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Auch Marie-Luise fühlte ein Frösteln bis tief in die Seele. Es war aber nicht das häßliche Wetter, das sie frösteln machte. Der Rektor hatte sie zu sich in sein Zimmer rufen lassen und ihr da, am Schreibtisch sitzend und sich kaum nach ihr umblickend, so über die Schulter weg kurz mitgeteilt, die Behörde habe in Anbetracht ihrer Tüchtigkeit den Beschluß gefaßt, sie im Schuldienst zu belassen. »Es steht also Ihrer Heirat nichts im Wege.«
Nun wollte sie zu ihm hingehen, ihm die Hand geben und sich bedanken – er, er war es sicher wieder zum großen Teil, dem sie diese Vergünstigung zu danken hatte – aber die Knie fingen ihr auf einmal an zu zittern, und Worte des Dankes fand sie nicht. Sie brachte nur ein ganz knappes »Ich danke« heraus, neigte den Kopf und verließ das Zimmer.
»Ich werde also nun heiraten«, sagte sie sich. Und eine Gestalt, die sie so genau kannte, richtete sich vor ihr auf. Aber es war nicht die Gestalt des geliebten Mannes, es war die Gestalt einer unglücklichen Frau. Denn die Halbhaus war eine unglückliche Frau – verpfuschte Lehrerin, verpfuschte Gattin. Vielleicht, daß es hie und da einer glücken mochte, beide Berufe zu vereinen, aber unter vielen Hunderten nur einer einzigen. Und auch der niemals restlos, ein Beruf hinkte doch immer etwas nach. Das lag in der Natur schon begründet. Daß die Halbhaus keine solche Stärke, die alles vereinen konnte, war, das war klar – aber würde sie, sie eine solche sein? Auch nicht! Und das ängstigte Marie-Luise namenlos.
Als sie Alwin den Bescheid, den sie bekommen hatte, mitteilte, war keine Freude in ihrer Stimme und auch nicht auf ihrem Gesicht. Diese großen offenen Züge vertrugen keine Verstellung, man konnte lesen in ihnen wie in einem Buch; und der Mann verstand jetzt zu lesen.
»Du scheinst ja wenig erfreut«, sagte er verletzt.
Da hing sie schuldbewußt den Kopf: oh, wie tat es ihr leid, zum Herzbrechen leid, und wie zürnte sie sich, daß sie so ein schwaches, unzulängliches Geschöpf war! Aber dann hob sie den Kopf wieder, sah den Geliebten mit weinenden Augen, die überströmten aus Liebe und Kummer, an, und sagte schluchzend, wie hilfesuchend in flehendem Ton: »Es ist zu schwer, es ist zu schwer, es vereint sich nicht!«
Der Doktor fuhr auf: diese Halbhaus, von der sie einmal erzählt hatte, dann aber nicht mehr, hatte die sie etwa irre gemacht! Das war eine unfähige Person, hysterisch, gänzlich krankhaft! Er schalt in heftigen Worten auf die Kollegin, auf die Schule, aber er war auch böse auf Marie-Luise: wer sagte es denn, daß sie das nicht vereinigen konnte, Lehrerin, Gattin und Mutter?
»Ich sage es.« …
Es war eine tiefe Verstimmung zwischen dem Brautpaar, und die nahm zu mit jedem Tag, denn Marie-Luise ging umher in einem sie durch und durch rüttelnden schweren Ringen. Was sollte sie tun, was war das Rechte? Sie war vor eine Aufgabe gestellt, deren Lösung sie so schnell noch nicht finden konnte: tat sie recht, wenn sie jetzt heiratete, es darauf ankommen ließ, wie es wurde, gut oder nicht gut? Durfte sie überhaupt heiraten, betrog sie den Mann nicht, dem sie sich nur halb gab? Ach, sie würde sich ihm ja mit Wonne ganz geben! Aber, ach, das konnte nicht sein, sie hatten nicht Mittel genug, wenn sie nicht im Amt blieb. Von Zweifeln und Ängsten, von Befürchtungen und Grübeleien geschüttelt, schleppte sie ihre Tage hin. Sie hatte nicht den Mut, einen Entschluß zu fassen. Oh, ein Entschluß, ein Entschluß – und sei es selbst der der Trennung! Ach, wenn ihr doch ein Zeichen würde, wenn doch etwas käme, das ihr sagte: sieh, so mußt du tun!
Sie sprachen vorderhand nicht mehr über die Heirat; mit einer gewissen Scheu vermieden sie es, aber sie trauten sich nun auch nicht mehr, so rückhaltlos zärtlich miteinander zu sein. Es war Marie-Luise lieb, wenn Frau Gläßner bei ihnen saß – besser, man war nicht so ganz allein zusammen. Und auch der Doktor fand das; er, der vormals oft ärgerlich gewesen war, wenn die Gläßners störten, klammerte sich jetzt förmlich an das ältliche Ehepaar. Wenn Marie-Luise denn durchaus die Heirat noch hinausschieben wollte – denn das wollte sie, das sah er ganz deutlich – dann war es gewiß anständiger und ehrlicher von ihm, er hielt sich ferner. Er war doch auch nur ein Mensch, und er liebte dieses Mädchen, liebte Marie-Luise jetzt eigentlich noch mehr als zu Beginn. Und nun, da es ihm zuweilen wie eine dunkel drohende Ahnung auftauchen wollte, daß er sie vielleicht verlieren könnte, kam eine begehrende Heftigkeit über ihn, eine Ungezügeltheit, deren er sich nicht erwehren zu können fürchtete. Oh, diese Schule, diese verfluchte Schule! Schon auf der untersten Stufe des Gymnasiums hatte er die gehaßt. Oft stieg eine Sehnsucht in ihm auf, entfliehen zu können. Auch ihn zermürbte ein Zustand, der nichts Ganzes, der nur ein Halbes war. Wenn er es nun wahr machte, was er schon einmal geplant hatte, auf einem großen Dampfer mit um die Welt fuhr? Dann hatte Marie-Luise Zeit, sich – ohne ihn – zu besinnen. Seine Praxis konnte er ohne Verlust hier aufgeben, die wurde und wurde nicht, und auf all seine Bewerbungen an Krankenhäusern bekam er zurück: »Schon besetzt« – »leider anderweitig vergeben« und so weiter. Wie hatte Marie-Luise doch gesagt? »Es ist zu schwer, zu schwer, es läßt sich nicht vereinen« – ja, ein Arzt sein, der noch keine Praxis hat, und verheiratet sein, das läßt sich in der Tat nicht vereinen. –
Marie-Luise hatte niemanden, bei dem sie sich aussprechen konnte. Die Gläßners waren gut zu ihr, aber was verstanden die! Ihre Mutter war tot, die hätte sie wohl auch nicht verstanden. Marga? O Gott, die? Nein, die ganz sicher nicht. Man war sich ohnehin schon viel ferner gerückt. Die gute Ebertz? Die war eine alte Jungfer. Es bleibt auch von den Kolleginnen nur Frau Halbhaus übrig. Früher war nie eine nähere innere Beziehung zwischen ihnen beiden gewesen – sie hatten sich äußerlich wohl gut gestanden, aber das war auch alles – nun zog es Marie-Luise zu der geplagten Frau hin.
»Ich werde doch wohl gehen müssen«, gestand ihr Frau Halbhaus heute, »ich trete jetzt zwar meinen Urlaub an vor der Entbindung, eine Junglehrerin tritt für mich ein – aber ob die's schaffen wird mit meiner Klasse?« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, trotz aller Not, die sie persönlich hatte, lag ihr die aus alter Gewohnheit doch am Herzen. »Wenn ich ehrlich bin, muß ich sagen: die Klasse ist nicht so, wie sie sein müßte. Ich konnte eben nicht mehr.« Sie seufzte abermals, und die andere seufzte mit.
Ach, Marie-Luise verstand das ja, verstand es nur allzu gut!
»Wenn ich nur überhaupt wiederkomme«, sagte tonlos die Halbhaus. »Es täte mir sehr, sehr leid, abgesehen davon, daß mir das Einkommen fehlen würde. Aber wenn das Kind am Leben ist – was dann machen? Ich habe keine Mutter, keine Schwester, auf mich allein ist es angewiesen. Ein Mädchen nehmen? Das kostet viel Geld. Und bei einem so kleinen Kind, ist da eine verläßlich? Was soll ich tun, was soll ich tun? Was meinen Sie?«
Einen Rat zu geben war Marie-Luise nicht möglich – wußte sie sich denn selber Rat? »Was soll ich tun, was soll ich tun?« fragte sie sich wie jene.
Sie hatte sich eben von der Kollegin getrennt, sie kamen beide aus der Konferenz im Lehrerzimmer. Es war eigentlich noch gar nicht so spät, im Frühsommer wäre es noch heller Tag gewesen, jetzt aber lag tiefe Herbstdunkelheit auf dem Osten der Stadt. Wohl brannten Laternen hier wie anderswo, aber es war Marie-Luise, als brennten sie nicht so hell wie in anderen Stadtteilen; und auch aus den Kaufläden strömte nicht die gleiche Lichtflut. Bescheidene Schaufenster, die zeitig geschlossen werden. Jetzt war schon überall zu; anstatt erleuchteter Spiegelscheiben nur finstere Löcher, selten, daß eine elektrische Birne irgendwo brennen geblieben war. Nur aus finstern Destillen flinzelte hinter verhängtem Fenster Lichtschein, und auf der großen Hauptader, die den Osten durchpulst, sah man die Lichter der unablässig hin und her sausenden Elektrischen wie umnebelte Sterne durch den Dunst des Novemberabends von Ferne zu Ferne gleiten. In der großen Trübseligkeit von Straßen, die Großstadt waren und doch nicht Großstadt, die wie Kleinstadt waren trotz ihrer hohen Häuser und ihrer Dichtbevölkertheit, Straßen, die nur den Alltag kannten und nie mit festlich-freundlichem Gesichts lächelten, die schon jetzt um acht Uhr abends eine Stille zeigten, die wie eine Unheimlichkeit herabsank, fühlte Marie-Luise eine große Traurigkeit. Sie ging geschwind, nicht, daß sie sich gefürchtet hätte – vor einem Jahr noch freilich hätte sie es nicht gewagt, hier so spät allein zu gehen – aber es trieb sie voran wie mit Ungeduld. Es drängte sie etwas: voran, voran! Es war wie ein Laufen nach einem Ziel, das sie noch nicht sah, das sie auch nicht benennen konnte, und das sie doch zu erreichen sich mühte. Und nach dem es sie unbeschreiblich verlangte. Ach, etwas tun, das ihre innere Unruhe beschwichtigte! Ach, ein Licht sehen, das ihr ihren Weg deutlicher zeigte!
Oh, wie dunkel war es hier! Sie schauerte nun doch. Am großen Kino drüben war es ganz hell, das heißt, nur gerade vorm Eingang, wo der Kranz elektrischer Lampen um das scheußlich schreiende Reklamebild »Verlorene Töchter« einen grellen und in seiner scharfen Begrenzung wie abgeschnittenen Lichtschein auf das breite Trottoir warf. Rechts und links davon erschien alles desto dunkler, so dunkel, daß man die Gestalten nicht genau erkennen konnte, die da warteten. Kleine und größere, dürftige und weniger dürftige Gestalten. Waren es Kinder?
Zwei gingen jetzt dich vor Marie-Luise. Das eine, das etwas größere Mädchen, war das nicht Trude Schindler? Unwillkürlich hielt Marie-Luise sich dicht hinter den beiden.
Die Kinovorführung war gerade aus, ein spärliches Publikum zerstreute sich, an einen Herrn mit hochgeschlagenem Paletotkragen drängten sich die beiden heran. Sie nahten sich ihm von rechts und von links, nahmen ihn so in die Mitte. Sie flüsterten.
Marie-Luise lauschte angestrengt. Wenn sie doch verstehen könnte, was die sagten! Jetzt sprach die Schindler etwas lauter: »Ich hab auch noch ne' Schwester, die is aber schon achtzehn – se is noch drin im Kino. Meine Freundin hier die is – Lenchen, so sag doch, du bist erst elf, nich? Ich bin zwölf!«
Was der Mann darauf sagte, das verstand Marie-Luise nicht, sein Murmeln verschluckte der hochgeschlagene Kragen. Im Augenblick wurde ihr auch noch nicht klar, was all dies hier bedeutete, sie sah nur, daß der Herr sich den steifen Hut tiefer in die Stirn drückte, und dann die Kleinere von beiden mit sich nahm. Sie verschwanden rasch.
Die Schindler drehte noch einmal um, unwillkürlich wich Marie-Luise ihr aus der Mitte des Dammes. Was tat die nun weiter? Die kehrte zum Kino zurück. War es die Trude denn wirklich? Oder war es ein Spuk, die Vision von etwas Widrigem, Scheußlichem? Ja, sie war es, sie war es! Jetzt stand sie vorm Eingang, vom grellen Lichtschein gespenstisch beleuchtet. Das war der Schindler halbfertige Backfischgestalt, ihre hellbestrumpften, bis weit über das Knie hinauf sichtbaren Beine unterm noch kindlichen Plisseeröckchen, ihre schlecht geschnittene Mähne, ihr grünlich schillerndes blasses Gesicht, ihre Züge, die gemein und schon alt waren trotz aller Jugend. Sie wartete hier, sie lauerte – auf wen, auf was?!
Ein Schupo näherte sich, kaum sah die Schindler ihn, so tat sie ganz harmlos und gaffte angelegentlich-interessiert zum bunten Reklamebild auf: »Verlorene Töchter«.
»Haste Geld?« fragte Theo Schindler seine Schwester Trude im Bett.
»Nee.« Aber sie log, sie hatte heute abend noch zwei Mark verdient. Dazu die zwanzig Pfennig, die ihr Herr Krause gegeben hatte; die kriegte sie jedesmal von ihm, wenn sie Lenchen mitnahm – zehn Prozent – sie rechnete ganz genau.
»Du hast doch Geld«, beharrte der Bruder und suchte ihr das Beutelchen abzureißen, das sie an einer Schnur unterm Hemd auf der Brust barg. Aber sie hielt fest ihre Hand darauf und stieß ihn mit den Beinen: »Ich laß mir nischt wegnehmen mit Gewalt! Du hast ja auch Geld.«
»Keinen Pfennig.« Und nun tat er kläglich: »Ach, Trudeken, gib mir doch was ab!«
»Wenn du mich jetzt nicht schlafen läßt, denn schrei ich. Denn haut Mutter dir oder der Piefke. Und ich sagt es Piefke, daß er im Strohsack nachguckt, da haste das Geld drin versteckt, was dir deine Olle gegeben hat!«
»Sei still!« Er legte ihr erschrocken die Hand auf den Mund.
Sie lachte leise: »Mir kannste nischt vormachen. Deine Olle, die ist doof, aber ich nich. Die kann mir ordentlich leid tun. Und nu laß mich in Ruh, ich will schlafen.« Sie drängte ihn an den Rand des Bettes, kehrte ihm den Rücken und schlief bald ganz fest.
Es schliefen alle, die im engen Raum beisammen lagen. Der Schlafbursche Piefke schnarchte, die Mutter schnarchte; der Vater war noch nicht da, aber wenn der kam, schnarchte er auch gleich. Alle hatten ein gutes Gewissen, darum konnten sie schlafen – nur er, er konnte es nicht! Theo Schindler stemmte beide Hände gegen seine Brust: wie das da drin pochte, ganz ekelhaft. Er hatte Angst, regelrechte Angst. Was sagte er ihr nun, wenn sie wieder und wieder fragte: »Warum bringst du den Anzug nicht? Und den Lodenmantel nicht? Ich will beides doch mal sehen.« Die hundert Mark von ihr hätte er ausgeben müssen, hatte er ihr gesagt, Billigeres hatte er nicht kaufen können, denn das war zu unhaltbar. Sie war des auch ganz zufrieden gewesen, hundert Mark gab sie gern für ihn aus, aber sehen, wenigstens sehen wollte sie doch endlich den Einkauf. Ob sie Verdacht schöpfte? Es dünkte den Knaben so, als habe sie ihn heute ganz merkwürdig angesehen – oder kam es ihr jetzt doch? Und was sagte er bloß, warum er die Stelle im Hotel zu guter Letzt nicht gekriegt hätte? Auch danach fragte sie immerzu. Es war lästig, ungeheuer lästig. Sie war ihm überhaupt lästig. Es war ja ganz schön warm bei ihr oben, und ihr Essen schmeckte ihm auch, er mochte sie eigentlich auch ganz gut leiden – aber eine Stellung als Hotelpage hatte er niemals in Aussicht gehabt, alles Schwindel, Schwindel! Die Trude war gerissener, wenn er es wagen könnte, sich der anzuvertrauen? Die wüßte vielleicht einen Ausweg. Aber nein, er traute sich nicht.
Theo Schindler hatte sich bereits so verheddert in Schwindeleien, daß er nicht mehr herausfand. Wenn die Alte jetzt dahinter kam? Dann schmiß sie ihn heraus, dann gab's keine warme Stube und kein Essen mehr – und vor allem kein Geld mehr. Geld, Geld! Ohne Geld ist man ein unglücklicher Mensch, wenn das Fräulein Ebertz auch anders sagte. Die hatte gut reden, die hatte ja Geld. Es lag bei ihr im Schreibtisch im eisernen Kasten. Den kannte er gut, den hatte er erst kürzlich gesehen, und der Schlüssel zu der verschlossenen Schreibtischschublade, der lag bei ihr im Nachttisch am Bett.
Der Knabe seufzte und warf sich unruhig. Die Schwester gab ihm schlaftrunken einen Rippenstoß: »Ruhig, sonst schrei ich.« Da lag er wieder ganz still, aber der Schweiß perlte ihm. Nein, so schlecht war er nicht, daß er sie umbringen würde – aber das Geld, das Geld ihr wegnehmen, ja, das möchte er. Wozu brauchte sie das? Sie kriegte ja immer wieder welches, alle Monat neues Geld. Da lohnte sich später schon mal wieder ein Eingriff, wenn sie wieder tüchtig gespart hatte. Auch jetzt hatte sie schon viel, sehr viel gespart, sie hatte es ihm ja selber erzählt. Sie verhungerte noch lange nicht, wenn er ihr das wegnahm. Geld, Geld, eine feine Sache! Wenn man Geld hat, dann fährt man Auto, dann ißt man nobel im Restaurant, und man hält sich Weiber. Er war jetzt kein Kind mehr, er war jetzt ein werdender Mann. Aber er kam nur vors Jugendgericht, viel Schlimmes konnte ihm gar nicht passieren, wenn es etwa herauskam. Warum sollte es denn aber herauskommen? Nie kam es heraus. Er hatte den Hausschlüssel, er hatte den Schlüssel zu ihrer Entreetür – sie sagte selber, sie schliefe so fest – also warum denn ›herauskommen‹? Nur keine Angst. Und wenn es trotz alledem entdeckt wurde, er in die Fürsorge käme, hinter Fenster, die auch vergittert waren wie im Gefängnis, wie im Zuchthaus? Auch nicht schlimm. Zu Hause war es ja auch nicht schön. Und man kam da auch wieder heraus. Die Zeit ging herum, oder man erwischte mal eine Gelegenheit, um sich ›dünne‹ zu machen. Manch einer, den er kannte, war in der Fürsorge erzogen, und was hatte der da alles gelernt! Man kann überall lernen.
Das Schnarchen um ihn her beruhigte Theo Schindler allmählich. Die waren ja auch keine Engel und schliefen so sanft. So schlief auch er endlich ein. Aber in seinem Schlaf hörte sein Überlegen nicht auf, er dachte immer weiter an das Haus, das draußen lag zwischen Sandkuhlen und Bauzäunen, zwischen Neubauten, die, noch nicht ganz fertiggestellt, leer standen. Er verkroch sich in ihnen, als er verfolgt wurde. Sie fanden ihn nicht.
Er lachte darüber so laut im Traum, daß er jäh erwachte. Aber es war kein Lachen gewesen, sondern ein Schrei.