel schöner wäre es gewesen, von des Doktors kleinem Boot sich sanft dahintragen zu lassen über eine klare Flut, dann unter tiefhängenden Uferbäumen Rast zu machen, auszuruhen, zu träumen! Sie fühlte sich müde und abgespannt. Sie fand es hier weder schön noch frei; die benachbarte Enge der Stadt schien zudem ihren ganzen Unrat hierher ausgespien zu haben. Überall Müll, Scherben, Emailletöpfe ohne Boden. Rostige Drahtenden klammerten sich an ihre Füße, und in einer Sandgrube, in der ein Pennbruder vielleicht genächtigt hatte, lag zwischen zerknüllten Papieren eine ganze Ausrüstung: Hut ohne Krempe, zerfetzte Hose, noch zerfetzteres Hemd und die traurigen Überreste von ein Paar Schuhen. Sie stieg darüber weg und fragte sich, wie man wohl dazu kommen konnte, hier zu wohnen. Aber überall wurde hier gebaut. Gleich einzelnen Zähnen im zahnlosen Maul dieser Freiheit, ragten hochstöckige Häuser auf und blickten ungehindert ins Öde.
Fräulein Ebertz kam Marie-Luise schon auf der Treppe entgegen, oben von ihrem Fenster im vierten Stock hatte sie die bereits kommen sehen. Sie hatte wirklich die ersehnten zwei Fenster, eines nach Osten und eines nach Westen; diesseits und jenseits des schmalen Korridors eine kleine Stube und geradeaus eine winzige Küche. Die Küche lag nach Norden, aber das war grade gut, so war es da im Hochsommer auch nicht heiß.
»Überhaupt die Luft hier! Ich lebe ordentlich auf, Büchner.« Da Marie-Luise die erste war, so konnte die Ebertz ihr alles in Ruhe zeigen; sie tat es mit förmlich genießerischem Behagen. »Und eine Ruhe ist hier, eine Ruhe! Über mir wohnt niemand mehr und trampelt mir auf dem Kopf herum wie in meiner früheren Wohnung. Unten sind Kinder – überall viele Kinder – ich höre ihre Stimmen, aber das ist ganz reizend, dadurch ist man doch nicht einsam.« Wie das bestätigend, drang jetzt schrilles Kindergeschrei zu ihnen herauf. »Ich kenne die Kinder alle. Ich habe ihnen versprochen, wenn was übrigbleibt vom Kuchen, dann kriegen sie's.«
Und es würde etwas übrigbleiben vom Kuchen. Fräulein Ebertz hatte aufgetischt wie für ein Regiment Soldaten; da konnten sechs Lehrerinnen nicht dagegen an. Sie waren jetzt vollzählig: außer Marie-Luise Fräulein Naunberg, Fräulein Düsterweg, Fräulein Blank, eine neue: Fräulein Zimmermann und Cläre Spiegel.
Fräulein Spiegel war Braut; eine glückselige Braut, denn sie hatte lange genug warten müssen. Sieben Jahre war sie heimlich verlobt gewesen, aber nun trug sie den blanken goldenen Ring öffentlich, und sie hatte es durchgesetzt, daß sie, trotz ihrer demnächstigen Heirat, an der Schule blieb. Man war nicht gern darauf eingegangen, man hätte ihr lieber eine Abfindungssumme gezahlt, die für eine bescheidene Einrichtung eine große Beihilfe gewesen wäre, vielleicht sogar genügt hätte. Aber Fräulein Spiegel hatte alle Hebel angesetzt, keinen Weg gescheut, war überall vorstellig geworden, und da sie Beziehungen hatte, einflußreiche Beziehungen, zudem eine bewährte Lehrkraft war, schon zehn Jahre festangestellt, war es ihr geglückt.
»Ich werde mich hüten, freiwillig meine sichere Anstellung aufzugeben«, erklärte sie heute, »man kann doch niemals wissen, wie's kommt. Das Sechzehnfache meines Monatsgehalts – viertausendachthundert – eine ganz schöne Summe, aber wie rasch ist die doch aufgebraucht!«
»Ihr Bräutigam verdient aber doch auch, Fräulein Spiegel.«
»Na, was gibt's denn schon groß bei der Bank. Jetzt endlich dreihundert Mark. Hätte er das schon eher gehabt, hätten wir auch eher geheiratet. Denn meinen Sie, meine Damen, daß es bekömmlich ist, so lange verlobt zu sein? Man wird ganz elend dabei, man hat sich doch lieb und möchte zusammenkommen.« Fräulein Spiegel drehte an ihrem goldenen Ring und sah auf ihn nieder, damit die anderen die Tränen nicht sehen sollten, die ihr in die Augen geschossen waren. »Mein Bräutigam hat leider keine sehr starke Gesundheit, die lange Zeit im Felde hat ihm einen Knacks gegeben – glauben Sie, meine Damen, daß die Behörde, wenn sie meine Existenz nach meinem Austritt für gesichert hielte, mir eine Abfindungssumme geboten hätte? Nein, nein, ich muß schon bleiben, auch als Verheiratete, Gott sei Dank, daß ich's durchgesetzt habe!« Und sie seufzte tief auf und fuhr sich, als sei ihr von einer großen Anstrengung der Schweiß ausgebrochen, mit dem Taschentuch über die bleiche Stirn. Sie war nach Marie-Luise die Jüngste in dem Kreise, der bei Fräulein Ebertz um den Tisch im Westzimmer saß, durch dessen Fenster man nachher den Sonnenuntergang bewundern sollte. Noch tanzten Sonnenkringel auf der weißen Kaffeedecke und huschten auch über das Haar von Fräulein Spiegel, das nicht mehr sehr reich war und an den Schläfen schon ein paar vereinzelte graue Fäden wies.
»Aber wenn nun Kinder kommen«, sagte die Naunberg, die prinzipiell gegen das Heiraten war, es besonders bei einer Lehrerin für Unfug erklärte, »was dann? 'ne nette Bescherung kann das ja werden!«
»Ach, es wird schon nicht!« Die Braut sagte das leichthin, aber eine Welle von Blut stieg ihr zu Kopf.
Die anderen sahen's und lachten. Ausgenommen die Naunberg, die nahm nicht teil an der Heiterkeit: »Ich lebe schon zu lange in der Welt, fünfzig Jahre, ich weiß, wie's kommt. Kinder, keine will sie, aber die fragen nicht danach, sie stellen sich eben ein.«
»Das kommt bei uns gar nicht in Betracht«, sagte energisch die Braut.
Jetzt lachte Fräulein Naunberg. Sie lachte der anderen so ins Gesicht, daß die gereizt auffuhr: »Wir wissen, was wir tun, wir sind nicht leichtsinnig!« Und dann, wie sich selber beruhigend: »Ich bin überdies auch nicht mehr so jung, ich kriege gar keine Kinder.«
»Na, na!«
»Sie sind wirklich geradezu unangenehm, Fräulein Naunberg!« Und als die übrigen erneut lachten, fing die Braut nervös an zu weinen: »Ihr seid alle unangenehm!« sprang auf und wollte gehen.
Da sprang Marie-Luise auch auf und hielt sie fest. Warm legte sich ihr Arm um die Erregte: »Das war ja alles Spaß, Liebste, Sie werden Fräulein Ebertz den schönen Nachmittag doch nicht verderben! Kommen Sie, setzen Sie sich wieder!« Und sie zog Fräulein Spiegel neben sich nieder. »Wir sind ganz unter uns, da kann man doch mal Spaß machen!« Aber im Grunde dachte Marie-Luise, daß das gar kein Spaß sei.
Der Friede war wiederhergestellt, bis das Thema »Bubikopf oder nicht Bubikopf« aufkam. Fräulein Zimmermann, die Neue, an Fräulein Ebertz' Stelle Gekommene, hatte, abgesehen von einem für ihre starken Waden viel zu kurzen Rock, auch einen Bubikopf. Er stand ihr nicht übel, er war zudem gut gepflegt und onduliert.
»Sie denken wohl, Sie sehen damit jünger aus«, meinte spitzig die Ebertz; sie konnte sich nicht helfen, sie hatte eben eine Pike auf die Nachfolgerin.
»Ach nein, das denke ich nicht.« Die Neue blieb ganz ruhig, sie war bis jetzt immer Landlehrerin gewesen und hatte noch gute Nerven. Daß sie geglaubt hatte, sie müsse in der Stadt moderner sein und sich darum einen Bubenkopf hatte schneiden lassen, das unterdrückte sie, sie sagte nur wie zu ihrer Entschuldigung, denn sie sah bei keiner der andern einen so kurzen Rock und einen Bubenkopf: »Ja, wissen Sie, bei uns auf dem Land sind die morastigen Wege, man käme gar nicht durch mit 'nem langen Rock. Und dann zur Erntezeit, wenn die Mütter alle so viel Arbeit haben, oder auch im strengen Winter unter den dicken Wollmützen, dann ist es zu gefährlich mit 'ner großen Frisur. Ich hatte ein paarmal schon was gefangen.«
»Läuse?«
Fräulein Zimmermann nickte stumm.
Die anderen bestätigten verständnisvoll: ja, sowas kam zuweilen auch hier bei den Kindern vor. Dann kamen die zur Schulschwester unter die Läusekappe. Die Kinder ließen sich das auch gern gefallen, sie waren ja froh, die Einquartierung loszuwerden.
»Zu mir kam mal eine«, sagte Fräulein Blank, die bis jetzt ziemlich schweigsam gewesen war und auf ihrem stillen Gesicht den Stempel einer Wunschlosigkeit trug, die fast an geistige Öde grenzte, »die bat mich, ob ihre große und ihre kleine Schwester von zu Hause nicht auch zur Schulschwester kommen dürften.«
»Das ist wirklich eine famose Einrichtung mit der Kappe! Die hatten wir nicht bei uns. Ich nahm Petroleum und dann schwarze Seife.«
»Was, Fräulein Zimmermann?! Sie mußten das doch wohl nicht selber machen?« Alle waren entsetzt.
»Was bleibt einem übrig, wenn die Mutter in der Ernte dem Mann helfen muß, sich abrackert bis zur Erschöpfung? Dafür brachten sie mir nachher, wenn sie wieder mehr Zeit hatten, auch Butter und frische Eier; ich habe in der Kriegszeit nie solche Not gelitten wie die Kolleginnen in der Stadt. Ach, es ist doch schön auf dem Lande!« Und die Neue erzählte mit einer gewissen Sehnsucht von ihrer Zeit als Landlehrerin. »Ich hatte erst nie dran gedacht, aufs Land zu gehen, der Gedanke war mir gräßlich, da so zu versauern, aber als ich bereits fünf Jahre gewartet hatte und dann erfuhr, daß ich auf der Liste an zweiundsiebzigster Stelle stehe – es kommen doch noch längst nicht ein Dutzend städtische Lehrstellen jährlich zur Besetzung – da war ich froh, daß ich auf dem Lande unterkam. Und es war auch gar nicht schlimm. Als die Bauern erst mal ihre Abneigung – ›wir wollen ein Pferdegespann, kein Kuhgespann‹ – überwunden hatten, ging es sogar sehr gut. Oh, die Bauern sind kritisch, kritischer als Eltern in der Stadt, aber wenn man sie erst mal für sich hat, dann hat man sie auch ganz. Die Zeit ist mir auch nie lang geworden. Ich hielt Lesezirkel ab mit der Dorfjugend, Turnabende mit den schulentlassenen Mädchen – und was haben wir für wunderschöne Aufführungen gemacht: ›Der armen Kinder Weihnachtsabend‹ – ›Bei Heinzelmanns‹ – ›Muttersegen‹ – ›Im Zauberwald‹ – ›Die Wunderglocke‹ – ganz besonders unsere Krippenspiele waren herrlich! Im November fing ich schon an mit den Vorbereitungen, die Kinder lernten ihre Rollen, und ich schneiderte die Kostüme. Nur aus Papier – aber fein – fein! Engelsflügel, aus Pappe geschnitten und dann goldbronziert. Ich hatte ein so wunderhübsches Mädchen mit langem blonden, natürlich gewelltem Haar, das saß jedes Jahr als Maria vor der Krippe und hielt eine große Puppe als Jesuskind auf dem Schoß. Wenn die so fromm guckte, dann waren die Leute allemal ganz weg. Und die Mütter waren tief gerührt über ihre Kinder als Engel, und die Väter zerquetschten mir fast die Hände. O ja, ich habe viel Anerkennung auf dem Lande gehabt!«
»Wahrscheinlich mehr als wir hier in der Stadt«, sagte die Naunberg etwas bitter. »Ich lasse keine Aufführungen mehr zu von Seiten meiner Klasse. Was habe ich beim letztenmal für Ärger gehabt! Nichts als Neid und Mißgunst unter den Kindern. Und die Mütter waren nicht weniger mißgünstig, jede von ihnen wollte, daß ihre Tochter am meisten aufzusagen hätte oder ganz vorne stünde. Nein, Anerkennung hat man von unserm Publikum nicht. Und was war das für ein Reinfall mit der Gehricke! Sie erinnern sich doch alle noch? Die Mutter hatte mich so gequält, ich sollte ihre Asta einen kleinen Reigen tanzen lassen – naja – aber da kommt die Göre, die doch schon nahe an vierzehn ist, am Aufführungsabend auf einmal mit so gut wie nichts an auf die Bühne, und fängt an die Beine so zu schmeißen, daß man alles, aber auch alles sieht! Das war was für unser Publikum, es klatschte wie besessen, ich sah's ordentlich, wie den Vätern die Spucke zusammenlief. Und die Göre warf Kußhändchen und hatte sich und schmiß ihre Augen, ganz schon wie eine vom Varieté. Ich habe mich zu Tode geschämt. Und was habe ich dazu noch für einen Rüffel vom Rektor gekriegt!«
»Ja, Anerkennung hat man wenig in unserem Beruf«, darüber waren sich alle einig. Jede gab nun etwas von ihren Erfahrungen zum besten, sprach von den Enttäuschungen, die keiner erspart geblieben waren.
Nur Marie-Luise schwieg, sie glaubte an keine Enttäuschung. Und ihre Gedanken waren heimlich bei Doktor Droste – wo der wohl jetzt sein mußte mit seinem Boot? Sie sah das sanft treiben über stilles Wasser und sah ihn, wie er langgestreckt lag, ohne zu rudern, das hübsche männliche Gesicht aufwärtsgekehrt und mit offenen Augen träumend. Sie erschrak fast, als die Tür sich jetzt auftat und ein Kind erschien, eine Schüssel mit Schlagsahne auf beiden Händen vor sich hertragend.
»Na endlich«, sagte die Ebertz. »Warum kommst du denn jetzt erst?«
»Sie war noch nicht fertig, er mußte ihr erst schlagen.« Trude Schindler war nie um eine Ausrede verlegen.
»Mein Gott, Trude, du? Wie kommst du denn hierher?« Marie-Luise war sehr erstaunt, ihre Schülerin hier zu sehen.
Die Schindler grinste.
Fräulein Ebertz sagte: »Ihre Mutter wäscht für mich, die Kleine macht mir ab und zu Gänge. Ein gutes Kind bist du, Trudchen, nicht wahr?« Sie strich der noch immer Grienenden über den buschigen Haarschopf: »Geh jetzt in die Küche – wart, nachher!« und nickte, ihr zublinzelnd. Sie mochte den lüsternen Blick gesehen haben, den das Mädchen zögernd an dem Kuchen auf dem Tisch hängen ließ.
Marie-Luise war die erste, die gekommen war, sie war nun auch die erste, die ging. Nun hatte sie genug; sie hatte auch von allen den weitesten Weg. Die anderen blieben noch, Fräulein Ebertz kündigte eine Bowle an, die sie trinken würden, wenn die Sonne völlig unter war und der Mond erschien. Man war sehr heiter, die kleine Abwechslung im ständigen Schultrott tat allen gut. Der Rektor, der eigentlich versprochen hatte, wenn auch etwas später, zu kommen, war nicht erschienen. Das empfand Marie-Luise als eine Wohltat; wenn der gekommen wäre, hätte er jetzt gewiß darauf bestanden, sie zu geleiten, und sie war viel tausendmal lieber allein. Der Sommerabend lag schon in Schatten auf der sandigen Fläche mit den vereinzelten Häusern und machte alles grau. Niemand begegnete ihr, nur vor ihr her trabte ein kleiner Troß Kinder, die kreischten und balgten sich ausgelassen. Ein schon größerer Knabe schien der Anführer zu sein; in einem Mädchen, dessen Mähne im Abendwind wild wehte, glaubte Marie-Luise die Schindler zu erkennen. Jetzt waren die Kinder an der Sandkuhle angelangt, mit erneutem Gekreisch warfen sie sich da nieder. Sie buddelten im Sand, sie waren so emsig beschäftigt, daß sie Marie-Luise nicht bemerkten, als bis die bei ihnen stand: »Was sucht ihr denn da?«
Der Junge hatte sich die zerfetzte Hose aus dem zurückgelassenen Plunder herausgesucht, sie zusammengewickelt und hielt sie nun unterm Arm, er stülpte Trude gerade den verbeulten Hut auf: »Den nehmen wir ooch noch mit, det kann man alles verkloppen.«
Nun, ekeln tun die sich nicht, dachte Marie-Luise. Aber das war doch schrecklich, ganz unerhört, daß die sich dieses hier auflasen – wer mochte die Lumpen angehabt haben? »Laß liegen, laß sofort liegen«, wehrte sie hastig der Schindler. Aber die zeigte sich ganz erstaunt: »Warum denn?« Und der Junge bestätigte: »Ob man in 'n Müllkasten stökert oder hier, det bleibt sich doch gleich. Trude, man fix, such!« Er stieß das Mädchen an, das eben dabei war, aus durchgefettetem Zeitungspapier ein großes Stück Kuchen auszuwickeln. Sie brach mit den beschmutzten Fingern ein Stück davon ab und schob es sich in den Mund.
»Wer ist das?« fragte Marie-Luise, auf den Jungen blickend.
»Mein Bruder.« Trude sagte das mit einer gewissen Genugtuung, sie schien stolz auf den schlanken Burschen. Der war in der Tat hübsch, trotz der Ähnlichkeit der Geschwister weit hübscher als das Mädchen, aber Marie-Luise mißfielen seine Augen; die waren schmal und schlau und unruhig. Sie hörte den Bengel jetzt hinter sich her lachen, denn sie hatte Trude den Kuchen aus der Hand geschlagen voller Abscheu: »Pfui, Trude, wie kannst du bloß!« Nun lachte der Bruder die Schwester wohl aus – oder sie? –
Als Marie-Luise die Straßen erreicht hatte, waren die voller denn je, heute am Abend des Wochenschlusses. Frauen kamen noch von eiligem Einkauf, Mädchen in ganz kurzen Röcken, die Bubiköpfe onduliert, die Lippen mit dem Lippenstift scharf rotgefärbt, gingen mit ihren Galans ins Kino oder in eines der Bierlokale, die, auf dem Schild von bunten Glasbirnen leuchtend umrahmt, ihren »Naturgarten« anpriesen. In den Destillen – alle paar Schritt eine – war es wie im Taubenschlag – rein, raus – aber heraus kamen weniger Männer als hineingingen.
Eine dicke Luft machte sich unangenehm bemerkbar, die jetzt sehr Eilende glaubte kaum atmen zu können. Fräulein Ebertz hatte recht, ein bißchen weiter hinaus war's doch besser. Es hatte Marie-Luise auf ödem Feld unsicher dünken wollen, aber war es hier nicht fast unsicherer? Noch nie war sie am Abend hier allein gegangen; wenn sie zu später Stunde einmal, was selten genug vorkam, aus der Schule kam, so ging sie immer mit anderen. Heute ging sie ganz allein, und es war ihr, als wandere sie durch eine ihr gänzlich fremde Welt. Und doch war es die Gegend ihrer Schule. Aber Gesichter, rotweiß mit brennenden Lippen, Gesichter unter schief sitzenden Hüten, Zigaretten im Mundwinkel, Gesichter abgetrieben, mit der Stempelmarke: aus, vorbei, und auch Gesichter jung, noch kinderjung, und doch schon mit der Gier nach Vergnügen, ließen sich sonst am Tage nicht so hier sehen. Das, was an ihr vorübereilte, sie streifte, anstieß und doch keine Notiz von ihr nahm, machte sie fast betroffen. Das arbeitende Berlin – hatte sie vielleicht gedacht, daß das nicht auch einmal sein Vergnügen haben wollte? Kinder jagten sich noch übers Trottoir, sie blickte zurück nach der Schindler und ihrem Troß, aber von denen war nichts zu sehen, die trieben sich gewiß noch draußen herum und hatten zwischen Müll und Scherben den von Fräulein Ebertz gespendeten Kuchen verzehrt. Zerknülltes Papier, Lumpen, Reste von Gott weiß was und von wem – sie mußte gleich am nächsten Tag Trude doch ernstlich vor so etwas warnen.
Hier in diesem vielstöckigen Haus, in dem nur wenige Fenster trüben Lichtschimmer zeigten, wohnte ja wohl die Trude Schindler? Marie-Luise erinnerte sich jetzt genau: hier war sie gewesen, als sie das kleine Lenchen besuchen wollte. Hier war der dunkle Torweg, durch den sie damals gegangen waren und dann über einen ganz engen Hof mit Müllkästen nach dem Hintergebäude. Und wieder fühlte sie den leisen Schauder wie damals und das traurige Verwundern, daß so viele Kinder so luft- und lichtlos wohnen mußten. Ein Ungeheuer mit schwarz aufgesperrtem gähnenden Rachen, so erschien ihr heute das Haus, von dessen Mauern viel Putz abgefallen war und an dessen Höhe winzige Balkone wie verwahrloste Vogelkäfige hingen. Balkone – zu was? Sie waren nur da, um Wäschefetzen zu trocknen, Luft und Licht war auch auf ihnen nicht zu erhaschen.
Einen scheuen Blick warf Marie-Luise jetzt im Vorübergehen in den Torweg – da sah sie etwas im Dunkeln stehen. Ein kleines Etwas, und das weinte; sie hörte ein Schluchzen. Es ging sie nichts an, und doch trat sie näher – ein Kind! »Mein Kind, warum weinst du denn?«
Da sah Lenchen Krause sie an.
Ja, das war Lenchen Krause, das mutterlose Lenchen von vor drei Jahren! Noch fast ebenso klein, ebenso hübsch mit dem zarten Gesichtchen und den großen ängstlichen Augen. Marie-Luises Hand schob sich unter das zarte Kinn: »Kennst du mich noch?«
Ein Lächeln huschte über das verweinte Gesicht, aber es verschwand gleich wieder. Das Kind nickte: »Fräulein Büchner«, und machte einen Knicks.
»Ach, Lenchen, bei wem bist du denn? Wohnst du noch immer hier?«
Das Kind hatte stumm genickt. »Vater kommt gleich«, sagte es jetzt und spähte auf die Straße.
»Warum kommst du denn nicht mehr zu mir in die Schule? Da war's doch so schön, nicht wahr, Lenchen?« Wieder das stumme Nicken und gleich darauf ein scheues, erschrockenes Sich-von-ihr-Zurückziehen. Marie-Luise sah einen Mann, groß, breitschultrig, der auf Lenchen die Hand legte, und erkannte Herrn Krause.
Er hatte sie auch gleich erkannt. »Was wollen Sie denn schon wieder hier?«
Ein Schrecken durchfuhr sie. Genau so wie damals im Konferenzzimmer, trat er jetzt unterm dunklen Torbogen nahe an sie heran, seine Augen drohten und verschlangen sie doch zugleich gierig.
»Lassen Sie mich los! Was wollen Sie denn von mir?!« Er hatte nach ihrem Arm gegriffen, sie aber riß sich los und stürzte fort. Kam er hinter ihr her? Kam er und packte sie wieder an? Ja, er kam, er kam! Sie hörte seine Schritte, andere Tritte verschlangen die nicht, sie hörte die seinen aus allen heraus.
Und sie lief, was sie konnte. Lief an Menschen vorbei, die sich nicht an sie kehrten, rannte sich Herzklopfen, rannte sich atemlos. Oh, seine Schritte! Oh, immer noch seine Schritte! Kein Schutzmann. Ihr Blick flog suchend umher: immer noch keiner! Aber da die Elektrische – endlich! Haltestelle! Sie sprang auf, wartete erst gar nicht das völlige Halten ab, fiel förmlich hinein in den Wagen.
O Gott, da war er ja noch! Er stand an der Haltestelle, hellbeleuchtet, die Mütze ganz hinten ins Genick geschoben, mit einem widerwärtigen Lachen in seinem Gesicht. Seine Augen suchten, entdeckten sie, bohrten sich in die ihren, seine stechenden, saugenden, unverschämten Blicke hielten die ihren fest. Und jetzt, was tat er jetzt? Er hob seine Hand – drohte er ihr?