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14

Marie-Luise war froh, nun waren endlich auch ihre Ferien angebrochen: Gott sei Dank!

»Was lassen Sie sich auch so mit den Leuten ein?« sagte Fräulein Naunberg. »Sie sind selber schuld, wenn Sie jetzt kaputt sind. Ich gebe auch die erholungbedürftigen Kinder an – selbstverständlich – aber dann Schluß. Es ist immer so gewesen und wird auch immer so bleiben: erst wird gezetert, ›mein Mädel muß dringend weg‹, und dann wird wieder gezetert: ›sie kann sich da nicht erholen‹. Nein, nein, ich bemenge mich mit so etwas nicht. Man will doch auch noch was von seinem Leben haben. Wenn ich aus der Schule gekommen bin, dann ziehe ich mit meiner Schulkluft auch das Denken dran aus«.

Nein, das konnte Marie-Luise nicht, obgleich es so herrliche Ferien waren, wie sie noch niemals welche gehabt hatte. Sie war selbstverständlich nicht auf eine Reise gegangen, erstens mußte sie sparen, sehr sparen – trotz einer Beihilfe, die ihr zuteil wurde, hatte der Tod der Mutter und was damit zusammenhing, viel gekostet – und zweitens, und das war der Hauptgrund: er konnte nicht fort. Und was sollte sie am Meer oder in den Bergen ohne ihn? Sie hatte es hier ja auch schön, so wunderschön. Halbe Tage verbrachten sie auf dem Wasser, ließen sich bräunen von einer Sonne, die während der ganzen Ferienwochen für sie unablässig schien.

»Schade, daß es so geregnet hat«, sagte Tante Gläßner, wenn Marie-Luise mit feuchtem Haar und durchfeuchteten Kleidern nach Hause kam.

»Geregnet?!« Marie-Luise hatte es nicht gemerkt.

Unter tief auf den Spiegel des Wassers niederhängenden Bäumen hatten sie einen Schlupfwinkel. O Gott, wie war es unbeschreiblich, unvergeßlich schön, hier am stillen Sakrower See, blind vor Glück, viele Stunden zu träumen, oder von all dem Glück, das noch kommen sollte! Alwin hatte sein Boot in der kleinen Schiffswerft von Cladow liegen, binnen kurzem waren sie hier; sie legten sich beide tüchtig in die Ruder, sie hatten ja solche Sehnsucht, ganz allein miteinander zu sein. Selbst die Fischreiher, die, auf einem Bein stehend, tiefsinnig ins Wasser starrten, waren schon Störenfriede. Die Flut ging so leise, brach sich in kleinen glucksenden Wellchen am moorigen Ufer, wenn ein Wind über den See strich und ihn mit seinem Atem, nach Dorflinden und Kiefernwald, nach Wiesenheu und Schilffeuchte duftend, behauchte. Man war so weltenweit hier, entrückt allem Alltag.

Und doch dachte auch jetzt Marie-Luise an ihre Schule. Wenn die nun bald wieder anfing, hoffte sie neue Kräfte gesammelt zu haben. Sie war doch wohl ein wenig schlapp gewesen in letzter Zeit; sonst hätte sie sich auch mehr um die Halbhaus gekümmert, denn der schien es sehr schlecht zu gehen.

Frau Halbhaus war in Berlin geblieben, die anderen Kolleginnen waren alle fort. Fräulein Naunberg brauchte die Kur in Marienbad, sie fürchtete stark zu werden, und das wäre ihr schrecklich gewesen. Fräulein Düsterweg rannte aus Prinzip jede Ferien, da kam eine Verwandte und vertrat sie bei den Eltern; Fußwanderungen mit dem Rucksack waren Fräulein Düsterwegs Leidenschaft. Fräulein Blank, die gar keine Ansprüche stellte, die mit allem zufrieden war, hatte ein Lehrerinnenheim in der Mark aufgesucht. Und Fräulein Zimmermann, der ihre Zeit auf dem Lande in der Erinnerung jetzt immer schöner und schöner erschien, war der Einladung einer wohlhabenden Bauernfamilie gefolgt; da wollte sie auf dem Erntewagen mit einfahren helfen, den Bubikopf mit Kornblumen und Ähren bekränzt.

Marie-Luise hatte auch eine Einladung erhalten. Über ihren alten Wohnort Prenzlau unter der Adresse: »Frau Professor Büchner«, war der Brief nach acht Tagen der Irrfahrt in ihre Hände gelangt. »Ich weiß nicht, wo Sie jetzt sind, liebes Fräulein Büchner«, schrieb die Baronin. Die Baronin –?! Oh, wie weit, wie weit lag die und lag Althaide hinter ihr zurück! Auch Konstanze, die sie doch herzlich lieb gehabt hatte. Überhaupt die ganze damalige Zeit – wo war die hin? Sie war längst vergessen, eine neue, ganz neue Zeit war gekommen. Aber nun meldete die alte sich doch wieder und wurde auch auf einmal wieder lebendig. Marie-Luise lächelte, als sie den Brief las – Althaide, da hatte sie zum erstenmal das Lehrerinsein gekostet! Althaide, sieh, da lud die Baronin wieder ihr Köfferchen auf die Schulter, da ging die über den Hof in Reitstiefeln und enganschließendem Jackett, das dicke Notizbuch in der Hand und kommandierte die Inspektoren. Da machte der verrückte Bruder plötzlich ›Dideldum, dideldum‹ bei der frommen Andacht. Und sie und Konni starben fast vor der Qual unterdrückten Lachens. Was wohl aus der liebebedürftigen kleinen Konni geworden sein mochte? Die mußte jetzt auch schon erwachsen sein.

Die Baronin schrieb: »Sollten Sie zur Zeit nicht anderweitig gebunden sein oder Ihre bisherige Stellung Ihnen nicht zusagen, so mache ich Ihnen den Vorschlag, wieder nach Althaide zu kommen. Mein liebes Fräulein Büchner, ich gestehe es Ihnen ganz offen, ich habe damals doch wohl etwas verfrüht Konstanze in die Erziehungsanstalt ›Zum heiligen Kreuze‹ gegeben. Bei ihr hat sich diese nicht so bewährt. Seit einem halben Jahr ist meine Tochter wieder bei mir, aber ich habe mit der Bewirtschaftung der Güter zuviel zu tun, als daß ich ihr die nötige Aufsicht zuteil werden lassen kann. Ein junges Mädchen auf dem Lande braucht eine solche. Und zu dieser Aufsicht eine Dame, die ihr zu gleicher Zeit eine Freundin ist. Konstanze trägt Sie, verehrtes Fräulein, in liebevoller Erinnerung, sie würde sich sehr freuen, wenn Sie kämen. Bitte, lassen Sie mich baldmöglichst wissen, mein liebes, verehrtes Fräulein Büchner, ob ich auf Sie rechnen darf. Als Gegenleistung für das Opfer Ihrer Zeit und Ihrer bewährten Kraft erlaube ich mir, Ihnen neben freier Station ein Honorar von zweihundert Mark pro Monat vorzuschlagen. Stets Ihre Ihnen sehr ergebene –«

Und als Nachschrift noch: »Meinen Bruder habe ich schon seit langem einer Heilanstalt überweisen müssen.«

O wie liebenswürdig geschrieben! Noch in der alten zielbewußten Art der Baronin vorgegangen, und doch wie ganz anders! ›Mein liebes Fräulein‹ – ›mein verehrtes Fräulein‹ – und zweihundert Mark anstatt der fünfzig damals! Das war viel Geld für die Baronin, die so außerordentlich gut rechnete. Sie mußte weder mit der eigenen Erziehungsmethode noch mit der noch strengeren vom ›Heiligen Kreuze‹ ein glänzendes Resultat erzielt haben. Was Konstanze wohl angestellt haben mochte –?! Arme kleine Konni!

»Die wird wohl mit einem der Inspektoren angebändelt haben, womöglich mit einem Stallknecht«, sagte lachend Alwin.

Aber Marie-Luise konnte nicht lachen, nicht einmal das leiseste Lächeln konnte sie aufbringen. Die Baronin hatte doch gewiß das Beste ihres Kindes gewollt, es auch zu tun gedacht, und nun – ach, wie hilflos, wie ohnmächtig ist man den dunklen Mächten gegenüber, die Kinderseelen bedrohen! Sie ging in Gedanken die Kinder ihrer Klasse durch. Daß neulich Grete Schultz der Irma Mielke ein Buch weggenommen hatte, das sie von der entliehen, und steif und fest behauptete, es zurückgegeben zu haben, das hieß noch nicht, daß die Elfjährige eine Diebin war. »O Fräulein, das Buch war zu schön« – das Kind hatte endlich, bitterlich weinend, gestanden – »ich mußte wieder und wieder drin lesen. Und die Irma hätte es mir ja nicht geschenkt!«

Grete Schultz war eine Leseratte, jeden Zeitungsfetzen hob sie auf und las ihn – lesen, lesen, ihre Leidenschaft. Sie benutzte nicht wie andere Kinder die paar Pfennige, die sie wohl einmal erhielt, um sich Bonbons zu kaufen, sie sparte auf ein Buch. Der Karren der Straße, auf dem der Händler alte zerlederte Scharteken feilhielt, war für sie das Ziel der Sehnsucht, die Stätte, die sie immer wieder aufsuchte, an der sie gebannt stand, mit hungrigen Augen auf die Bücher schauend. War das nicht auch eine Art Wissensdurst? Grete las ohne Wahl, froh über alles, was sie ergattern konnte, las ebenso Mordgeschichten wie Reisebeschreibungen, aber auch reinwissenschaftliche Abhandlungen, die in losen zerrissenen Heftchen auf dem Karren nur zehn Pfennige kosteten.

Wie sollte man solch ein Kind behandeln? »Sie stiehlt«, sagten die in der Klasse und rückten ab. Daß Kinder schon untereinander so grausam sind! Marie-Luise zerbrach sich den Kopf: wie sollte sie es anfangen, den Kindern den Lesehunger der Grete so nahe zu bringen, daß sie von selber einsahen, daß hier kein gemeiner Diebstahl vorlag? Sie verbot es jedenfalls streng, »Diebin« zu sagen. Aber als bald darauf Helene Kroll der Eva Michalski heimlich einen Groschen wegnahm – sie hatte ihn freilich dem blinden Mann an der Ecke in die Mütze getan – war das dann gemeiner Diebstahl? Viele Motive, und wenn man ihnen nachging, keine unlauteren, lagen in den Handlungen der Kinder verborgen. Das sah Marie-Luise ein.

Nur aus Trude Schindler wurde sie niemals klug. Oft sah die sie so an, daß sie dachte: will dir das Mädchen etwas gestehen? Ein Verlangen, zu sprechen, sich mitzuteilen, schien auf Trudes Lippen zu schweben. Sie sah die Lehrerin an mit einem leicht verlegenen, förmlich sehnsüchtigen Lächeln. Ja, die Trude liebte sie, das glaubte Marie-Luise zu bemerken; natürlich auf ihre Art, und die bestand darin, nun die Veilchenzeit längst vorüber war, ihr halbgewelkte, am Stiel zerkaute Rosen hinzulegen. Wenn dann Marie-Luise sagte: »Ei, wer hat mir denn hiermit eine Freude machen wollen?« und die Rose an ihrem zerbissenen Stile in die Höhe hob, dann meldete sich keine, alle sahen ganz unbeteiligt drein, nur auf Trudes bleichem, verschlossenem Gesicht erschien das verlegene und rasch wieder verschwindende Lächeln. –

Trude Schindler war mit auserlesen gewesen zu einem längeren Erholungsaufenthalt an der See. Sie hatte sich aber heftig dagegen gesträubt: »Nee, ich geh nich, ich bleibe hier!« Und auch Frau Schindler hatte schriftlich dagegen protestiert, daß ihre Tochter verschickt wurde. Sie hatte das Schreiben wohl nicht selber abgefaßt, dazu war es zu gewandt geschrieben; alles wurde in diesem angeführt, was für die Stärkung des Mädchens im Elternhause geschah. »Trude ist ja auch kerngesund, nur ein bißchen rasch gewachsen.« Und der Schluß hieß: »Ich brauche Truden.« Nun, wenn die Schindlers denn durchaus nicht wollten!

Jetzt, da die Schule wieder begonnen hatte, sah Trude aber nicht wohler aus, trotzdem sie viel draußen gewesen zu sein behauptete. »Immer an de frische Luft«, wie sie sagte.

Trude hatte sich den ganzen Tag entweder im Friedrichshain oder im Treptower Park herumgetrieben; die Schutzleute, die da langsam, scheinbar teilnahmslos und doch scharf Obacht gebend, auf und ab patroullierten, kannten sehr wohl die mit der wehenden Mähne, in der vom Herumsielen auf Rasen oder unter Büschen allerlei Grashalme hafteten, Kiefernadeln und abgefallene Blättchen. Mitunter hatte Trude Knaben ihres Alters bei sich – rechte Strolche – dann trieb der Schupo die ganze Horde mitsammen weg; wenn sie aber mit einem bereits erwachsenen Burschen daher kam oder gar mit einem älteren Herrn, den sie nach der Uhr gefragt hatte, auf einer Bank saß, konnte er sie nicht von da fortjagen. Er beschränkte sich dann nur darauf, sie mit einem scharfen Blick, den sie dreist erwiderte, anzusehen und sich, von Büschen gedeckt, in der Nähe zu halten. Aber es ergab sich kein Grund, um einzuschreiten.

»Ich hab' aber mal erst Ferien gehabt«, renommierte Trude, als die anderen Kinder von ihrem Beerensuchen im Wald, von Schafherden und Erntebier, von Buddeln im Seesand und vom Baden im blauen Wasser erzählten.

Die dritte Klasse schrieb gleich zu Beginn des Unterrichts einen Aufsatz: »Mein erster Ferientag.« Jede konnte schreiben, so wie sie wollte, ohne Zwang. Da wurden kleine Erlebnisse – eine Muschel am Strand, eine Biene im Kleefeld, ein Apfel am Baum – zu großen Begebenheiten.

»Als wir endlich aus der Bahn stiegen«, schrieb Irma Mielke, »da war mir ganz übel von den vielen Stullen, die Mutti mir mitgegeben hatte. Aber da stand an einem Zaun ein Apfelbaum, da hing ein großer Apfel dran, nur ein einziger, aber der war ganz gelb und hatte ein rotes Bäckchen, und ich hätte ihn zu gerne abgepflückt. Aber unsere Leiterin hatte gesagt: ›Nichts abpflücken.‹ Und da kam auch schon ein Mann aus dem Haus hinter dem Baum, und der sagte: ›Da hast 'n!‹ und pflückte mir den Apfel. Da aß ich den auch noch. Und da wurde mir noch übler. Ich hatte den ganzen Tag schreckliches Leibweh, weil der Apfel doch noch nicht reif gewesen war und sehr hart und sehr sauer. Mein erster Ferientag war gar nicht schön. Aber dann wurde es schön. Und nun will ich mal erzählen, wie es dann wurde.«

Grete, die Leseratte, hatte geschrieben:

»Ich war wie im Traum. Daß es soviel Wasser gibt, hatte ich wohl gelesen, aber gesehen hatte ich noch kein Meer. Da lag es nun vor mir in unendlicher Weite, ich konnte gegenüber kein Ufer sehen. Ich stand ganz still und ließ den Meerwind mich umwehen. Er sauste und die Wellen brausten, es war wie ein richtiges Gedicht, das die machten. Ich habe noch nie ein so schönes gelesen. Ach, ich möchte wohl selber mal so eins machen! Aber ich bin ja wie die kleine Muschel, die ich dann fand, und die ich beinah zertreten hätte, so klein und unscheinbar lag die im Sand. Ich hob sie auf und steckte sie in meine Tasche. In der Nacht legte ich sie unters Kopfkissen, sie sollte mir was erzählen vom Meer. Aber sie blieb stumm, und als ich am Morgen unterm Kopfkissen suchte, lag sie zerdrückt. Da habe ich weinen müssen wegen der stummen kleinen Muschel.«

Marie-Luise lächelte: wie hübsch die Grete das schrieb! Das hätte sie wirklich nicht geglaubt, daß in einem Großstadtkind hier aus dem Osten, in dem Kind einer ledigen Fabrikarbeiterin – vielleicht empfangen beim Lärmen der Maschinen – soviel Poesie stecken könnte. Und dieses Kind möchte dichten, fühlte den Drang dazu in sich und doch auch die eigene Unbedeutendheit – stumme kleine Muschel, tief in den Sand getreten! Sie schrieb unter den Aufsatz von Grete Schultz ein »Gut«. Sie konnte auch noch unter andere Aufsätze ein »Gut« schreiben, man sah es deutlich, wie das unmittelbare Schauen in die Natur und der Verkehr mit ihr die Kinder angeregt hatte, ihr Gemüt und ihren Körper. Sie waren alle bei diesem Aufsatz mit Eifer und Freudigkeit gewesen. Nur Trude Schindler nicht; die hatte überhaupt keinen Aufsatz gemacht und bekam deswegen Strafe. Die Kinder waren bei allem jetzt mehr dabei, auch Marie-Luise selber war wieder frisch, wochenlanges Ausruhen hatte ihr gut getan. Alle Kolleginnen sagten dasselbe.

Frau Halbhaus war eigentlich die einzige, die das nicht von sich sagen konnte. Sie sagte es zwar, aber kein Mensch glaubte es ihr. Sie sah jammervoll aus, litt immer noch an einem Magenübel, das sie zwang, zwei- und oft dreimal am Morgen eilends aus der Klasse zu stürzen. Marie-Luise kam in solchem Augenblick einmal vorbei, als die Halbhaus draußen stöhnend am Ausguß stand. Erschrocken blieb sie stehen, sie sah, daß die andere wankte und sich krampfhaft am Wasserhahn festhielt. »Was ist Ihnen? Vielleicht ein paar Hoffmannstropfen? Ich will rasch welche aus unserer Apotheke holen – nein, Sie wollen nicht?«

Die Halbhaus hatte wie in Ekel den Kopf geschüttelt: »Bloß keine Tropfen! Ich kann nichts nehmen, gar nichts. Lassen Sie mich nur!«

»Aber man kann's doch gar nicht mit ansehen, wie Sie sich quälen. Kann man denn gar nicht helfen?«

»Mir kann keiner helfen.« Die Halbhaus lächelte mit verzerrten Lippen. »Zu Hause ist's mir ja nicht so arg – aber hier, hier in der Schule! Mir ist es, als ob ich Spießruten liefe vor den Kindern – die wissen's ja alle.«

»Was wissen die?! Es ist ja natürlich, daß die Kinder es merken, sowie es der Lehrerin nicht gut ist – aber Spießrutenlaufen deswegen?! Wieso – warum?!« Mit einer gewissen Befremdung sah Marie-Luise die bleiche Kollegin an.

Da sagte die: »Sie wissen es noch nicht? Haben die lieben Kolleginnen denn sich noch nicht so darüber alteriert, daß jeder und jede in der Schule es weiß?« Und dann mit noch größerer Bitterkeit: »Man ist doch verheiratet – man hat am Ende doch das Recht, ein Kind zu kriegen. Und wenn man nun mal das Pech hat, eins zu kriegen, auch die Pflicht, es auszutragen. Aber es wird einem schwer gemacht, weiß Gott, sehr schwer. Ich spränge oft am liebsten in einen tiefen Brunnen, aus dem ich gar nie mehr zum Vorschein käme. Wissen Sie« – sie trat ganz nahe an Marie-Luise heran und flüsterte, von Erregung fast erstickt und mit einem Ausdruck, der Marie-Luise erschütterte: »Alles, was ich genossen habe an Glück, das muß ich jetzt bezahlen, doppelt und dreifach bezahlen – nein, so groß ist kein Glück, daß es das aufwöge, was ich jetzt leide! Oh« – sie ergriff beide Hände der starr, ohne ein Wort zu sprechen, vor ihr Stehenden und drückte mit einem Stöhnen ihr Gesicht hinein. »Andere Frauen bekommen auch Kinder, auch sie leiden – Unbequemlichkeiten hat jede – aber ich, ich bin Lehrerin! So viele Augenpaare sehe ich tagtäglich neugierig auf mich gerichtet. Setze ich mich auf einen Stuhl, weil ich nicht mehr stehen kann, gleich blinzeln sie sich zu – muß ich heraus, weil mir übel ist – oh, ich höre wohl das heimliche Lachen hinter mir! Komme ich wieder herein, wird sich angestoßen, jede meiner Bewegungen wird begutachtet: ›au, wie is die schon dick, die kann sich ja bald nicht mehr bücken.‹ Und das schlimmste, das schlimmste« – sie hob ihr entstelltes Gesicht aus Marie-Luises Händen und sah wirr, wie eine Verfolgte, um sich: »Sie haben keinen Respekt mehr vor mir. Eine Lehrerin, die ein Kind kriegt, bah, die ist eine wie alle, die begafft man frech, die lacht man noch aus. Eine Lehrerin muß ein Fräulein sein, eine, die anders ist als alle anderen. Oh, oh –« ihr Stöhnen wurde lauter, klang wie verzweifelte Angst, wie höchste Pein: »Hätt' ich doch niemals geheiratet! Oh, was war ich so töricht!«

Marie-Luise hatte ihr Herz heftig klopfen gefühlt, nun war es ihr, als entsänke es ihr, und als versänke sie selber mit ihm in einen Abgrund von Leid. Sie versuchte etwas Aufrichtendes zu sagen – sich und der anderen. Sie stotterte: »Es liegt jetzt in Ihrem schlechten Befinden, Sie sehen alles nur so. Es ist ja gar nicht so – ganz anders – nein, nein, gewiß nicht!«

Aber die Halbhaus schüttelte trostlos den Kopf: »Es ist so. Ich hätte es auch nie geglaubt. Und was ich alles schon gelitten habe während der ganzen Zeit, auch schon vor dem Kind! Ich sage Ihnen das nicht, denn Sie sind unverheiratet, Sie würden es doch nicht begreifen. Ein ewiger Zwiespalt, ein Hin- und Hergerissenwerden zwischen Mann und Schule, man reibt sich auf, und man wird doch keinem gerecht. Sehen Sie sich meine Klasse an – verwildert – und das Pensum bis Herbst absolut nicht bewältigt. Fragen Sie meinen Mann! Er ist ja gut und sagt nichts, aber er hat sich doch auch alles anders gedacht. Eine Frau, die nicht selber ihren Haushalt versehen kann, die gerade, wenn es darauf ankommt, fortlaufen muß, und die, ist sie zu Haus, abgespannt ist, müde vom Sichhetzen. Und was solch ein Haushalt kostet! Mein Gehalt geht mit drauf, fliegt nur so weg, wir kommen kaum weiter, als wenn ich es nicht hätte. Was soll ich tun, was soll ich tun?!« Sie versank in ein finsteres Brüten.

»Nehmen Sie Urlaub«, wagte Marie-Luise schüchtern zu sagen.

Die Halbhaus fuhr auf: »Ich habe mit dem Rektor gesprochen. Er ist sehr wenig nett: ›Sehen Sie wohl!‹ Er hat mir damals nämlich abgeraten; nun triumphiert er. Er will mir nicht wohl, sonst könnte er mir doch schon jetzt längeren Urlaub geben, aber er sagt: ›Erst die Pflicht des Lehrers, dann seine Privatangelegenheiten. Die Schule geht vor, ich kann Sie frühestens Oktober beurlauben und auch dann erst, wenn ich genügenden Ersatz habe.‹ Natürlich, ja, ich sehe das auch ein – aber wie soll ich es hier noch aushalten, noch länger aushalten?!« Sie rang die Hände. »Meine Kraft geht zu Ende, meine seelische Kraft – ich kann und ich will nicht mehr! Und dann, was wird dann? Ich hasse diese Jören. Und dann noch ein eigenes Kind zu Haus und es versorgen –?! Mein Mann ist auch ganz zu Ende, der mag auch nicht mehr. Wenn Gott sich doch erbarmte, uns beide rasch zu sich nähme!«


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