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18

In dieser Nacht schlief halb Berlin nicht, so heftig tobte ein Sturm. Der warf Dachziegel und Schieferplatten herunter, daß sie krachend auf dem Bürgersteig in Stücke brachen; es war ordentlich gefährlich zu gehen. Den Elektrischen stemmte sich der Sturmwind so bös fauchend entgegen, daß man fürchten mußte, sie würden aus den Geleisen gehoben, nur langsam kamen sie weiter, denn rauschend schoben sich ihre Räder durch angestaute, halb vereiste Regenschmutztümpel. Die Omnibusse schwankten; wie matte Fliegen kriechend, so torkelten langsam die sonst so schnellen auf ihrer vorgeschriebenen Tour, niemand stieg mehr ein, niemand stieg mehr aus. Wen nicht etwas äußerst Dringendes, Unaufschiebbares auf die Straße trieb, verließ nicht das Haus.

Eigentlich war es äußerst dringend, ganz unaufschiebbar, denn je rascher er es hinter sich hatte, desto besser war es, dachte Theo Schindler. Er grauste sich eigentlich davor – aber sie würde ja nicht aufwachen. Der Schlüssel war im Nachtschränkchen – oh, er wußte ganz genau, wo der lag, neben dem Portemonnaie mit dem Kleingeld für die täglichen Ausgaben, dem Taschentuch und den Malzbonbons, deren sie immer da ein paar liegen hatte für den Fall, daß sie husten mußte bei Nacht. Dann ging er mit dem Schlüssel an den Schreibtisch – links das Schubfach war es – schloß auf, nahm die Scheine aus der kleinen Eisenkassette, die offen war – schloß den Schub wieder ab, legte den Schlüssel ins Nachtschränkchen neben ihr Bett und verzog sich dann leise. Eine Kleinigkeit! Ihren Entreeschlüssel hatte er ja und auch den Hausschlüssel. Anderen Tages würde er ihr die beiden Schlüssel zurückgeben – ach ja, es mußte gleich anderen Tages sein, rasch, ehe sie's merkte, daß ihr Geld fort war! Und ganz aufgeregt würde er ihr dann erzählen, daß er jetzt fortkam – gleich – nach außerhalb. Nach – nach – nach, den Ort mußte er sich eben noch ausdenken – weit weg mußte der sein. Es war alles ganz plötzlich so gekommen; ein feiner Herr, der bei ihnen im Hotel abgestiegen war, hatte Wohlgefallen an ihm gefunden, und der nahm ihn nun sofort mit. Da kriegte er's gut, da wurde er persönlicher Diener. Oh, er wollte ihr schon tüchtig was vorschwindeln! Ach, und dann ging er fort von ihr auf Nimmerwiedersehen, brauchte ihr ewiges lästiges Fragen nicht mehr zu hören, kaufte sich ein Fahrrad von dem Geld und lud sich ein hübsches Mädel ein, mit der er im Restaurant fein aß: gehacktes Beefsteak mit recht viel Zwiebeln und Ei drauf. Und dann ging er zu den Boxern und sah es sich an, wie die sich einen Kinnhaken versetzten oder aus Maul und Nase bluteten, daß die rote Suppe lief wie bei einem Schwein, das geschlachtet wird. Ei, das war fein!

Aber wenn sie etwa doch gleich an ihren Schreibtisch ging ihm noch etwas mitgeben wollte, einen Schein schenken zum Abschied?! Nein, das durfte nicht so kommen, denn dann – dann –!

Er kniff die Augen zu, preßte die Lippen zusammen, daß sie blutlos wurden – ein schmaler weißer Strich – er hörte sie ganz deutlich schreien: »Dieb, Dieb, du hast mir mein Geld gestohlen, Dieb, zu Hilfe!« Oh, was für eine laute, schreckliche Stimme! Nein, so durfte es nicht kommen, denn dann, dann –

»Du Aas, willste wohl schweigen?!«

Der Junge holte tief Luft und ballte die roten harten Knabenfinger zu Fäusten. Er zitterte am ganzen Körper. Aber dann beruhigte er sich: wozu denn so dumm sein? Er brauchte ja gar nicht mehr hinzugehen – verduftete einfach – wer wollte ihn finden? Ihre Schlüssel, die schmiß er irgendwo weg; in ein Wasser. Aber wenn sie zu seinen Eltern ginge! Ihn bei denen aufsuchte? Verdammt, verdammt – konnte er sie denn gar nicht loswerden, die Olle?!

Theo zog die Stirne in finstere Falten und dachte angestrengt nach: er wollte sie los sein, er mußte sie los sein. Er hatte es auch satt, bei ihr den lieben Jungen zu spielen – hundert Mark, was war das, das war dafür noch lange nicht genug – das kostete mehr. Und er wußte auch nicht, was er noch sagen sollte. Sie bestand jetzt so darauf: »Zeig mir den Anzug und den Mantel für die hundert Mark, ich will beides jetzt sehen!« Sie war mißtrauisch geworden. Was fing er nun an?! In einer Verlegenheit, die ihn immer mehr bedrängte, zu einer Pein wurde, und von der Pein sich auswuchs zu einer Wut, die ohnmächtig war, aber darum nicht minder groß, schlang der Junge seine harten roten Finger ineinander, daß die Gelenke knackten.

Draußen tobte der Sturm, nein, heute nacht konnte er noch nichts anfangen, heute tobte der Wind zu sehr, kein Mensch konnte schlafen, heute lag sie wach und würde auch noch lange wach bleiben. Heute war nicht die richtige Nacht dafür.

Er lauschte dem Unwetter, das durch seine Straße fegte, stöhnend gegen die Hauswand drückte, gegen die Scheiben prasselte, und war fast dankbar dafür: nun nochmals vierundzwanzig Stunden Frist. Diese Frist hatte er noch.

Und sie hatte die auch noch.

 

Fräulein Ebertz war in der Tat etwas stutzig geworden: warum zeigte ihr Theo den Anzug nicht? Und den Lodenumhang. Letzten Sonntag war er bei ihr gewesen – das Wetter war schlecht – und wieder ohne sein Lodencape. Es sei ihm zu schade.

Zu schade –? »Ich habe es dir geschenkt, und du sollst es anziehen bei solchem Wetter, damit du dich nicht erkältest. Und auch den Anzug hast du nicht an. Auch zu schade, was?« Sie hatte strenger mit ihm gesprochen, als es sonst je der Fall war, sie ärgerte sich über seine Loddrigkeit; denn daß da etwas anderes sein könnte, das dachte sie nicht. Sie war nur befremdet, weil sie solche Loddrigkeit nicht an ihm gewohnt war. Was war mit dem Jungen los? Es mußte etwas mit ihm nicht ganz in Ordnung sein. Sie sah ihn scharf an, und er fühlte ihren Blick und rutschte verlegen auf seinem Stuhl.

Hatte er etwa einen dummen Streich gemacht? Ihr konnte er ruhig beichten. Sie hatte schon so viel Jugend unter den Fingern gehabt – fünfunddreißig Jahre Schule – und wenn ihre Kinder damals auch jünger gewesen waren, Kind bleibt Kind, Kinder sind sich alle gleich. Und als ob sie blind wäre, so sah die Ebertz nicht, daß es kein Kind mehr war, das da saß, sondern ein großer starker Bengel, dessen knochige Handgelenke lang aus den kurzen Ärmeln der Jacke sich streckten, dessen Gesicht, das vor einem Jahr noch weich gewesen war, fast mädchenhaft hübsch, gestrafftere Züge bekommen hatte, grob ausgeprägte.

Er versprach ihr, wenn er das nächste Mal käme, im neuen Anzug und Lodencape zu erscheinen: sicher, gewiß und wahrhaftig, nein, er vergaß es dann nicht! Und sie lächelte, als er gegangen war, wieder beruhigt: nein, es war doch nichts mit ihm los, er war ein guter Junge geblieben. Nur ein bißchen schludrig und unordentlich von Haus her, aber das gab sich schon mit den Jahren. Erst mußte die Zeit kommen, daß er nach hübschen Mädchen guckte und hübsche Mädchen nach ihm, dann würde er schon mehr auf sich geben, dann würde sie ihm nicht genug neue Anzüge schaffen können und Mäntel und Schlipse und Gott weiß was noch.

Fräulein Ebertz dachte heute wieder an Theo. Wie so oft. Aber heute noch lebhafter. Sie hatte eigentlich gedacht, er würde kommen. Dieser Gedanke verwunderte sie selber: wie war sie nur darauf gekommen? Es war nicht Sonntag und auch nicht Theos Ausgangstag. Aber sie wurde den ganzen Nachmittag und besonders nun am Abend das Gefühl nicht los: jetzt, jetzt kommt er. Er kommt! Bei jedem Knacken der Tür war sie zusammengefahren; bald glaubte sie Tappen über den Flur zu hören, bald Tasten die Wand entlang. Sie saß ganz allein bei ihrer Lampe und legte Patience. Das tat sie immer, wenn sie sich beruhigen wollte. Und sie war unruhig, obgleich sie nicht wußte, warum. Was war ihr denn fehlgegangen, über was hatte sie sich Unruhe zu machen?

Sie dachte an ihren Tod. Und das Herz krampfte sich ihr plötzlich zusammen: sie war eigentlich doch recht einsam. Wenn ein einsamer alter Mensch stirbt, hinterläßt er keine Lücke, niemand ist da, der um ihn weint. Das ist ein schmerzlicher Gedanke. Aber wiederum auch ein tröstlicher. Man geht aus der Welt, still, wie man gelebt hat, wird ausgelöscht wie ein Licht, das dem, der es angezündet hat, nun lange genug gebrannt zu haben scheint. Ihre Mutter war älter gewesen als sie, da die starb. Sie blickte hinüber zu einer Photographie auf dem Schreibtisch, holte sie sich dann unter die Lampe und besah sie lange – einundsechzig – sie war noch nicht ganz sechzig – aber kein langlebiges Geschlecht, die Ebertz. Auch ihr Vater war mit sechzig gestorben. Sie holte sich dessen Photographie auch herüber, stellte beide Bilder vor sich hin und besah sie mit schwimmenden Augen: »Liebe, liebe Eltern, wenn wir erst wieder vereint sind!«

Die Einsame überlief es wie ein Schauer: nein, sie fürchtete sich nicht vor dem eigenen Tode, und doch war es ein merkwürdiges Gefühl, so lebhaft an den denken zu müssen. Heute so ganz besonders lebhaft. Es wäre wirklich gut, wenn Theo heute noch käme, und bald, am liebsten gleich! Sie wischte sich über die Augen und fühlte dann an ihr Herz: mein Gott, wie das klopfte! Das klopfte, als hätte sie Angst. Aber sie hatte ja gar keine Angst – vor was denn auch?

Sie stellte die Photographien ihrer Eltern auf den Schreibtisch zurück, legte die Karten fort und trat ans Fenster. Sie lehnte ihre heiß gewordene pulsende Stirn an die kalte, vom dagegenschlagenden Regen angelaufene Scheibe und blickte hinaus: dunkel, so dunkel! Wie schwach glimmende Funken sah sie die Lichter Berlins in der trostlosen Nacht aufzucken; sie duckten sich gleich wieder, von Windstößen und Regengüssen überschauert.

Wenn der junge Lehrer, den sie vor vielen, vielen Jahren gern gehabt hatte, sich nicht hätte so durchquälen müssen, bis er eine Anstellung hatte und die Auszehrung bekam, dann hätte sie jetzt einen Mann und vielleicht Kinder. Aber ihr Mann konnte ja auch gestorben sein, und Kinder wären vielleicht nicht da, oder sie waren in alle Welt verstreut – ach, ob so oder so, einsam blieb man immer, einsam im Alter. Es war doch gut, daß sie wenigstens den Theo hatte. Der schien jetzt freilich ein Strick werden zu wollen – aber die besten Kinder haben ja mal so eine Zeit, in der sie allerlei Allotria treiben. Der Junge würde doch die hundert Mark nicht etwa verplempert haben? Oder sie sich zu Hause haben abnehmen lassen? Es war doch auffallend, daß er nicht in dem neuen Anzug kam. So oft sie fragte, so oft Ausreden. Gott im Himmel, Gott im Himmel! Sie erhob auf einmal wie flehend die Hände.

Ein zerrissener Himmel schaute zu ihr herein, Wolkenfratzen gähnten sie an, ein kläglicher Mond guckte für Sekunden hervor, um gleich wieder zu verschwinden. Nein, bei dem Wetter kam Theo nicht! Schade, dann hätte sie ihn gleich gefragt, damit ihr die Angst von der Seele kam. Ach, ach! Die Winde heulten – Stimmen des Himmels, oder waren es Stimmen der Erde, Menschenstimmen, die jammernd um Hilfe riefen? Es klang wie Angstschreie. Eine schaudervolle Nacht. Eine Nacht zum Fürchten. Und sie fürchtete sich.

Aber in der folgenden Nacht hatte das Wetter ausgetobt, und sie schlief sanft. Als Theo Schindler leise die Türe aufklinkte und sich in die Stube stahl, sah er sie liegen. Er trug eine kleine elektrische Taschenlampe, deren Strahl fiel gerade auf sie, er schirmte ihn rasch mit der Hand. Nur nicht sie aufwecken! Seine Schuhe hatte er draußen gelassen, er schlich auf Strümpfen. Ein Dieb, ein Dieb – Diebe schleichen immer auf Strümpfen, trotzdem war es ihm, als träte er zu hart auf. Seine Brauen zogen sich zusammen, ängstlich blickten seine Augen: schlief sie auch, schlief sie auch ganz fest?

Ihre Haare waren in einen Zopf geflochten, der hing ihr grau und spärlich über die Brust. Jetzt bewegten sich ihre Lippen ein wenig, wie ein Lächeln glitt es über ihr Gesicht, er erschrak so, daß er zitterte: sah sie ihn, erkannte sie ihn? So lächelte sie immer, wenn er kam. Nein, ihre Augen blieben geschlossen! Vorsichtig näherte er sich, schon streckte er die Hand aus – da, da hörte er etwas! Was war das? Er entsetzte sich. Es war ihr Atem; der ging so leicht und so gleichmäßig, wie die Uhr an der Wand tickte. Und doch hielt er seinen Atem an, daß der ihm die Kehle fast sprengte und die Augen aus dem Kopf trieb. Er konnte die Luft nicht länger anhalten; koste es, was es wolle, er mußte ausatmen.

Und nun hatte er auch den Schub des Nachttisches dicht neben ihr aufgezogen, der Schlüssel zum Schreibtisch war in seiner Hand.

Das schwerste Stück war vollbracht. Jetzt war das Geld bald sein – das Geld, das Geld! Ein triumphierendes Lachen glitt über sein entschlossenes Gesicht – die Schublade, die Schublade im Schreibtisch, er schloß sie auf – das ging alles wie geschmiert – in Hast griff er nach der Kassette – er war nicht mehr so vorsichtig leise in seiner Gier – der eiserne Deckel klappte zurück. Die Scheine, wo waren die Scheine? Fünf Hundertmarkscheine mußten es sein – er hatte sie doch selber gesehen. Sie waren nicht drin. Statt ihrer ein kleines Sparkassenbuch. Was war das?!

Es flimmerte ihm vor den Augen. Da stand es eingetragen: »500 Mark«, und nochmals in Buchstaben: »Fünfhundert Mark«. Und eingezahlt waren sie am 30. November. Das Luder, o dies alte heimtückische Luder, eingezahlt hatte sie heimlich sein Geld – sein Geld! Er starrte auf das Buch, auf die leere Kassette: wie kriegte er nun sein Geld?! Da zwang ihn etwas, den Kopf zu wenden. Mechanisch drehte er sich um – sie!

Sie sitzt aufrecht im Bett, die Arme hat sie erhoben und starrt ihn an. Hu, wie sie ihn anstarrt! Die Augen treten ihr fast aus dem Kopf, sie hat die ganz weit aufgerissen, den Mund auch ganz weit. Will sie nach Luft schnappen? Nach ihm schnappen? Will sie schreien: »Dieb! Zu Hilfe!?«

Er steht wie gelähmt – eine Sekunde – dann, und dann – seine roten harten Knabenfinger strecken sich aus: muß er sich auf sie stürzen, sie packen, würgen – zudrücken? Fest, fester? Sie darf nicht schreien.

Da ist sie auch schon zurückgesunken, ohne zu schreien, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben.

Ist sie tot? Die Arme sind ihr schlaff herabgefallen. Jetzt wagte er sich ganz nah heran. Ihr Mund steht noch offen, ihre Augen sind auch noch auf; aber sie sehen ihn nicht mehr, obgleich sie ihn noch immer anstarren.

Ja, jetzt muß sie tot sein! Er war immer neugierig mal einen Toten zu sehen – nun sieht er den Tod. Hier ist er.

Und plötzlich hat ihn all seine Frechheit verlassen; ein Zittern überkommt ihn, ein eisiges Frieren. Scheu wagt er es, ihre Arme zu berühren; sie sind nicht warm, obgleich sie im Bette liegt, sie erkalten. Läuft ihr Gesicht nicht bläulich an? Er hat gehört: Erwürgte werden blau – hat er sie denn erwürgt?

Er ist sich nicht bewußt: hat er sie erwürgt oder hat der Schrecken sie umgebracht? Seine Kiefer schlagen aufeinander, daß die Zähne klappern, er kann die Hände nicht ruhig halten, sie greifen krampfig in die leere Luft. Daß sie doch lieber wieder lebendig wäre! Ach ja, lebendig, lebendig! Vielleicht wacht sie wieder auf? Aber nein, das darf doch nicht sein – »Dieb!« – dann war er verraten.

»Mörder!« Auch das glaubte er zu hören. Ist es ihre Stimme, die das ruft?

Und ihre Augen, ihre weitoffenen Augen, wie die ihn vorwurfsvoll anstieren!

»Kieken Sie mir doch nich so an!« Er zerrt ihr das große federgefüllte Plumeau von den Füßen und wirft es ihr über den Kopf, daß nichts mehr von den Augen zu sehen ist, die ihn anstarren. Ihn ängstigen. Die Steppdecke hat er mit dem Plumeau weggezerrt, sie hängt tief herab, er merkt es nicht. Als er sich jetzt mit den Füßen in der Decke verwickelt, packt ihn jähes Entsetzen: Hält sie, die da, die verdeckt liegt, ihn trotzdem fest? Er trampelt die Decke vollends zu Boden, schleift sie nach. Macht sich dann gewaltsam frei: schnell, schnell, nur fort, ihr entfliehen! Und seine Spur verwischen!

 

War es Mord gewesen an dem alten Fräulein, das so ganz allein für sich wohnte im vierten Stock, ziemlich entlegen in einem der neuen Häuser? Die roten Zettel, die Mord ausschreien und demjenigen, der zur Ergreifung des Täters verhilft, eine Belohnung zusichern, waren angeschlagen worden überall in der Riesenstadt, an allen Litfaßsäulen, auf allen Fernbahnhöfen, in den Hallen der Untergrundbahn, auf den Bahnsteigen der Vororte, und weit über Berlin hinaus auch in anderen Städten.

Nun klebten die roten Zettel schon so lange, länger als ein Vierteljahr; der Winter war darüber vergangen, es regte sich bereits wie Lenzesahnung, aber von dem Täter noch immer keine Spur. Kam denn überhaupt ein Täter in Betracht? Selbstverständlich. Die Schublade des Schreibtisches war merkwürdig schief herausgezogen, so, als ob das jemand in großer Hast getan hätte, eine kleine Eisenkassette stand offen – ob viel darin gewesen war? Das wußte man nicht; das Sparkassenbuch, nach dem Fräulein Melitta Ebertz wenige Tage vor ihrem Tode einen Betrag von fünfhundert Mark bei der Sparkasse eingezahlt hatte, das war aber noch vorhanden. Auch schien sonst nichts entwendet, Kleider und Wäsche hingen und lagen sauber und wohlgeordnet mit der peinlichen Sorgfalt, zu der nur ein unbeschäftigtes, in den Ruhestand versetztes altes Fräulein die Zeit hat. Auch die Armbanduhr von Fräulein Ebertz und die lange goldene altmodische Kette, deren man sich in der Schule erinnerte – die Lehrerin hatte sie bei der Feierlichkeit ihres Abgangstages getragen – waren noch da.

Aber die Bettdecke am Boden, niedergetrampelt und zerrissen, deutete auf einen Kampf – und warum war der Toten das dicke Plumeau über den Kopf gezogen? Man hatte sie wohl dadurch erstickt? Denn Spuren anderer Gewalttätigkeit wies die Leiche nicht auf. Es konnte zwar auch ein Herzschlag eingetreten sein. Mit voller Bestimmtheit ließ sich schwer Genaueres feststellen. Denn acht Tage waren bereits vergangen gewesen, ehe es jemandem im Hause einfiel, sich um die alte Mieterin oben zu kümmern. Die lebte ja immer so still, man hörte im Stockwerk darunter nie ihre leichten Fußtritte durch die Decke. Die Kinder im Hause, die waren die ersten, die sie vermißten, denn die warteten auf das Stückchen Schokolade, das sie nie versäumte, ihnen zu spendieren. Als man endlich an der Entreetür von Fräulein Ebertz geklingelt und geklopft und niemand aufgemacht hatte – kein Lebenszeichen sich aus der Wohnung vernehmen ließ – da hatte man die Polizei benachrichtigt und einen Schlosser geholt.

Jedermann im Hause verdächtigte den jungen Menschen, der immer zu Besuch bei dem alten Fräulein gewesen war. Der mußte es getan haben! Wer sollte es denn sonst gewesen sein? Der Bursche kannte ihre Gewohnheiten, der hatte stets Zutritt bei ihr, der mußte sogar den Hausschlüssel gehabt haben, denn heruntergebracht hatte die Alte ihn die vier Treppen nie, wenn er spät abends erst von ihr fortging, das bezeugte die Flurnachbarin. Die wußte das ganz genau, durch das Guckloch ihrer Entreetür konnte man gut sehen, wenn der Besuch von nebenan fortging. Ja, ja, das kam davon, daß die alte Person sich noch mit so einem jungen Kerl eingelassen hatte!

Aber als die Polizei herausbrachte, daß dieser junge Kerl, der den Augen, die durchs Guckloch gespäht hatten, wie zwanzig erschienen war, noch nicht einmal fünfzehn zählte, ein Knabe war, ein Kind, das die alte Lehrerin aus Güte unterrichtet hatte, verstummte die üble Nachrede im Hause; man bedauerte das arme Opfer nur. –

Wo war Theo Schindler? An ihm blieb ein Verdacht hängen. Trotz seiner Jugend, und trotzdem seine Mutter unter Tränen und Schwüren immer wieder versicherte: der Theo war so ein guter Junge, ein so besonders liebes und sanftes Gemüt. Und was hatte der viel von der alten Dame gehalten! Wenn der noch lebte und von ihrem Tod hörte, der brächte sich aus Kummer darüber um. Aber der Theo, ach, der lebte ja auch nicht mehr! Den hatten sie sicher auch umgebracht, verschleppt, vielleicht ins Wasser geschmissen, irgendwo und irgendwie beiseite geschafft. Warum? Das wußte sie sich nicht zu erklären. Aber es gab ja niederträchtige Menschen genug, die sich an hübschen Kindern vergriffen – Knaben oder Mädchen, das war denen ganz egal. O Gott, wenn sie doch auch nicht mehr wäre, nicht weiter zu leben brauchte! In verzweifelte Schreie ausbrechend, wand sich Frau Schindler im Verhör. Auch er, Schindler, stand betreten, verdutzt über die Schreie seines Weibes: so hatte er die ja noch nie gesehen.

Und auch Piefke, der Schlafbursche, stand betreten. Es war ihm gar nicht angenehm, daß man ihm, wie einer Zwiebel, auch die letzte Haut abschälte. Er hatte zwar mit dem verfluchten Bengel sich nie was zu tun gemacht, das konnte er nachweisen, aber er würde nun doch lieber von den Schindlers wegziehen; er, ein ansehnlicher junger Kerl, fand überall eine Bleibe, die angenehmer war, als die hier bei der Frau, die alle naselang heulte.

Auch Alma fand es angenehmer, bei einem Geschäftsmann, mit dem Herr Julius Krause sie bekannt gemacht hatte, eine Stellung anzunehmen; sie ließ sich nicht mehr zu Hause sehen. Das grämte Frau Schindler weiter nicht, die Alma war ja schon lange die meiste Zeit weg gewesen, aber um die beiden Jüngsten trauerte die Mutter. Die Trude in Fürsorgeerziehung, weit weggebracht, es war eine lange Reise bis dahin, und sie durfte sie ja auch doch nicht besuchen! Und der Theo – ach, ihr Theo, der kluge und hübsche Junge, wo war der nun?! In Nächten, in denen sie einsam lag, denn Schindler saß noch in der Kneipe, lauschte sie hinüber zur Bettstatt der Kinder – nichts regte sich darin, kein Atmen kam von dort an ihr Ohr. So leer, so schreckhaft groß und weit die Stube, die früher zu klein, übereng gewesen war von den vielen Menschen! Sie schauderte und fror, weinte und fürchtete sich: »Ach je, ach je, ick hätte mir en bißken mehr kümmern sollen! Kümmern, kümmern – ach je, wie sollt ick det bloß bei die verdammten Jören? Kümmern, ja en bißken mehr kümmern, ach ja, det hätt ick gemußt!« Und sie wimmerte und rang die Hände.

An den Litfaßsäulen war noch ein zweites Plakat angeklebt worden, an den Wänden der Bahnhöfe und in den Hallen der Untergrundbahn:

»Vermißter Knabe.«

Ganz genau war das Signalement des Theo Schindler darauf angegeben. Sein Alter – geboren 23. Oktober 1913 zu Berlin – seine Größe, seine Brustbreite – Statur: schlank, Farbe seiner Haare: aschblond, Farbe seiner Augen: dunkelbraun, Form seines Gesichtes: länglich, Zähne: Backenzähne verschiedentlich hohl oder fehlen. Besondere Kennzeichen: keine.

»Vermißter Knabe« – wer stand nicht alles davor und las das! Ein vermißtes Kind, das interessiert selbst die Weltstadt, die in rasender Eile vorüberrollt.

Aber vergebens winkte dies weiße Plakat dem roten Plakat, das grell von den Wänden herunterdrohte – von Theo Schindler keine Spur.


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