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Marga amüsierte sich in der Tat, als Marie-Luise ihr von Herrn Volberts gänzlich unerwarteter Absicht erzählte: »Verstehst du das, daß ein Mann auf so etwas kommt, wenn man ihm doch nie Anlaß dazu gegeben hat?«
Marga lachte noch lauter, so aus vollem Halse, daß es Marie-Luise fast verdroß: Nein, so arg zum Lachen war das denn doch nicht, der Rektor tat ihr fast leid – der arme Mann mit seinen vier Kindern!
»Na, so heirate ihn doch!« Marga hörte auf zu lachen, ihre dunklen Augen, in die das Lachen Tränen getrieben hatte, funkelten: »Nimm ihn, mach ihn glücklich, werde selbst glücklich nach Schema F!«
»Ich denke ja gar nicht daran.« Marie-Luise wunderte sich. Wie konnte Marga denn nur auf einmal so ärgerlich sein? Sie hatte sich doch keinen Augenblick ernstlich mit Herrn Volberts Absicht beschäftigt, sie hatte Marga die ganze Sache nur erzählt, weil sie der überhaupt alles erzählte. – ›Alles, was du tust, was du denkst, will ich wissen, all deine Gedanken gehören mir‹ – so sagte die ja immer. Und daß sie nun heute gereizt war, ja, das war eben echt Marga. So war die schon immer gewesen, gewissermaßen ganz und gar von dem Menschen Besitz ergreifend. Auch auf dem Seminar hatte sie oft heftige Szenen gemacht, wenn sie glaubte, eine Dritte würde ihr vorgezogen; dann gab es Tränen, Vorwürfe. Ach, das waren damals alles dumme Eifersüchteleien gewesen und Kindereien. Aber auch jetzt mochte Marga es nicht, wenn sie ihr von Fräulein Ebertz erzählte oder von den anderen Kolleginnen sprach, die ihr alle freundlich begegneten. Sie mußte mit denen auch sprechen, es war unvermeidlich, wenn man an derselben Schule angestellt war; Marga sagte jedesmal: »Das ist kein Verkehr für dich.« Und wenn es sie bekümmerte, daß es hieß, Fräulein Ebertz würde nun bald abgebaut, dann zuckte Marga nur die Schultern: »Lehrerinnenschicksal. Alt, verbraucht – allgemeines Schicksal. Aber was geht uns das an?« und verschloß ihr mit einem heftigen Kuß den Mund.
Und Marie-Luise ließ von sich Besitz ergreifen, ließ es sich gefallen, daß Marga so über sie bestimmte.
»Du bist gar nicht mehr zu Hause, jeden Sonntag sitzest du bei der Moebius. Und abends bist du jetzt auch so oft in der Stadt«, beklagte sich die Mutter. Dann umarmte Marie-Luise sie und streichelte ihr das nervös vibrierende, zum Weinen verzogene Gesicht: »Armes Muttchen, ich werde mich bessern!« Aber dann rannte sie doch genau so viel fort wie immer, denn Marga hatte geschrieben: »Wann kommst du? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Komm doch heute! Komm morgen! Komm immer!«
Wer konnte widerstehen, wenn Marga rief? Andere hatten ihre Ehemänner, ihre Liebhaber, ihre Verlobten – Marie-Luise empfand es jetzt, daß sie das nicht hatte –, warum sollte sie nicht ihre Freundin haben? Und es war ja so behaglich bei Marga, so ganz anders behaglich als bei ihr daheim, wo die Mutter nebenan saß und jeden Augenblick hereinkam, und mit ihrer jetzt leider so beständigen Unruhe das trauliche Zuzweitsein störte. Man hatte sich ja nicht immer etwas Besonderes zu sagen, aber es war etwas so Köstliches, dieses ganz ineinander versunkene Beisammensein. Wenigstens für Marie-Luise war es so. Sie sehnte sich nach diesen Stunden; oft mitten beim Unterricht kam ihr der Gedanke an die Freundin, daß sie laut in die Klasse hätte hineinjubeln mögen: ›Heute kann ich zu Marga!‹ Dann saß sie schon in ihren Gedanken auf dem Sofa in Margas Wohnzimmer, vor ihnen auf dem zierlich gedeckten Tisch Tee, Kuchen und appetitliche Brötchen, und Blumen. Marga hatte stets Blumen. Die Schülerinnen brachten ihr immer welche; die schienen einen wahren Kultus mit ihrer Lehrerin zu treiben: »Sie schwärmen alle für mich«, sagte Marga und lächelte ein wenig spöttisch und zugleich ein wenig melancholisch.
Marie-Luise begriff dieses Schwärmen vollkommen, sie fand es nur natürlich, daß Backfische für diese Lehrerin ihr Taschengeld in Blumen umsetzten. Ob das freilich den Eltern immer recht war?
»Nein, gar nicht«, sagte heute Marga. »Erst gestern ist eine Mutter deswegen bei mir gewesen. Hier in meiner Wohnung. Sie sah sich mit so großen Augen bei mir um, daß es mir ordentlich fatal war; sie dachte wohl: wie kommt eine Lehrerin dazu, so zu wohnen? Na, aber ich amüsierte mich auch drüber!« Marga sprang auf, lief im Zimmer herum, rückte an den Möbeln, zupfte an den Decken und Kissen und schob in einer gewissen Hast die Bilder auf ihrem Schreibtisch hin und her. »Es ist hier freilich nicht ganz die gewöhnliche Lehrerinnenbehausung!« Sie lachte kurz auf.
Und eigentlich nun erst, wie jetzt erst sehend geworden, fiel es Marie-Luise auf, daß Marga elegant eingerichtet war, wenigstens viel zu elegant für die kleinen Verhältnisse, aus denen sie stammte, und für das Gehalt, das sie bezog. Wenn das am Lyzeum auch mehr betrug als die zweihundertdreißig Mark, die sie monatlich hatte. Sie hätte, selbst mit der Pension der Mutter zusammen, es sich nicht leisten dürfen, immer Eau de Cologne zu kaufen, Puder und feine Seifen, sie trug auch keine seidenen Strümpfe wie die Freundin. ›Ich dachte 'ne Filmdiva‹ – plötzlich fiel ihr das ein, was damals beim ersten Sehen die Ebertz von Marga gesagt hatte, und sie mußte laut auflachen.
»Warum lachst du?!«
»Ach, ich weiß nicht!«
»Natürlich weißt du's, du willst es nur nicht sagen. Also los, warum hast du gelacht?!« Marga fragte es herrisch, wie plötzlich argwöhnisch geworden. Wenn Marga so fragte, sie dabei so ansah, war Marie-Luise willenlos; sie gehorchte, gab den Ausspruch der Ebertz preis, herzlich darüber lachend.
Aber Marga lachte nicht mit. Sie war auf einmal verstimmt, fast traurig. »Hm, nicht ganz vorbeigeschossen hat die, die alte Tante!« Und wieder lief die schlanke Gestalt im Zimmer hin und her, unruhig und zwecklos an dem und jenem zupfend. Sie gab ihrem Schreibtisch einen Stoß, daß er hart gegen die Wand fuhr und ein Bild, eine große Photographie, herunterstürzte.
Marie-Luise hob sie mit einem »Oh« des Bedauerns auf. Das Glas war zerbrochen, feine Splitter hatten das Gruppenbild der argentinischen Familie, jener Freunde von Marga, denen sie so viel verdankte, arg zerkratzt.
»Macht nichts!« Marga nahm das Bild der Freundin aus der Hand und warf es lässig neben die Hefte, den Stoß Aufsätze, den sie zu korrigieren hatte. »Das ist sowieso hin – aus und vorbei. Sag mal du« – sie sah Marie-Luise dabei mit sich seltsam verdunkelnden und doch forschenden Augen an – »hast du dir eigentlich nie Gedanken gemacht, woher ich das alles hier so hübsch habe – und warum? Von Hause hab' ich's doch nicht. Bei uns sah's ein bißchen anders aus. Wir aßen in der Küche und mit stählernen Gabeln. In der Stube 'ne Spiegelkonsole, drin Vaters Vorhemdchen und Mutters Sonntagshut – ein steinhartes Sofa mit imitiertem Kameltaschenbezug, ebensolche Tischdecke, und überm Sofa ein Brettchen mit Photographien und scheusäligen Nippes aus Porzellan. Hier ein echter Teppich, geschmackvolle Möbel, silberne Bestecks, im Schlafzimmer ein Toilettentisch mit Kristalldosen und Schildpattbürsten, und auf meinem Bett eine seidene Daunendecke. Sag, liebes Dummes, hast du dir denn dabei nie was gedacht?«
»Nein.« Marie-Luise sah sie offen an. Nein, darüber hatte sie noch nie nachgedacht, es eigentlich kaum mit Bewußtsein wahrgenommen, sie hatte nur Marga gesehen, immer allein nur Marga. Und nun war sie wie verwundert, mehr als verwundert; sie stand wie starr über die Stimme, die ihr plötzlich zuschrie: »Verkauft hab' ich mich dafür! An den Mann da auf dem Bild!«
Marga wies auf die zertrümmerte Photographie: »Alles hat der da für mich bezahlt: die Kurse, mein ganzes Studium, den Aufenthalt in England, den in Frankreich, mich überall unterstützt – ausgehalten, wie man's so nennt. Was ich erreicht habe, habe ich durch ihn erreicht. Und ich wollte ja was erreichen. Du weißt es, mich fraß immer der Ehrgeiz, schon als ich noch die Grete vom ›ollen Moebius‹ war. ›Lehrerin‹ – wenn man aus so geringem Nest zu Hause ist, aus einer Stellmacherwerkstatt, dann ist Lehrerin was Besonderes – das Höchste. Vater, der sparte darauf: ›Meine Grete, die soll Lehrerin lernen!‹ Weißt du noch bei unserem Examen? Das Leben wollte ich mir damals nehmen, weil ich's nicht ganz bestand, aus Nervosität, aus purer Nervosität nur – aber dann – na, dann kam ich eben zu ihm, zu seinen Kindern – na, und dann kam's eben so!« Sie nickte schwermütig und ließ den Kopf hängen. Dann aber lachte sie spöttisch und laut: »Die Frau Regierungsrat gestern, ei, hat die Augen gemacht! Aber soll ich vielleicht meine Möbel verbrennen? Meine Wäsche, meine Pelzsachen, meine Daunendecke? Soll ich mein Silber verstecken? Alles stammt von ihm, alles was schön hier ist. Ich hätte es auch durchsetzen können, daß er mich heiratet; seine Frau, die hätte sich leicht getröstet, sie liebten sich nicht. Aber ich, ich liebte ihn auch nicht. Ich bin froh, daß es ganz aus ist. Ach was, Männer! Sie sind sich alle gleich. Ich mag nicht, ich kann nicht – nein, ich kann nicht!« Sie fuhr sich mit heftiger Gebärde in das kurzgeschnittene dunkle Haar, das wie eine seidige Kappe überm Kopf lag, und strich es mit beiden Händen noch mehr nach hinten. Dann umfaßte sie mit gleich heftiger Gebärde die andere, preßte die so fest an sich, so wie unentrinnbar, daß Marie-Luise der Atem ausging: »Liebst du mich? Ich liebe nur dich!«
Marie-Luise ließ sich küssen – willenlos vor Bestürzung – aber sie empfand plötzlich nicht die gleiche herzliche Zärtlichkeit mehr wie gestern, wie vorgestern, wie vorhin noch bei ihrem Kommen. Sie war zu befremdet. Erschrocken, gänzlich verwirrt. War das wirklich alles wahr, was Marga da gesagt hatte? Hatte die nicht bloß laut geträumt? Oder träumte sie selber? Einen bösen Traum. Und der quälte sie, jagte ihr das Blut glühheiß durch die Adern und machte sie doch fröstelnd erschauernd. Der Mann, der Mann da unter den Glassplittern – Marga war seine Geliebte gewesen – Geliebte, war das so schlimm? Aber daß Marga ihn nicht mehr liebte, ihn nie geliebt hatte, überhaupt keinen Mann liebte – oh, was war das?! Sie war nicht imstande, sich klar über das zu werden, was auf sie eindrang. Aber sie stand bebend, ganz bleich. Sie hatte sich losgemacht, senkte den Kopf und ließ die Arme schlaff herunterhängen.
Marga nahm ihre Arme und legte sie sich um den Hals: »Du bist erschrocken, du Liebe. Ich hätte dir besser nicht gleich alles auf einmal sagen sollen – o mein armes Schäfchen!« Tief senkten die Blicke ihrer dunklen Augen sich in die hellen, wie darin suchend.
Aber Marie-Luise sah an ihr vorbei. »Sag lieber ›Schaf‹.« Es sollte vielleicht wie Scherz klingen, aber es klang mehr nach Ernst. Und Marie-Luise blieb einsilbig. Nichts, kein fragendes Auf-sie-Eindringen von Marga, kein Kuß, den sie sonst gewiß mit zwei Küssen erwidert hätte, machte sie freier und mitteilsamer. Sie saß bei Marga auf dem Sofa, neben ihr, und fühlte sich doch von ihr getrennt. Warum? Weil Marga die Geliebte eines Mannes gewesen war? Nein, darum war es wohl nicht. Sie war sich selber über ihre Gefühle nicht klar, sie empfand eine Verworrenheit in sich, eine Zwiespältigkeit, die sie unsicher machte und traurig. –
Draußen strömte Frühlingsregen aus gewitterschwangeren Wolken; er ging nieder in Fluten. Flüchtende Menschen patschten durch das durch und durch nässende warme Dunkel. Es war jetzt schon Nacht.
»Du kannst nicht fort bei dem Wetter!« Marga hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt, zog ihn dann zurück und schüttelte sein glattes seidiges Schwarz, daß die Tropfen davon abliefen wie vom Gefieder des Raben. »Du bleibst noch hier, ich laß dich nicht gehen!«
Nein, sie mußte gehen, sonst würde die Mutter sich ängstigen.
»Ach was! Das sieht die doch ein, daß du bei solchem Wetter nicht zur Zeit kommen kannst! Überhaupt nicht kommen kannst. Du bleibst diese Nacht bei mir. Bei mir!« Margas sonst dunkle Stimme klang hell und hoch, sie war auf einmal wieder die Seminaristin von früher, ganz jung, leidenschaftlich und zu jeder Torheit bereit.
Aber Marie-Luise war schon mit einem Arm in ihrer Jacke. Einen Schirm hatte sie nicht – vielleicht würde Marga ihr einen borgen?
Nein, sie dachte gar nicht daran, sie borgte keinen! Margas Stimme war wieder herrisch, ihre Augen versuchten den alten bannenden Blick: »Du bleibst!« Sie wollte der anderen wieder den Arm aus der Jacke ziehen.
Aber rasch war Marie-Luise vollends hineingeschlüpft: »Ich kann nicht. Laß mich. Ich muß gehen.« Sie schob die sie haltenwollenden Arme beiseite: »Gute Nacht.« Und schon war sie aus der Tür.
»So nimm doch wenigstens meinen Schirm!« Jetzt lief Marga mit ihrem Schirm der Freundin nach, die Treppe hinunter, zur Haustür, aber schon war Marie-Luise nicht mehr zu erreichen, im Dunkel fort.
Ganz fort –?! Enttäuscht, wie abgeschlagen, zornig auf die Freundin und zornig auf sich selber, stand Marga. Horch, wie es goß! Bei dem Wetter, bei dem ganz abscheulichen Wetter rannte die fort?! Naß wurde Marie-Luise bis auf die Haut.
Marga ging in ihr Zimmer zurück. Sie hatte ein seltsam ödes Gefühl: einsames Zimmer, und es hätte so schön sein können zu zweien! Mit einem Lächeln, das ihr Gesicht, anstatt es zu erhellen, finster machte, stand sie: war Marie-Luise etwa böse? Es schien sie sehr verstimmt zu haben. Ach, ach!
Ihre Gedanken mühsam losreißend, sah sich Marga im Zimmer um: da, da hatte gestern die Mutter von Dora Ritter gestanden – eine ganz törichte Frau! Die war innerlich paff über solche Einrichtung bei einer Lehrerin, und äußerlich? Nun, liebenswürdig war die nicht gerade gewesen, förmlich zur Rede gestellt hatte sie sie: »Eine sehr unangenehme Angelegenheit führt mich zu Ihnen, Fräulein Moebius. Frau Doktor Rosmer – deren Tochter haben Sie auch in der Klasse – hat mich aufmerksam gemacht, daß meine Dora Sie so mit Blumen überschüttet. Mein Mann ist durchaus nicht in der Lage, daß Dora das Taschengeld, das er ihr für kleine Anschaffungen gibt, für solche Sachen verausgabt, die, die« – sie hatte angefangen zu stottern – »zum mindesten gesagt: völlig unnötig sind.« Frau Ritter hatte rote, frischglänzende Wangen, nun wurden die noch röter, sie schien sehr erregt: »Wie kommt meine Dora zu so etwas? Ich wundere mich, daß Sie, als Lehrerin, sich solchen Blumenspenden gegenüber nicht ablehnender verhalten, sich die nicht verbitten. Sie nehmen die Blumen an, Sie nehmen sie mit nach Hause. Ich habe Dora zur Rede gestellt, sie weinte furchtbar: sie müßte Ihnen Blumen bringen, sie könnte nicht anders – wie kommt das Kind dazu? Ich bin außer mir. Ich bin wirklich ganz außer mir. Ich kenne mein Kind gar nicht wieder – warum solch krankhafte Schwärmerei?!«
»Was kann ich dafür.« Das war das einzige gewesen, was Marga hatte erwidern können. Was nützte es, wenn sie dieser Pute, deren Augen so rund und mißtrauisch sie anblickten, sagte: ›Weißt du denn nichts davon, was für seltsame Blüten ein Alter treibt, das in der Entwicklung begriffen ist?‹
Dora Ritter hatte hungrige Augen. Wie sehnsüchtig das junge Ding sie oft ansah. Aber sie würde sich jetzt hüten: kein Lächeln mehr, keine Vertraulichkeit. Das Kind interessierte sie, aber mit dieser Mutter war ja keine Verständigung möglich. Ach, und jetzt mußte sie Hefte korrigieren, diese ganzen Aufsätze hier!
Mit einem tiefen Seufzer nahm Marga den Packen vom Schreibtisch – Glassplitter von dem zerstörten Bild lagen darauf – und trug ihn herüber zum Sofatisch. Da saß sie nun, wo sie eben noch mit Marie-Luise gesessen hatte – allein, ganz allein! – und versuchte ihre Gedanken auf die Korrektur der Aufsätze zu richten.
Sie las:
Der Fischer
(Nach Goethes Ballade.)
Disposition.
A. Einem ruhevoll nach der Angel schauenden und dabei auf jedes Geräusch lauschenden Fischer erscheint eine Nixe und sucht ihn durch ihren Zaubergesang zu sich in die Tiefe zu ziehen.
Unlustig warf Marga die Lippen auf und ihre Stirn krauste sich: hätte sie den Kindern doch lieber selber das Thema gegeben, es ihnen nicht freigestellt, aus den kürzlich gelesenen Gedichten sich selber eines auszuwählen und darüber einen Aufsatz zu machen. Das war ja furchtbar, dieses wunderbare Gedicht so poesielos zu zerpflücken!
B. Sie erringt den Sieg:
1. indem sie dem Fischer Vorwürfe macht über die grausame Art, wie der den Fischen nachstellt.
2. indem sie ihn zu locken sucht durch Schilderung des reizvollen Lebens in der Tiefe.
Und was nun, was kam nun noch unter C? »Gott bewahr' mich!« Das war nicht zu ertragen! Marga warf das Heft, als ob es sie an den Fingern brennte, auf die Seite. Lilly war doch sonst ein nettes Mädchen, ganz allerliebst, dem sie mehr zugetraut hätte. Augen hatte die im Kopf, Augen – und nun doch kein Funke von Poesie! Ungeduldig griff sie nach einem zweiten Heft, besonders schön und sauber geschrieben.
Die alte Waschfrau!
Von Thea Rosmer.
Also nicht von Chamisso? Na, denn man los, Thea!
»Der Dichter A. von Chamisso hat in einem seiner Gedichte einer alten Waschfrau ein schönes Denkmal gesetzt. Jeder Leser des Gedichtes wird zugeben, daß diese Frau es verdient, von einem Dichter gepriesen zu werden. Trotz ihrer sechsundsiebzig Jahre steht sie von früh bis spät am Waschfaß und verrichtet ihre Arbeiten. So ist sie ihr Leben lang unermüdlich tätig gewesen und hat den Lebenskreis, den Gott ihr zugewiesen, getreulich ausgefüllt.«
Wie brav, Thea, wie brav! Es höhnte etwas in Marga. Auch dieses Heft flog beiseite. Oh, dieses Zeugs alles lesen zu müssen! Das war eine Qual. Sie gähnte und reckte die Arme gelangweilt.
Und nun ein drittes, ein viertes, ein fünftes Heft. Überall als Thema ein Gedicht, überall das gleiche Verwässern, das gleiche Verflachen.
»Der Postillon« von Lenau – »Wanderers Nachtlied« – hu, da traute sie sich erst gar nicht heran! Quatsch. Alles doch nur elendes Gequatsche! Gereizt schlug Marga mit der flachen Hand auf die Hefte, daß die lose hineingelegten Löschblätter herausflogen. War denn nirgendwo etwas Besseres zu finden, etwas Eigeneres, etwas, das aus der Seele des Kindes selbst kam? Sie hätte weinen mögen vor Ungeduld, vor einer sie ungerecht machenden, verzweifelten Unlust. War es denn nicht ein elend machender Beruf, solches Geschreibsel durchkorrigieren zu müssen? Der Abend würde ihr darüber hingehen, ein vergeudeter, verlorener Abend – ob Marie-Luise jetzt schon zu Hause war? Ach nein, kaum. Die Bahnfahrt hatte sie hinter sich – aber dann noch der Weg zum Hause, ein nächtlicher, verregneter, einsamer Weg. Mechanisch suchte Margas Hand unter den Heften. Es wäre ihr lieb gewesen, etwas sie Interessierendes zu finden, etwas, das sie zwang, an ihre Schule zu denken.
Da, Dora Ritter! Aha, da mußte sie doch einmal sehen!
»Mein kleines Brüderchen!«
Als Anmerkung unten: »Ich wußte nichts über eine Dichtung zu sagen, ich habe etwas von mir selber geschrieben.«
Und Marga las:
»Ich habe ein kleines Brüderchen, das hat goldenen Flaum auf dem Köpfchen wie ein junges Entlein und seine dunklen Augäpfel schwimmen in einem seltsam bläulichen träumerischen Weiß. Es wurde vor zwei Monaten geboren. Geboren – da steht es, das geheimnisvolle Wort! Ich habe es niedergeschrieben mit einer gewissen Scheu, und doch will ich jetzt einmal aussprechen, was mich dabei bewegt. Als mein Brüderchen geboren wurde, war ich nicht zu Hause, man hatte mich zu meiner Großmutter nach Dresden geschickt – warum? Ich war mir damals über die Geburt eines Kinder noch im unklaren, es bedrückte mich, und ich wagte nicht zu fragen. Als ich dann wieder nach Hause kam aus den Ferien, lag ein ganz kleines Kind in dem Bettchen, in dem ich selber früher einmal gelegen hatte. Ich stand vor meinem Brüderchen ganz still, wenn niemand in der Stube war, und sah ihm in das schwimmende bläuliche Traumweiß seiner Augen: ›Wer bist du? Woher kommst du?‹ Aber es gab mir noch keine Antwort. Nun habe ich die. Gestern las ich ein Buch, es lag auf dem Schreibtisch meiner Mutter, als ich da abstauben sollte, fand ich es. Und ich las es und las und las mich ganz heiß und ganz kalt und wieder ganz heiß. Nun weiß ich die Wahrheit. Sie hat mich überwältigt. Ich habe gezittert, als ob ich Fieber hätte.«
Oh, das war etwas anderes, als die vorhergehenden Aufsätze! Aufmerksamer geworden, las die Lehrerin Seite um Seite. Ein langer Aufsatz. Es war, als ob die Schreiberin nicht hätte wegfinden können, sich aussprechen müßte, förmlich ausschütten. Was mochte das wohl für ein Buch sein, das das Mädchen ergattert hatte – ein Roman? Eine ärztliche Schrift? Margas Augen blickten teilnahmsvoller: hier lag eine Seele offen vor ihr, die die ersten Blicke getan hatte in die Mysterien des Lebens. War das ein Unglück für Dora? Nein, vielleicht ein Glück. Aber jetzt war es an der Mutter, zu hüten, zu führen, dieses Mädchen so an sich zu ziehen, daß es sich führen ließ voller Vertrauen. Denn was schrieb Dora am Schluß?
»Wie traurig ist mir plötzlich! Ich bin kein Kind mehr – auf einmal nicht mehr. Oh, könnte ich immer, immer Kind bleiben! Mir graut vor dem, was da kommt; mir graut vor dem ganzen Leben.«
Arme Dora! Deine Mutter ist wohl nicht die, die dir helfen kann mit richtigem Verstehen! Vor Marga stand wieder Frau Ritter mit den roten, wie blank geputzten Backen und den runden Augen, aus denen nichts sprach als ein Erstauntsein und ein Mißtrauen. Nein, diese Mutter war nicht die rechte für Dora! Aber wo gab es die rechte in solchem Fall? Gab es die überhaupt? Gegen die Mutter verschließt man sich am meisten.
Und Marga erinnerte sich plötzlich eigener Fährnisse; noch lag die Jugend nicht so weit hinter ihr, daß sie alles vergessen hätte. Wie oft nicht hatte sie sich nächtelang schlaflos im Bett hin und her gewendet oder aufrechtsitzend hinübergelauscht zur Stube der Eltern. Oh, sie verstand es noch heute ganz gut, daß man seine Mutter nicht fragen kann nach dem, was einen quälend erschüttert! Ihre Mutter, die einfache resolute Frau, die hätte ihr wohl eins hinter die Ohren gegeben, wenn sie der mit ihren Bedrängnissen gekommen wäre, in denen, wie in Schmerzen, ihr junger Körper sich wand – ›Dumme Liese! Mach deine Schularbeiten, kümmer' dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen!‹ – Nein, ihre Mutter hätte gar kein Verständnis gehabt! Und Frau Ritter? Das hätte sie beschwören können, daß auch die Dora abgewiesen hätte, wenn sie zu ihr gekommen wäre. – Um Gottes willen, nur dem Kind die Unschuld so lange als möglich erhalten! Glücklich die Mutter, deren Tochter noch schweigt. Sie hält dieses Stummbleiben für das Schweigen noch völliger Unschuld.
Was Frau Ritter wohl sagen würde, wenn sie diesen Aufsatz von Dora zu Gesicht bekäme? ›Ich bin außer mir, ich bin wirklich ganz außer mir‹ – Marga hörte das ganz deutlich.
Und was sollte sie nun zu Dora über diesen Aufsatz sagen? Das war schwer, sehr schwer. Das, was sie dem Kind eigentlich darauf sagen mußte, das wußte sie wohl. Aber sie würde sich hüten – daß ihr die Mutter wieder auf den Hals rückte! Ihr abermals Vorwürfe machte! Womöglich war sie dann noch an den ›Verirrungen‹ und ›Verwirrungen‹ von Dora schuld. Nein, sie würde als Lehrerin der Schülerin mit roter Tinte einen Vermerk darunter schreiben: ›Warum ist nicht eine Dichtung als Thema gewählt und näher ausgeführt worden, so wie die Aufgabe des Aufsatzes lautet? Schrift und Rechtschreibung genügend. Im ganzen III.‹
Sie würde dann weiter über den Aufsatz kein Wort zu Dora verlieren. War sie denn auch wohl die geeignete Person, mit dem Mädchen das zu besprechen, was dieses so bedrückte, daß es sich keinen anderen Ausweg wußte, als sich in seinem Aufsatz Luft zu machen? Es war ein Nach-Hilfe-Schreien in diesem Schulheft mit den blaulinierten Zeilen, ein bei all seiner Naivität fast beängstigend frühreifes Bekenntnis. Da war nur der berechtigt zu sprechen, der selber so gesund war, daß er von seiner Gesundheit abgeben konnte. Aber wo war dieser Mensch? Diese Mutter? Wo war diese Lehrerin?
Marga stützte den Kopf schwer in die Hand – sie dachte an Marie-Luise.