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Das ganze Kollegium war teilnehmend: das war doch abscheulich, das, was Fräulein Büchner passiert war! Besonders die Lehrerinnen regte es sehr auf: also nicht einmal sicher mehr war man in seinem Beruf?! Wenn irgend etwas einem Vater nicht paßte, mußte man sich von so einem frechen Menschen noch belästigen lassen, insultieren?! Es war unerhört!
Marie-Luise hätte nichts von ihrem Erlebnis mit Herrn Krause erzählt – sie mied seitdem die Straße, in der er wohnte – wenn nicht die ganze Gegend voll von ihm gewesen wäre. Immer war es ihr, als würde sie von ihm verfolgt. Und sie sah ihn auch in der Tat, bald morgens, bald mittags; auf ihrem Weg von der Elektrischen zur Schule und von der Schule zur Elektrischen tauchte er plötzlich auf und ging in einem gewissen Abstand hinter ihr her, blieb stehen, wenn sie stehenblieb, ging weiter, wenn sie weiter ging. Er redete sie nicht an, aber er machte sich bemerklich auf andere Weise, hustete, räusperte, pfiff, sang, schnalzte mit der Zunge und schmatzte mit den Lippen wie bei einem Kuß. Sie drehte sich nicht nach ihm um, sie ging nur um so schneller, aber immer, immer hörte sie ihn hinter sich; zuweilen sogar ein unverschämtes »Pstst«.
Das galt ihr. Aber sie konnte nichts, gar nichts gegen ihn tun. Es war heller Tag, Leute gingen neben, vor, hinter ihr, sie durfte eigentlich sicher vor ihm sein, aber doch fürchtete sie sich. Es war so scheußlich, sich verfolgt zu wissen. Nachts fing sie an, schlecht zu schlafen, sie ängstigte sich schon vor dem morgenden Schulweg, sie schalt sich selber dumm, ganz töricht, geradezu kindisch – mochte er doch hinter ihr herlaufen, da liefen viele, die Straße gehörte allen, jeder hatte das Recht, auf ihr zu gehen – aber sein Hinterhergehen, sein Hinterhergehen! Es war wie bei jenem Spiel, das die Kinder spielen und das sie von ihrer Kinderzeit her noch kannte: »Wir möchten gern spazierengehn, wenn nur das böse Tier nicht käme« – eins hinter dem andern, am Zipfel des Kleides sich haltend, schon in Angst furchtsam schielend: »Ein Uhr, es kommt nicht, zwei Uhr, es kommt nicht« – und so weiter, bis das Tier, hinterm Busch versteckt, plötzlich vorstürzt und alles schreit: »Es kommt!« O dieser Schreck für das Kinderherz, ein Schreck, der auch die Füße fast lähmt! Diesen Schrecken fühlte jetzt täglich Marie-Luise: das Tier, das böse Tier, kam es? »Ein Uhr, es kommt nicht« – Gott sei Dank, noch nicht – aber es kommt, es kommt!
Selbst wenn er einmal nicht kam, nirgends zu sehen war, gelangte sie nicht zu innerer Ruhe. Sie war nervös geworden.
Heute machte sich ihre Nervosität in einem heftigen Schluchzen Luft. Sie saß auf einem Stuhl im Lehrerzimmer, die Kolleginnen standen um sie herum; Fräulein Düsterweg hielt ihr ein Glas Wasser vor: »Beruhigen Sie sich doch, liebes Fräulein Büchner – ach ja, man muß sich in so vieles finden!« Fräulein Düsterweg war eine mitleidige Seele, durch viel Trauriges, das sie in ihrer Familie erlebt hatte, war sie bei Todesfällen und dergleichen immer sofort auf dem Plan.
Die Schulglocke läutete blechern, läutete immerzu, aber niemand dachte an Anfangen. »Erzählen Sie«, drängte die Naunberg, »erzählen Sie noch rasch! Hatte er ein Messer? Salzsäure? Einen Revolver?« Aller Augen wurden groß, starr vor Entsetzen: Salzsäure, Messer, Revolver!
Aber jetzt lachte Marie-Luise hell auf; sie mußte lachen, trotzdem es ihr wahrhaftig nicht lächerlich zumute war. »Ach was«, sagte sie mit einem Anflug ihrer alten Herzhaftigkeit, »Messer, Revolver – Unsinn! Aber er saß in der Elektrischen mir gegenüber. Als ich am Alexanderplatz einstieg, war er nicht drin, sonst hätte ich auf die nächste gewartet, und wäre ich auch zu spät gekommen. Aber gleich danach war's. Und er sah mich immer so an, daß ich mich gar nicht mehr traute, aufzusehen. Ich sah immer starr vor mich hin. Da setzte er seinen Fuß auf den meinen. Ich tat, als merkte ich's nicht; weil nicht viele im Wagen waren, die für mich Partei genommen hätten, sagte ich nichts. Nur ein alter jüdischer Mann, der es mit ansah, brummte unwillig. Da sagte er: ›Wat sagste?‹ und sah dabei den Alten so herausfordernd an, daß der ganz klein wurde und, wie um Entschuldigung bittend, an seinen Hut griff. Er schimpfte dann etwas vor sich hin von ›Juden und solchem Geschmeiß‹, so daß der alte Mann bei der nächsten Haltestelle ausstieg. Ich wäre auch gern ausgestiegen, aber er wäre mir ja nachgekommen, da war ich in der Bahn doch noch sicherer. Die wurde voller, er stand auf und stellte sich dicht vor mich, seine Knie drückte er an meine Knie – es war aber nicht nötig, so eng war es nicht – er drückte mich so, daß es weh tat. Bei der nächsten Kurve tat er so, als verlöre er das Gleichgewicht und setzte sich mir – platsch – auf den Schoß. Ich sprang auf: ›Was fällt Ihnen ein?‹ Da lachte er, und der ganze Wagen lachte. Und das war besonders niederträchtig, er sagte: ›Hab dich man nich, Kleine, ich kenne dir doch!‹ Und sah sich dabei so im Wagen um, daß alle noch mehr lachten. Oh, es klang so gemein! Ich lief heraus, ich sprang ab, noch im Fahren, fiel hin, sprang auf und rannte hierher. Oh, ich kann gar nicht mehr!« Sie zitterte und wurde totenbleich.
»Ich werde es bei der Polizei melden«, sagte später der Rektor. »So geht das nicht weiter.« Er hätte gern gesagt: »Begib dich in meinen Schutz«, aber er mußte sagen: »Sie müssen sich unter polizeilichen Schutz stellen.«
Das geschah denn auch. Auf Herrn Krause war die Polizei ohnehin scharf – »vorbestraft« – und wovon lebte der Mann? Die im Hause wohnten, die wußten es freilich »wovon«, aber die sagten es nicht – du sollst von deinem Nachbarn nichts Böses reden, was redet der sonst von dir? …
Nun hatte Marie-Luise Ruhe vor dem Menschen. Schon seit einem Vierteljahr hatte sie Herrn Krause nicht mehr bemerkt. Aber es war ihr nicht angenehm zu wissen: wenn du morgens zur Schule gehst, sieht der Sipo, der an der Haltestelle der Elektrischen steht, scharf nach dir, und wenn du dich einmal umguckst, dann merkst du, er folgt dir in einiger Entfernung. Und mittags war es ebenso, dann stand der Beamte vor der Schule herum. Oh, das war auch ein Verfolgtwerden! Es machte sie unfrei und war geradezu lästig. Lächerlich feige von ihr, sie hätte sich gar nicht an die Polizei wenden sollen, der freche Kerl wäre es ohnehin schon von selber müde geworden, ihr nachzulaufen! Sie wohnte ja auch Gott sei Dank so weit draußen, daß er dahin nicht kam. Trotzdem flog ihr Blick, wenn sie abends von einem Ausgang zurückkehrte, mit einer gewissen Unruhe umher, hastig schlüpfte sie in ihre Haustür und schloß rasch. Nein, zur rechten Ruhe kam sie nicht mehr.
»Sie sehen nicht mehr so blühend aus, sind Sie nicht wohl?« fragte besorgt Doktor Droste. »Ihre Augen sind nicht hell, sie strahlen nicht.« Er sah ihr tief und zärtlich forschend hinein: »Fehlt Ihnen etwas?«
Vor Unwillen wurde sie rot. Was brauchte er ihr das zu sagen, das sah sie ja selber, daß ihre Augen umschattet waren und dunkel von einer Trauer, die wie eine Vorahnung in ihr schlummerte. Was ihr fehlte? Auch das brauchte er sie nicht zu fragen, sie würde ihm ja doch niemals die Wahrheit sagen. Und Marga sagte sie die auch nicht. Sie schob ihr Bedrücktsein auf die Sorge um die Mutter, denn Marga, die Arme um sie schlingend, bat: »Sage mir doch, was du hast? Du bist so ganz anders. Du willst es mir nur nicht sagen – warum nicht? Oh, das ist häßlich von dir – mein Gott, du liebst mich nicht mehr!« Und Marga machte ihr dann eine von jenen Szenen, wie sie die von früher her kannte, eine Szene, die heute aber doch noch anders war als damals, da sie zusammen das Seminar besuchten. Heute war nichts Kindisches mehr dabei; nur Leidenschaft. Marga fühlte: die Freundin geht dir verloren. Sie klammerte sich an Marie-Luise, überschüttete sie mit Vorwürfen, mit Küssen und mit Tränen – es wurde Marie-Luise zuwider. Unsanft schob sie die andere von sich: »Laß mich!« Gewiß, sie hatte Marga noch lieb, sehr lieb, wenn die ruhig und vernünftig war, aber so, wie die einstmalige Freundin es wollte, nein, so konnte sie es nicht. »Die einstmalige Freundin« – ach, war es wirklich schon so lange aus und vorbei, daß sie »einstmalig« denken konnte?! …
»Sie sind wohl nicht mehr so mit der Moebius befreundet?« fragte die Ebertz. Bei der Hochzeit von Fräulein Spiegel hatten sie sich getroffen; Marie-Luise gehörte zu den geladenen Gästen, die alte Kollegin hatte sich nur in der Kirche eingefunden aus Neugier. Cläre Spiegel ließ sich trauen mit allem Drum und Dran: weißes Seidenkleid, Myrtenkranz, einhüllender Schleier, blumenstreuende Kinder und ein Brautwagen mit einem Diener, der den Schlag aufriß und der Braut den Atlasschuh auf das Trittbrett setzen half, das die in ihrem vor freudiger Erregung allzu starken Zittern nicht finden konnte.
»Viel zu viel Trara«, sagten die Kolleginnen, die sich alle die Trauung ansahen; besonders Fräulein Naunberg schüttelte den Kopf. Aber wer konnte es Cläre Spiegel verdenken, daß sie diesen Tag voll und ganz auskosten wollte? Acht Jahre gewartet, geliebt, gebangt, gehärmt, vor Ungeduld verzehrt.
»Wie alt ist Fräulein Spiegel eigentlich?« flüsterte Fräulein Zimmermann, die noch nicht genau über alle Kolleginnen Bescheid wußte, der Naunberg zu.
»Siebenunddreißig«, flüsterte die hinter der vorgehaltenen Hand. »Kein heuriges Häschen mehr. Aber sie sieht heute wirklich noch recht gut aus.«
Sehr hübsch, dachte Marie-Luise. Mit großer Teilnahme hingen ihre Blicke an der Braut. Der Bräutigam verschwand ganz daneben, nicht groß, blaß und unscheinbar, aber Cläre Spiegel hatte Wangen, auf denen es leuchtete wie Morgenrot. Ihre Augen schimmerten in hoffnungsfreudigem Glanz, ihre Gestalt, sonst oft ein wenig schlapp in der Haltung, stand so schlank und aufrecht vorm Altar, daß sie jung wirkte, ganz jung. Wie das Glück der Liebe doch verschönt!
Fräulein Spiegel, die jetzige Frau Halbhaus, hatte acht Tage Urlaub bekommen, dann mußte sie wieder in der Schule sein. Die Kolleginnen teilten sich in ihre Vertretung: Marie-Luise nahm großmütig die meisten Stunden auf sich, sie hatte sowieso Fräulein Spiegel schon mehrere abgenommen gehabt, statt ihrer den monatlichen Ausflug mit den Schülerinnen gemacht, die Mädchen ins Völkerkundemuseum geführt und mit ihnen dem Verkehrsunterricht auf der Straße beigewohnt. Die Braut hatte zu guter Letzt noch so viel zu besorgen gehabt: Papiere, Wohnungseinrichtung, alle möglichen Hochzeitsvorbereitungen. Aber ein bißchen mehr hätte sie doch noch bei ihrer Schule sein müssen, Marie-Luise war ganz erschrocken.
In der Klasse war keine rechte Disziplin, keine ungeteilte Aufmerksamkeit. Und es waren doch schon so große Mädchen, zwölf- und dreizehnjährige, von denen man etwas verlangen konnte. Ein ständiges Wispern und Knistern war zu hören, so, als ob Mäuse heimlich an etwas nagten; zuweilen aber auch eine ganz laute Unruhe. Marie-Luise klopfte derb mit dem Zeigestock der Landkarte auf: »Sofort vollste Ruhe! Wer noch einmal mit der Nachbarin spricht oder mit Papier unterm Pult raschelt, den trage ich ein!« Sie ließ sich das Klassenbuch herausgeben, das einige Schlaue im Schrank versteckt hatten. Lauter Lobe eingetragen? Fräulein Spiegel schien Auszeichnungen sehr freigebig ausgeteilt zu haben. »Magda Lau – Elfriede Mai – Susanne Redlich – Berta Bredereck« –? Und gerade diese vier waren die störendsten und ausgelassensten! Aha, Fräulein Spiegel hatte sich durch Lobe Disziplin verschaffen wollen, die Quälgeister so zur Ruhe bringen. Armes Fräulein Spiegel, der hatte die Klasse schon zu lange auf der Nase herumgetanzt. Konnte, mußte das denn nicht so sein, wenn man Braut war? Aufmerksamkeit, Gedanken der Lehrerin weg. Wenn man zudem noch eine Braut ist, der die Erfüllung sehnlichster Wünsche sich endlich, endlich naht! Über Marie-Luises Nase vertiefte sich die Denkfalte: ja, es wurde ihr jetzt klar: eine Lehrerin muß auf vieles verzichten, sie darf sich nicht so ablenken lassen. Aber wie? Soll sie, muß sie darum leben wie eine Nonne? Eine Nonne, deren Kleidung zwar eine weltliche bleibt, die nicht ihr Haar verbirgt wie ihre Schwester im Kloster, die aber gleich jener doch auf manches verzichten muß. Marie-Luise seufzte auf: selbst auf Sehnsucht verzichten?! Ihre Augen zwinkerten, ein zartes Rot stieg ihr in die jetzt oft blassen Wangen und vertiefte sich immer mehr: hatte sie selber vielleicht auch Sehnsucht? Oh, was waren das für dumme Gedanken! Sie gab sich unwillig einen Ruck: fort damit, aufgepaßt, die Gedanken keinen Augenblick abirren lassen, denn sonst ist das Wispern und Knistern in der Klasse gleich wieder da und das Mäusegeraschel unter den Pulten.
»Au, ist die streng!« Das war die Meinung der Klasse. »Weißte«, sagte Elfriede Mai zu Magda Lau auf dem Nachhauseweg, »streng is sie, aber verdient hatten wir die Lobe von der Spiegel doch auch nicht. Und daß die nun futsch sind, weil sie uns 'nen Tadel eingetragen hat, das ist eigentlich nur gerecht.«
»Es ärgert mich aber doch«, sagte die Lau.
Die Klasse bedauerte es fast, daß nach acht Tagen ihre eigentliche Lehrerin wieder erschien.
»Na, wie ging's denn, habt ihr mich auch nicht blamiert?« Frau Cläre Halbhaus war recht munter; sie lächelte und neigte sich strahlend über einen Blumentopf, den ihr die Schülerinnen hingestellt hatten. Sie war ja so glücklich, so glücklich, sie hätte die ganze Klasse an ihrem Glück teilnehmen lassen mögen. Sechzig Mädchenaugen musterten neugierig Fräulein Spiegel: die war nun eine Frau! Sie konnten sich noch gar nicht daran gewöhnen, immer wieder rief eine: »Fräulein!« Und dann gab es jedesmal ein großes Hallo.
»Ihr könnt alle mal kommen«, sagte die junge Frau, »euch meine Wohnung besehen. Nur nicht alle auf einmal. So groß ist die nicht.« Mit neuer Frische nahm die nun Verheiratete den Unterricht wieder auf. Es gab nicht mehr so viel Lobe. Die Halbhaus hatte selber das Gefühl, daß sie in letzter Zeit manches versäumt hatte. Marie-Luise, mit der sie über ihre Klasse sprach, hielt auch nicht mit ihrer Meinung zurück. »Sie müssen die Zügel stramm nehmen fürs erste; wenn die Kinder erst wieder im Zuge sind, dann können sie ja immer wieder ein bißchen nachlassen. Zutraulich sollen sie ja bleiben, einen lieb haben.«
Die Halbhaus schüttelte Marie-Luise die Hand: »Meine Mädels hatten Sie so gern. Sie sind wirklich eine Kollegin, wie man sie selten findet. Ach bitte, bleiben Sie mir immer so eine!« Sie war Marie-Luise aufrichtig dankbar, sie war jetzt überhaupt unendlich viel liebenswürdiger als früher.
Wie die Kollegin es sich jetzt wohl eingerichtet haben mochte mit ihrem Haushalt? fragte sich Marie-Luise. Das war gar nicht so einfach. Jetzt im Winter kam sie frühestens um zwei aus der Schule; um drei mußte ihr Mann schon wieder im Bureau sein, er hatte nur eine Stunde Tischzeit.
»Es geht großartig«, sagte die junge Frau. »Mittags kommt er nicht nach Hause, ich gebe ihm Stullen mit. Aber um sieben hat er Schluß, und dann fährt er rasch mit der Elektrischen, und dann essen wir Mittag. Ich koche immer was Gutes; weil wir nur die eine Mahlzeit haben, kann ich ja auch dafür was aufwenden.«
»Essen Sie denn nicht, wenn Sie aus der Schule kommen?« fragte Marie-Luise. »Ich bin immer so schrecklich hungrig dann, daß ich mein Mittagessen kaum erwarten kann.«
»I wo! Ich werde doch nicht essen ohne meinen Mann! Ich habe auch gar kein Bedürfnis nach Essen. Wenn mir flau wird, trinke ich 'ne Tasse Kaffee, aber auch nicht immer. Eigentlich nur, wenn ich nachmittags die Spielstunde habe, denn das lange Stehen auf dem Hof und das langweilige Zusehen, das macht sonst zu müde.«
Das konnte nicht gesund sein. Marie-Luise fühlte, wie es zehrte und wie der Körper rebellisch nach Nahrung verlangte, wenn man den ganzen Vormittag stand, bald hier, bald da in der Klasse, jetzt sich nahe bei diesen Kindern hielt, jetzt bei jenen; man durfte sich ja niemals bequem auf dem Katheder hinsetzen, denn dann paßten die hinteren Bänke gewiß nicht auf. Immer blieb man in Bewegung, der Mund war in Bewegung und der Geist war in Bewegung. Oh, es war nicht das, was man bei seiner Ausbildung gelernt hatte, was man jetzt von sich gab, das war das wenigste – Gedächtniswerk, Formelwesen – das, was man lehrte, das mußte man in sich selber suchen, es finden und es bilden, je nach Bedürfnis, jeden Tag neu, und bei jedem Kinde neu. Ach, und die Fragen! Man mußte auf alle möglichen Fragen gefaßt sein. Wenn es auch erst Kinder waren, sie konnten doch schon Fragen stellen, daß man sich verwunderte. Der Geist durfte niemals einschlafen, während der ganzen Unterrichtsstunden nicht. Und je älter die Kinder wurden, desto wacher mußte man bleiben.
Wenn Marie-Luise jetzt ihre Klasse überschaute, in der manches Kind schon zu lange Beine hatte für die niedrigen Bänke, kam es ihr immer mehr zum Bewußtsein: die Aufgabe, die deiner harrt, die ist groß. Sie hatte Neunjährige, auch Zehnjährige waren darunter – Fräulein Naunberg hatte jetzt Mädchen, die zu Ostern schon abgingen, wie wurde sie nur mit denen fertig? Aber nie schien es Fräulein Naunberg schwer zu werden. Sie hatte noch kein graues Haar, obgleich sie die Fünfzig selber zugab, war immer ganz guter Dinge und besuchte Theater und Konzerte. Wirklich ein harmonisches Leben, durch nichts getrübt. Und wie war's mit Fräulein Blank? Nun, die nahm eben alles, wie es kam; ob Ärger da war oder nicht, immer trug ihr stilles Gesicht den Stempel der Wunschlosigkeit. Und Fräulein Düsterweg? Die hatte soviel Leid bei sich zu Hause – ihr Vater war blind und ihre Mutter war eigentlich seit Jahren schon durch eine Lähmung behindert – für die war das Lehrerinsein Mittel zu dem Zweck, für ihre Familie sorgen zu können.
Nur Fräulein Zimmermann, die von der Landschule nach der Stadt Gekommene, hatte viel zu klagen: »Meine Nerven, meine Nerven! Ich habe vordem nie gewußt, daß ich Nerven habe. Meine Kinder früher waren auch ungezogen, da hatte ich sogar Jungens in der Klasse, aber wenn ich sagte: ›Stell dich in die Ecke, schäm dich‹, dann schämten sie sich. Und wenn ich sagte: ›Haltet den Mund‹, dann hielten sie ihn auch. Aber hier sind sie ja zu frech. Immer noch 'ne Antwort und immer noch eine, und dann schnabbern sie los, daß einem die Galle hoch kommt. Ach Gott, wär ich doch lieber geblieben, wo ich war! Was fang ich bloß mit der Bande hier an?«
Bei Marie-Luise in der Klasse war noch keine frech geworden, aber freilich, das konnte ja noch kommen. Würde vielleicht noch kommen. Kritisch beobachtete sie die Schindler. Die war jetzt sauberer, die struppige Haarmähne ein wenig besser gepflegt, auf der Seite gescheitelt, zu einer Art Bubikopf verschnitten und ohne die nickende Schleife; ein anderes Kleid hatte sie auch seit Weihnachten an: dunklen Plisseerock und bunten Jumper. Es war seit ungefähr einem Jahr das erstemal, daß Marie-Luise etwas Neues, Besseres an ihr sah. Aber das Gesicht von Trude Schindler war nicht besser geworden. So jung es war, dieses bleiche Gesicht mit der breiten Nase und den etwas schräg stehenden Augen, es war doch alt, so alt wie von einer, die schon vieles erlebt hat.
»Trude, gehst du jetzt auch noch zu Fräulein Ebertz, ihr die Gänge machen?«
Das Mädchen schüttelte verneinend: »Mein Bruder geht for ihr. Den hat sie auch lieber. Ich bin ihr zu keß.«
Marie-Luise konnte ein Lächeln kaum unterdrücken: über sich selbst schien die Trude ja ganz im klaren. ›Keß‹ – hieß das nicht dreist, frech? »Aber warum bist du denn so, Kind? Wäre es nicht viel netter, du wärest bescheiden und nicht gleich mit dem Mund so vorne weg?«
»Das sagen Sie so!« Ein seltsames Lächeln zog den Mund des Mädchens in die Breite, es lag förmlich in diesem Lächeln: ach, was bist du so dumm. »Mutter is doch auch so, un Alma auch so – warum denn ich nicht?«
Wie recht das Kind hatte – wie konnte es denn auch anders sein? Ein Gefühl wallte in Marie-Luise auf, das zusammengesetzt war aus Empörung und Mitleid: Trude war an sich gar nicht so schlimm, ein Mädchen, aus dem in guter Umgebung etwas Besseres zu machen gewesen wäre; an Verstand fehlte es ihr nicht und auch nicht an einer gewissen Gutmütigkeit. Hatte sie nicht letztlich dem blinden Bettler, der immer an der Ecke stand, den Hut, der seiner zitternden Hand entfallen war, aufgehoben, die herausgerollten Pfennige zusammengelesen und ihm alles wieder in die Hand gedrückt? Und die Schwächeren und Kleineren auf dem Hof rannte sie auch nie über den Haufen. Nein, ein Interesse war Trude Schindler schon wert! Wenn ich nur einmal ihre Mutter zu fassen kriegen könnte, dachte Marie-Luise. Nie ließ sich Frau Schindler bei ihr sehen. Aber Alma, Trudes große Schwester, die sah sie. Die war einstmals bei Fräulein Naunberg in der Klasse gewesen, nach deren Erinnerung dieselbe Nummer wie Trude, nur hübscher. Nun sah sie diese Alma eines Mittags an der Straßenecke, wo ein Konfitürengeschäft sein Schaufenster hatte, mit Trude stehen. Pfefferkuchenbruch, bunte Bonbons, billige Pralinés in Massen. Auffallend schlanke Beine in seidigen Florstrümpfen, gut gewachsen, den Bubikopf über und über gelockt, so stand Alma Schindler und wählte. Sie gab Trude Geld, und die ging in den Laden und kaufte. Als Marie-Luise auf die Elektrische wartete, sah sie die beiden dann davonschlendern, ganz vertieft in den Inhalt einer Tüte.
»Das war gestern wohl deine Schwester? Du hast mich nicht gesehen, ich habe euch aber gesehen, vorm Konfitürengeschäft an der Ecke. Hat die denn so viel Geld zum Vernaschen?«
Es sah erst aus, als wollte das grünblasse Gesicht von Trude sich röten, aber es blieb bei einem ganz schwachen und sofort wieder verschwindenden Anhauch. Mit einem gewissen Stolz klang es: »Die kann sich das leisten. Unsere Alma verdient gut!«
»Womit? Geht sie in die Fabrik?«
Das Kind schüttelte: nein.
»Ist sie in Stellung?«
Wieder: nein. Bei allem nein, und zuletzt nach dem verschiedenen verneinenden Schütteln wieder das schon bekannte seltsame Lächeln, das die blassen Lippen ins Breite zog.
Nun fragte die Lehrerin nicht mehr. Ach, es war traurig, daß man ein Kind nicht herausreißen konnte aus solcher Umgebung! Aber was nützt das auch, wenn man eine Pflanze herausreißt aus einem Boden, in dem sie schon lange gewurzelt hat, eine Wurzelfaser bleibt doch noch darin stecken – zu spät, zu spät! Und doch nahm Marie-Luise sich vor, über Trude Schindler mit dem Rektor zu sprechen; vielleicht war es noch besser bei der nächsten Zusammenkunft mit dem Elternbeirat. Dazu war der ja da – ein paar verläßliche Väter, ein paar ehrenwerte Mütter – nicht nur um der eignen Kinder willen, nein über alle sollte der mitberaten, die Lehrerschaft unterstützen. Aber merkwürdig, über die Schindlers war nichts bekannt. Selbst Herr Meineke, der Vizewirt war in dem Hause, in dem die Schindlers wohnten, wußte nichts von ihnen. Es wohnten eben zu viele Parteien im Haus. Wenn seine Kinder nicht gerade mal mit den Kindern von Hausbewohnern zusammen spielten, dann erfuhr er nie etwas. Was ging's ihn auch an? Und wie konnte er auch als Kriegsinvalide mit seinem einen Bein all die vielen Treppen hinauf- und hinunterklettern? »Mir ist nichts Nachteiliges über die Schindlers bekannt, sie zahlen ihre Miete, und daß der Mann öfters mal blau macht – na, das kommt bei den besten Familien vor!«
»Es ist eine erwachsene Tochter bei den Schindlers – was tut die denn?«
»Ach, Sie meinen die Alma, Fräulein!« Jetzt wußte Herr Meineke auf einmal besser Bescheid, »'n hübsches Mädel! Die können Sie alle Abend jetzt in der Frankfurter Allee im Kino sehen, da spritzt sie Parfüm. Als Page.«
Daß Alma Schindler Parfüm spritzte, das merkte Marie-Luise bald, das merkte die ganze Klasse. Witternd hoben die Kinder ihre Nasen: das roch ja so wundervoll, roch wie ein ganzes Blumenbeet, nach Hyazinthen und Nelken. Sowie Trude Schindler die Klasse betrat, war die Luft voll von schwerem Geruch, sie brachte ihn mit in ihren Kleidern.
»Aber, Trude, wie riechst du denn wieder?« Nein, das war ja nicht zu ertragen! Die Lehrerin riß das Fenster auf, schon hatte sie Kopfweh: ach, frische Luft, reine Luft! Aber die Kinder beklagten sich: es war Winter, sie froren. Das Fenster mußte geschlossen werden. Und das war doch gerade schön, daß es so roch; genau wie im Kino. Es waren einige der Kinder schon dort gewesen, hinten herum, Trude hatte sie mitgenommen. Die konnte jetzt immer herein, und selbst wenn außen ein Zettel quer übergeklebt war: »Nicht für Jugendliche«.
Alle Abende stand jetzt die Zehnjährige vor dem Eingang des Kinos, an dessen Außenwand schreiend bunte Bilder lockten. Starke Männer und feine Herren im Frack und Zylinder, schöne Mädchen, die wenig anhatten, Verbrecher, die von Polizisten in Ketten geführt wurden – oft grausige Bilder, aber gerade die lockten. Und noch lockender waren die wechselnden Inschriften auf großen Plakaten: »Sünden der Liebe« – »Die Hochzeitsnacht« – »Gemordete Unschuld« – »Der Geliebte der Fürstin« – »Richtblock oder auf lebenslänglich« – und was andere vielsagende Titel noch alles verhießen. Knallig, immer recht knallig, dann hat der Kinobesitzer volles Haus; andere Filme zogen hier nicht.
Frierend, die Hände ohne Handschuhe in ihre Achselhöhlen geklemmt, daß sie da wärmer wurden, bald den einen Fuß, bald den anderen in dem dünnen Strumpf, der nur an der Wade noch Strumpf war – Füßling war keiner mehr da, nur noch Loch – unter den kurzen Plisseerock in die Höhe ziehend, stand das Kind draußen und wartete auf die ältere Schwester. »Gemordete Unschuld«, das hatte Trude nun schon dreimal gesehen. Beim erstenmal, als der Mann das kleine Mädchen ins Kornfeld lockte, da war es sehr spannend gewesen, auch beim zweitenmal noch, aber beim drittenmal wußte sie nun schon ganz genau, warum er sie in das Kornfeld lockte, und da war's ihr langweilig. Da drehte sie sich lieber draußen herum und beobachtete, was für welche hier hin und her spazierten, und von wem und warum die sich ansprechen ließen.
Wenn dann Alma herauskam, war die meistens auch nicht allein. Wenn es ein »Besserer« war, dann kannte sie die kleine Schwester nicht, dann drückte die sich auch schon von selber. Wenn es aber nur Herr Julius Krause war, der, der mit ihnen im Hause wohnte, dann gingen sie langsam zu dritt die breite Straße hinauf und hinab. Und Herr Krause suchte für Alma Bekanntschaft.