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12

Was sollte nun werden? Darüber dachte Marie-Luise keinen Augenblick nach. Sie nahm jede Minute, die sie mit dem Geliebten verbringen konnte, wie ein Geschenk. Wie lange sie durstig gewesen war, das merkte sie jetzt erst, und sie trank, trank mit unendlichem Genuß. Genoß seine Begegnung, genoß seinen Besuch bei der Mutter, genoß jeden Händedruck, genoß jedes Augenwinken, jedes Sichtreffen, wenn es dunkelte am Abend, zu einem kurzen Spaziergang.

Anders der Mann; ihm konnte das nicht genügen. Ganz oder gar nicht. Er wollte, mußte sie ganz besitzen. Aber konnte er das? Alwin Droste war ein ehrlicher Mensch, nicht nur ehrlich in seinem Beruf – er hätte mehr Praxis gehabt, hätte er es über sich gebracht, einem Patienten völlige Herstellung zuzusichern, wenn er auch selber nicht an sie glaubte – er war auch ehrlich gegen sich selber. Ja, er liebte Marie-Luise, liebte sie heiß! Keine Stunde, keine Minute, in der er nicht an sie gedacht, sich nicht brennend nach ihr gesehnt hätte. Sie als Frau zu besitzen, oh, unermeßliches Glück! Er konnte sich keine passendere Gefährtin für sein Leben, keine bessere Mutter für seine Kinder denken. Die Blicke des Arztes weideten sich an ihrer Gestalt: wie kräftig! Nichts Modern-Jünglinghaftes, ohne Brust und ohne Hüften, nein, weich, voll, breit gebaut, ein Weib, geschaffen zur Mutterschaft, und doch noch so schlank, daß ein Hauch unberührter Jungfräulichkeit über ihr war.

Marie-Luise hatte ihre alte Frische wiedergefunden, ihr tiefinneres Glück ließ sie noch einmal aufblühen. Wie weggeblasen alle trüben Gedanken und die leis' keimende Unzufriedenheit mit ihrem Beruf. Nein, diesen Beruf liebte sie doch innig, lebte in ihm mit einer Freudigkeit, mit einer Seelenheiterkeit, die ihre Klasse jetzt weit mehr anspornte als alle ihre Bemühungen zuvor. Sie wünschte nichts, verlangte vom Schicksal weiter gar nichts, schweifte nicht in ihren Gedanken zu allzu hoch gesteckten Zielen, ließ sich genügen am Augenblick. Oh, wie war ihr Leben doch so reich jetzt und schön!

Ob sie niemals an die völlige, an die letzte große Vereinigung dachte? Wenn Alwin Droste sie an sich zog, abends, wenn niemand mehr um den Weg war, nur sie beide noch zwischen blühenden Büschen gingen und den Sehnsuchtsruf einer Nachtigall hörten, dann zitterte der Mann vor Verlangen. Die Hand, die sich um ihren weißen Hals legte, um ihr lächelndes Gesicht nah, ganz nah zu sich aufzuheben, wurde heiß, sein Atem ging rasch. Konnte er sie denn nicht heiraten? War es ihm nicht möglich, sie zu seiner Frau zu machen? Warum nicht? Wenn sie sich ganz, ganz bescheiden einrichten würden, so bescheiden lebten wie seine Eltern, die jetzt in einen ganz kleinen Ort der Mark sich zurückgezogen hatten, und da, ohne weitere Ausgaben als fürs Essen, die Feuerung und das Schuhwerk, von ihrer Pension existieren konnten. Aber das waren Leute, die mit allem Höheren abgeschlossen hatten, die weder geistige noch leibliche Bedürfnisse hatten, die ihr Käseblatt, das im Monat eine Mark kostete, lasen, und es an der Gewohnheit hatten, abends um neun schon ins Bett zu kriechen, die nichts mehr sehen, nichts mehr hören wollten, das Deckbett sich über die Ohren zogen. Nein, das konnte er nicht! Und das wollte er nicht. Dazu hatte er sein Studium sich nicht erhungert, seine Examina sich nicht erhungert, sich nicht durch allerlei Mühen so weit gebracht. Viel war's freilich noch nicht, was er erreicht hatte – aber würde seine Praxis nicht größer werden, wenn er nur die Geduld hatte, zu warten? Auch eine Krankenhausberufung konnte ihm winken, mehrere Jahre war er schon Assistent gewesen; er wußte, daß es damit nur langsam geht, sehr langsam, langsam wie in dem ganzen Beruf. Er mußte eben Geduld haben, warten. Aber kann man warten, wenn man verliebt ist – so verliebt? Er war oft verworren und unglücklich. Er wußte von Kollegen, die Jahre und Jahre gewartet hatten, bis ihre Situation so geworden war, daß sie sich verheiraten konnten. »Sich Verkaufen«, ja, das konnte man – ein vermögendes Mädchen, dann konnte man eher heiraten. Seine Mutter hatte einmal allen Ernstes gesagt: »Du mußt eine Frau haben, die ein bißchen was hat, sonst ist's zu schwer« – aber hatte Marie-Luise denn was? Oh, mehr als ein bißchen, viel, so viel! Nur kein Geld hatte sie. Freilich, jetzt lebten die beiden Frauen ganz angenehm, die Mutter hatte ihre Pension, die Tochter ihr Gehalt – aber wenn das beides wegfiel? Dann war nichts, gar nichts da. Und er selber hatte vorderhand so gut wie nichts. Nein, es ging nicht, es ging nicht!

Oft, wenn es ihn so überkam, daß er sie hätte packen mögen, auf beiden Armen mit sich forttragen – eine gewaltsam entführte Beute – stürzte er fort von ihr ohne Abschied. Er hätte schreien mögen: »Küß mich nicht, laß deine Arme von mir! Oh, warum habe ich dich kennengelernt, wärst du doch nie, nie mir in den Weg gekommen!« Dann saß er die halbe Nacht, ohne an Schlafengehen zu denken, an seinem Schreibtisch in seinem Ordinationszimmer, das kahl war, nur mit dem Nötigsten ausgestattet; und wenn der Tag kaum hell wach war, saß er wieder am Schreibtisch und stierte auf das Jungmädchenbild aus ihrer Seminarzeit, das Marie-Luise ihm hingestellt hatte, weil er es so lieb fand. Ihr Gesicht erschien ihm heute noch ebenso jung wie damals und ebenso reizvoll. Er stöhnte und faßte sich in die Haare mit beiden Händen, grübelte vor sich hin, bis ein Mann erschien, scharrend und räuspernd, der Bronchialkatarrh hatte, oder eine Frau, die über schlechte Verdauung klagte, oder ein Dienstmädchen aus der Nachbarschaft, das einen schwärenden Finger hatte.

Ach, bei seinen bisherigen Einkünften war an Heiraten nicht zu denken! Aber wenn er ohne Bedenken wäre, leichtsinnig, gewissenlos, einzig seinem Begehren folgte, ob sie dann wohl –? Aber nein, nein, das tat er doch nicht, dazu liebte er sie zu sehr, achtete sie viel zu sehr! Sie durfte nicht zu jenen gehören, die – nein, er versuchte sie nicht. Er biß nachts in sein Kissen und weinte laut.

In solch verzweifelten Nächten dachte Droste daran, zu entfliehen, alles hier aufzugeben, was er sich mühsam errungen hatte, eine Schiffsarztstelle anzunehmen, um dann in weiter Ferne unter neuen Eindrücken die Sache endgültig loszuwerden. Eine Erlösung würde das sein, denn, ach, eine Heirat – solch eine Heirat – die trotz aller Liebe und Leidenschaft von vornherein den Stempel des Vergehens an sich trug durch das Versinken in gewissermaßen proletarische Verhältnisse, nein, das war auch unmöglich! –

Und doch sprach er ihr von Heiraten. Es war an dem Tage, an dem die Beerdigung von Frau Professor Büchner stattgefunden hatte.

Es war sehr schnell gegangen mit der armen Frau. Marie-Luise hatte in der Nacht plötzlich die Mutter rufen hören – freundlich, gar nicht ängstlich – und doch war sie aufgefahren in plötzlichem, jähem Schrecken. Die Mutter hatte ihr schon tagelang nicht gefallen wollen, sie war viel hinfälliger geworden in letzter Zeit und auf einmal merkwürdig sanft. Auch öftere Ohnmachten hatten sich eingestellt, die Alwin Droste auf die sehr rasch zunehmende Verkalkung schob. Als Marie-Luise nun ins Zimmer der Mutter stürzte, fand sie die vor ihrem Bett am Boden liegen. Im Fallen hatte ihre Schläfe noch eine Stuhlkante gestreift – sie blutete, o Gott, sie blutete ja! Kam davon die Ohnmacht? Die Tochter hob den Kopf der Hingesunkenen auf ihre Knie, im Nachthemd saß sie auf der Diele und rieb und streichelte das vom Leiden sehr fein gewordene alte Gesicht. Es wurde immer feiner und jetzt auch kälter, rasch immer kälter. »Mutter, Mutter!« Kein aus der Ohnmacht Zusichkommen. Da schrie Marie-Luise laut um Hilfe.

Die Gläßners hatten ihr treulich beigestanden, und vor allem Alwin. Nun saßen sie auf Marie-Luises Schlafsofa in dem plötzlich so leer gewordenen und öden Eßzimmer. Eine große Trauer war in der Tochter; sie hatte tapfer mit sich gekämpft, keine Szene auf dem Friedhof gemacht, still hatte sie dem Sinken des Sarges zugesehen und statt lieblosen Sandes Hände voll Rosen hinabgestreut. Sie hatte auch dem Rektor – im schwarzen Rock und Zylinder war der herausgekommen mit einer Anzahl größerer Kinder, die in vierstimmigem Chor das »Es ist bestimmt in Gottes Rat« sangen – die Hand gegeben und ihm Dank gesagt für seine Teilnahme. Herr Volbert war erregter und scheinbar ergriffener gewesen als Marie-Luise, dachte er doch im stillen: wenn das deine Schwiegermutter gewesen wäre!

Die Tochter war ganz ruhig geblieben, ganz gefaßt, wie betäubt hatte sie Margas Umarmungen über sich ergehen lassen, aber nun, jetzt, da alles vorüber war, sie, eben von der Beerdigung gekommen, mit dem Geliebten allein war, ganz ohne Zeugen, er ihre Hand gefaßt hielt und die sanft streichelte, konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und weinte herzbrechend.

Er ließ sie sich ausweinen, kein Wort des Trostes sagte er ihr und sprach auch sonst kein Wort. Aber als ihre Tränen anfingen seinen Hals zu netzen und heiß auf seine Hand tropften, die er an ihre glühende Wange gelegt hatte, ging es wie ein Krampf über sein Gesicht. Er wurde sehr bleich, seine Stimme kämpfte gegen etwas an, das ihn zu ersticken drohte, sich dann aber herauszwängte, ohne daß er es eigentlich wollte. Er mußte plötzlich sagen: »Wann heiraten wir?!«

Sie gab keine Antwort, rührte sich nicht an seiner Schulter.

Da wiederholte er noch einmal: »Wann heiraten wir?« Und diesmal kam es klarer heraus, klang es fester in einem alles überwindenden Entschluß.

Hatte sie es nicht gehört, gab sie noch immer keine Antwort? Ja, sie hatte es gehört, ihr Weinen ließ nach, jetzt hörte es plötzlich ganz auf. Und sich so unvermutet aufrichtend, daß er fast erschrak: Nun, nun würde sie sicher antworten: ›Sobald als möglich‹ – sagte sie, unter Tränen lächelnd: »Was für eine Idee! Du Lieber, Guter! Wir heiraten doch nicht.«

»Warum nicht, warum denn nicht?« Jetzt verbohrte er sich plötzlich in den Entschluß. »Aber natürlich heiraten wir! Jetzt gerade, wo du so allein stehst!«

Sie schüttelte verneinend den Kopf; das Lächeln, das sie jetzt zeigte, das kannte er noch nicht an ihr. Trauer, Freude, Dankbarkeit, Glück, Zuversicht, Stolz, Wehmut, alles das war in ihrem Lächeln – und Resignation. »Alwin, nein, wir heiraten nicht! Es sei ferne von mir, mich dir anzuhängen als Hemmschuh. Nein, du bist viel zu jung – erst siebenundzwanzig – ich bin älter, ich muß die Verständigere sein von uns beiden. Du mußt dich erst durchsetzen in deinem Beruf, etwas erreichen, dann kannst du heiraten. Und bis dahin bin ich viel zu alt.«

»Unsinn, alles Unsinn, was du da redest! Natürlich heiraten wir, ich habe mir schon alles reiflich überlegt. Meine Wohnung reicht aus, sie ist groß genug für zwei Menschen, die sich so lieb haben wie wir. Deine Möbel bringst du mit, die werden sie uns gemütlicher machen. Warum willst du nicht? Du liebst mich doch – warum also willst du nicht?«

»Weil es nicht geht.« Ihre Tränen waren versiegt, sie sah ernst und entschlossen aus.

Er ereiferte sich, er bedrängte sie förmlich, seine Leidenschaft war aufs neue entfacht, tötete alle bisherigen Gegengründe. Er mußte sie besitzen. Und da das nicht anders sein konnte, so mußten sie heiraten. »Ich liebe dich, ich liebe dich doch so«, stammelte er, kniete bei ihr nieder und legte den Kopf in ihren Schoß.

Sie streichelte sanft sein Haar, ihre Tränen begannen jetzt wieder zu rinnen; aber sie rannen nicht so schmerzlich wie vordem. »Sei vernünftig«, bat sie, »mach es uns nicht so schwer! Du würdest mir zuliebe eine sorgenvolle, vielleicht sogar armselige Existenz gern auf dich nehmen, ja, das weiß ich – sei still!« Sie legte ihm die Hand auf den Mund.

Er war aufgefahren, wollte beteuern, beschwören: »Was heißt armselig, was sorgenvoll! Wenn ich mal keinen Pfennig hätte, so würde ich das nicht tragisch nehmen. Wenn ich nur dich, nur dich habe!«

»Wie lieb du bist!« Sie küßte ihn innig. »Ich danke dir, daß ich« – was sie weiter sagen wollte, konnte sie nicht sagen, es klopfte an der Tür.

Herein trat Marga, und hinter ihr tauchte die Ebertz auf. Die alte Kollegin war auch bei der Beerdigung gewesen, dann waren beide erst noch eine Stunde herumgetrödelt, um Marie-Luise etwas Zeit zu lassen, jetzt aber kamen sie her.

Marga war sehr weich. Wenn etwas gewesen war, das sie Marie-Luise übel genommen hatte, jetzt war es vergessen. Sie umarmte die Freundin in heftiger Rührung: »Ach, meine arme Marie-Luise, meine geliebte Marie-Luise, nun bist du so allein wie ich!« Ihre Tränen und Küsse überschauerten die in ihrem schwarzen Kleid still Dastehende.

Wer war das?! Unwillig streifte des Doktors Blick Marga Moebius: Eine schöne Person, aber, wie es schien, etwas exaltiert. »Willst du mich vorstellen, bitte!« Marie-Luise hatte ihm noch nie von der Freundin gesprochen.

Marga stutzte: du?! Er sagte du?! Ihre Augen blickten scharf, sie begannen zu funkeln. Nun war es ihr auf einmal klar: ein Mann, dieser Mann war zwischen sie beide getreten! Darum also hatte die Freundin sich von ihr gewendet. Und sie hatte gehofft, fest erwartet, daß nun, da die Mutter gestorben war, Marie-Luise ihr wieder mehr, nein, ganz ausschließlich gehören würde. Jähe Eifersucht flammte in ihr auf und machte sie ungerecht: dieser Mann war wie alle Männer, dumm und störend. Ihr sonst so weicher Alt wurde hart, sie sprach völlig anders, als es sonst ihre Art war.

Auch Doktor Droste war nicht liebenswürdig; er hatte so gar keine Lust, sich zu unterhalten, seine Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit dem, was er eben mit der Geliebten besprochen hatte. »Ich danke dir, daß ich« – da waren sie unterbrochen worden, gerade da. Was hatte sie noch sagen wollen? O diese beiden verfluchten Weiber, wenn die doch zum Teufel gingen!

Aber sie gingen nicht. Marie-Luise hatte sie gebeten, abzulegen; die beiden hatten solch weiten Weg gemacht, besonders die gute Ebertz. Sie sah es ja auch gern, wenn sie noch ein wenig blieben, das gab ihr Zeit, sich zu fassen und zu überlegen: ach, sie liebte ihn ja so sehr – aber nein, nein! Und die beiden da waren noch etwas von früher, aus damals noch sorgloser Zeit. Sie klammerte sich förmlich an Melitta Ebertz.

Und Fräulein Ebertz war glücklich, das zu fühlen, und stolz, daß sie offenbar der Moebius vorgezogen wurde. Die Freundschaft zwischen den beiden schien in der Tat nicht mehr so heiß: was mochte wohl der Grund zu dieser Entfremdung sein, vielleicht dieser Herr Doktor?! Sie beäugte den kritisch, und er gefiel ihr. Warum sollte er Marie-Luise nicht auch gefallen? Ein stattlicher Mensch, hübsches, intelligentes Gesicht. Nur ein bißchen gesprächiger hätte er sein können, er tat kaum den Mund auf; aber das mochte eine gewisse Verlegenheit sein, sie hatten augenscheinlich gestört. Als Marie-Luise einmal ins Nebenzimmer ging, benutzte sie die Gelegenheit, dieser nachzugehen. Sie faßte das Mädchen um und sagte herzlich: »Bei allem Leid, das Sie jetzt haben, kommt es mir doch vor, als schiene hier ein bißchen Sonne. Und darüber bin ich froh für Sie – der Mensch braucht Sonne – wirklich aufrichtig froh. Ich habe Ihnen ja schon früher gesagt, Büchner, Sie werden sich verheiraten. Na, und nu, darf man gratulieren?«

Marie-Luise war zusammengezuckt; ihr erstes Gefühl war ein Verletztsein, sie war so gar nicht in der Stimmung, dergleichen zu hören, jetzt, da ihre Mutter kaum unter der Erde lag, jetzt, da eine Unterredung, die sie bis in ihre tiefsten Tiefen aufstörte, noch nicht beendet war. Aber als sie in das Gesicht sah, dessen stumpfe, alltägliche Züge von einem aufrichtigen, freundschaftlichen Mitgefühl verschönt waren, empfand sie diese Frage nicht mehr als unzart. Im Gegenteil, es war ihr wie ein Trost, daß sie, die keine Mutter mehr hatte, der alten Kollegin den Arm um den Hals legen konnte und ihr einen Kuß geben: »Ja, ich weiß, Sie meinen es gut mit mir – aber ach, Fräulein Ebertz, es ist nichts zu gratulieren, gar nichts!« Und ihre Stimme klang sehr traurig.

»Wie, sollte ich mich denn so geirrt haben? Der will Sie gar nicht heiraten?« Die Ebertz war höchst erschrocken, förmlich gekränkt in die Seele der anderen hinein, und das so sehr, daß Marie-Luise wehmütig lächeln mußte: ah, wenn die wüßte, daß er wohl heiraten wollte, daß sie, sie es war, die nicht wollte! Was würde die gute Ebertz wohl dazu sagen, die würde sie gar nicht begreifen. Es mochte manchem unbegreiflich erscheinen, aber sie, bei Gott, sie konnte nicht anders – nein, sie durfte nicht anders! Schon heute, deutlich wie durch klares Glas, sah sie jenseits ihre Zukunft. Eine Zukunft, müde und matt geworden, eine Ehe, die zu wenig fest begründet war. Nicht an Liebe und Opferwilligkeit, aber zu wenig an Hab und Gut – ach, materielle Sorgen sind Fesseln, sie erdrosseln jeden Aufschwung, erdrosseln zuletzt auch das Liebesgefühl! Nein, das tat sie ihm nicht an – ihm, den sie so sehr liebte – daß sie seine Jugend vor der Zeit abbrach, sich ihm anhing, schwer und lähmend. Ihm, der noch um die eigene Existenz kämpfen mußte, auch noch ihre Existenz aufhalste. Nein, das tat sie nicht, das tat sie nicht, dazu liebte sie ihn viel, viel zu sehr!

Sie verbohrte sich förmlich in diesen Entschluß, bestärkte sich mit jedem Gedanken daran noch immer mehr. Er sollte nicht unter Sorgen seufzen, die unendlich niederziehend sind durch ihre sich stets erneuernde Wiederholung: das tägliche Brot, die Miete, die Kleidung. Wo diese Alltäglichkeiten immer die ersten Sorgen sein müssen, da kann kein Glück gedeihen. Oh, er war zu schade dafür! Ja, wenn sie Geld hätte, ihm so viel wenigstens zubrächte, daß diese gemeinsten Sorgen ihm abgenommen waren, ja, wenn das wäre, dann – aber war es denn nicht so?! Hatte sie denn nicht einen Beruf, verdiente, ernährte sich selber?!

Plötzlich stutzte sie: wo hatte sie nur ihre Gedanken gehabt? Hatten die Schatten des Todes alles so umdüstert, daß sie nur schwarz sah, einzig und allein nur schwarz? War es denn nicht so, daß sie ihm, auch ohne Vermögen, eine Erleichterung der alltäglichen Sorgen schuf? Dreihundertvierzig Mark! Es war keine hohe Summe, aber es war ein sich monatlich wiederholendes Gehalt, ein stetiger Beitrag. Dreihundertvierzig Mark – davon müssen andere ganz leben, haben gar nichts weiter mehr. Und er verdiente doch auch, und wenn er nur ein bißchen Glück hatte, dann verdiente er bald mehr. Die Leute würden schon einsehen, welch guter Arzt er war, sie würden, nein, sie mußten sich ihm in kranken Tagen anvertrauen. Es konnte gar nicht anders sein, er war bald ein vielbeschäftigter Arzt. Und bis dahin half sie.

Sie fühlte plötzlich eine Freudigkeit, eine so alles überströmende helle Sicherheit, daß sie sich ihm am liebsten an den Hals gestürzt hätte: ich blöde Närrin, was habe ich da vorhin alles geschwatzt! Dummheiten, lauter Dummheiten! Es ist nicht unmöglich. Du verdienst, ich verdiene, wir bringen schon soviel auf, daß wir eine Ehe schließen können, die nicht gleich von Anfang an eine Misere ist. Sieh mal, ich habe ja soviel; dreihundertvierzig Mark! Und mit jedem Jahr steigt das Gehalt. Ich bin gewiß, daß es gehen wird, sogar sehr gut gehen. Ich kann dein sein – dein! – ohne daß ich dir durch mich eine Last aufbürde. Dir anhänge wie ein Hemmschuh, dich an allem hindere, um voran zu kommen. Nein, ich bin ja gar nicht so arm wie ich meinte: ich bin ja angestellt, ich habe meine Schule! Also warum meine Angst, mein unbegreifliches Widerstreben? Ach, verzeih', du Geliebtester, ich begreife mich jetzt selber nicht mehr!

Mit der Schnelligkeit eines erleuchtenden Blitzes war dies alles Marie-Luise durch den Sinn geschossen. Als sie jetzt ins Zimmer zurückkehrte, das sie eben erst verlassen hatte, sah sie ganz anders aus. Vorhin war sie sehr bleich gewesen, jetzt glühte sie; in ihren armen verweinten Augen leuchtete es auf, als ein Blick des Geliebten sie traf.

Der Doktor sah sie prüfend an, fragend, erwägend: »ich danke dir, daß ich« – was hatte sie nur sagen wollen, als sie so störend unterbrochen wurden? Fast streng war sie ihm vorhin erschienen, unnahbar in ihrer Entschlossenheit, jetzt sah sie nicht mehr so ernst aus – ach, und jetzt lächelte sie, ja, jetzt lächelte sie sogar! So lieb, so lieb! In ihrem Blick war ein heimliches Grüßen, in froher Überraschung sah er es. War das nicht wie eine unausgesprochene Zusicherung für ihn? Wenn nur die zwei Damen gingen!

Und jetzt dachte auch Marie-Luise: wenn sie nur gingen! Oh, wie war er vor ihr zusammengebrochen, hatte stöhnend den Kopf in ihren Schoß verborgen! Wie hatte sie nur so an sich halten können, anstatt ihn fest, fest in ihre Arme zu nehmen? Es tat ihr jetzt sehr leid, daß sie das nicht getan hatte. Was hatten sie beide nach anderen zu fragen? Sie standen beide für sich allein. Wozu all ihre abweisenden Worte, ihr trauriges Vernünftigsein? Hatte sie vorhin nicht gerade so getan, als ob sie ihn nicht liebe? Glauben könnte er das.

Vorhin, ja vorhin! Oh, das galt jetzt nicht mehr. Jetzt rief es in ihr, in jauchzender, alles hintansetzender Liebe: »ich werde sein!«


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