Ludwig Tieck
William Lovell
Ludwig Tieck

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7
Emilie Burton an Amalie

Bondly.

Liebe Freundin, ich fühle mich zum Schreibtische ordentlich mit Gewalt hingezogen, um mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie haben so oft Ihren Kummer in Briefen gegen mich ausgeschüttet, und ich denke eben darüber nach, ob jetzt vielleicht an mich die Reihe ist. Ich habe oft von Rührung reden hören und selbst gesprochen, aber bis jetzt ist es nur ein Wort für mich gewesen, dessen eigentliche Bedeutung ich erst heute habe kennen lernen.

Schon seit einigen Tagen hält sich ein kranker armer Mensch in unserm Hause auf, dem mein Bruder aus Mitleid ein kleines Zimmer hat einräumen lassen, weil der Gärtner für ihn bat. Die Bedienten haben ihn bis jetzt verpflegt, und wir bekamen ihn fast gar nicht zu sehn, denn er hielt sich immer außerordentlich still und eingezogen, und jedermann im Hause glaubte, daß seine Krankheit vorzüglich in einer tiefen Melancholie bestehe.

Mein Bruder war gestern ausgeritten und ich saß allein im Garten. Sie kennen die Laube, in der ich am liebsten bin, wo man nur den einen schmalen Gang hinuntersehn kann und allenthalben von dichten Hecken eingeschlossen ist. Ich las und arbeitete, und bemerkte nach einiger Zeit den Kranken, der tiefsinnig im Gange auf und ab ging, bald mit verschränkten Armen stille stand und den Blick starr auf den Boden heftete, bald Blumen abriß und sie mit seinen Tränen benetzte. Ich war auf alle seine Bewegungen aufmerksam, denn aus jeder schien ein tiefer Kummer zu sprechen. Ich weiß selbst nicht, auf welche wunderbare Weise mein Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz wie bei einer guten Tragödie zumute, wo ein unbekannter Elender unsre ganze Teilnahme an sich reißt.

Ich konnte es nicht unterlassen, ich mußte aufstehn und ihm näher treten. Er schien bewegt und erschreckt, als er mich erblickte, er wußte nicht, ob er gehen sollte, oder bleiben. Ich redete ihn freundlich an, um ihn über seinen Kummer zu trösten. Er antwortete und jedes Wort war ein tiefes Gefühl seines Unglücks, mit jeder Antwort ward meine Rührung größer und ich konnte am Ende meine Tränen nicht verbergen.

Was ist es doch, was unser Herz oft so gewaltsam zusammenzieht? Wer kann jene Gefühle beschreiben, die wir Rührung nennen, und wer kann ihre Entstehung begreifen? – Wenn das Mitleid in unser Herz eintritt, o Freundin, dann breitet es sich gewaltsam wie mit Engelschwingen darin aus, daß unser armes irdisches Herz erzittert und sich zu klein für den göttlichen Fremdling fühlt, dann möchten wir in diesem schönen Augenblicke sterben, weil wir empfinden, daß unser voriges Leben kalt und dürr dagegen war, weil wir es wissen, daß die Zukunft nach diesem schönen Augenblicke nur leer und nüchtern sein wird: wir möchten ganz in wollüstigen Tränen zerfließen, wir können uns nicht darüber zufriedengeben, daß wir nach dieser Seligkeit noch leben sollen. Das Herz begehrt zu brechen, und die Seele den Flug aufwärts zu nehmen – nein, ich kann keine Worte für diese Gefühle finden, ob mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen Tränen sind. – Kann es denn wirklich Menschen geben, die nie das Mitleid empfunden haben, die nie Tränen vergossen? – O denen sei es erlaubt, die Unsterblichkeit ihrer Seele zu bezweifeln, ihnen sei es vergönnt, die Menschen zu hassen, denn sie müssen es nicht begreifen können, warum man sie liebt. –

Ich kann nicht dafür, liebe Freundin, daß ich hier deklamiert habe, denn meine ganze Seele hat sich in mir aufgetan. Sie kennen ja auch diese zarten Regungen des Herzens, Sie werden mich verstehen, und mich keine Schwärmerin nennen. Mit Männern kann man überhaupt nicht so sprechen, sie sind viel zu sehr in die Geschäfte des Lebens verwickelt, um ihre Gefühle rein und hell in ihrem Busen zu behalten, sie handeln und denken und eben dadurch wird alles übrige in ihnen verdunkelt. Nur der Mann, von dem ich Ihnen erzählen wollte, nur er, vielleicht unter seinem Geschlechte der einzige, ist fähig mich ganz zu verstehn, aber er kommt aus der Schule des Unglücks und der Leiden, die dem Herzen die verlorne Menschlichkeit wiedergeben.

Zeigen Sie niemanden diesen Brief, liebste Freundin, denn er ist nur für Sie allein geschrieben, jedes andre Auge würde ihn entweihen und nur über meine Schwachheit spotten. So wenige Menschen verstehen es, fröhlich zu sein, und noch weit wenigere zu trauern, der Schmerz redet sie in einer himmlischen Sprache an und sie können nur mit ihren unbeholfenen, irdischen Tönen antworten. Wer sich freuen oder wer weinen will, ziehe sich ja zu Blumen und zu Bäumen zurück.

Der Unbekannte redete sehr herzlich und bald schien mir seine Sprache so bekannt. Es kamen wunderbare Erinnerungen in meine Seele; ich betrachtete ihn genauer, und auch seine Gesichtszüge schienen mir nun nicht mehr fremd. – O Amalie, welche Empfindung ergriff mich, als ich in dem armen Verstoßenen, in dem kranken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund von mir entdeckte – und wie er sich mir nun selbst zu erkennen gab und viel von den Menschen und ihrer Grausamkeit sprach – wie Tränengüsse aus seinen Augen stürzten und er zu meinen Füßen sank und um Vergebung flehte – o Freundin, ich wußte nicht, ob ich lebte, oder tot sei – ob ich mich nicht plötzlich im Lande der wunderbarsten Träume befände – ach, ich kann immer noch nicht zu mir selber kommen.

Seinen Namen darf ich Ihnen noch nicht nennen, so wie er auch unserm ganzen Hause ein Geheimnis ist, aber bald, bald will ich Ihnen alles auflösen, und Sie werden ebensosehr erstaunen. – Alle Gegenstände flimmern mir seit diesem Augenblicke vor den Augen, ich kann nichts recht fest angreifen, und mein Gemüt ist zu den seltsamsten Vorfällen und Verwandlungen vorbereitet. Meine Augen wollen unaufhörlich weinen und jeder freundlich lachende Mund rührt mich innig: eine große Wehmut hat mir alle Gegenstände der Welt in die Ferne gerückt und der Schreck beim Erkennen zittert immer noch in mir fort.

Wunderbar gehn die Schicksale und Leiden der Welt und noch nie ist mir dieser fürchterliche Gang so deutlich vor die Augen getreten. Ich habe noch wenig gelitten, und ich möchte nun fürchten, daß ich noch viel zu leiden habe.

Sehn Sie, liebe Amalia, so melancholisch hat jener Unglückliche Ihre Freundin gemacht; der ganze Brief ist ein Beweis von der Spannung meiner Phantasie. – Leben Sie recht wohl und glücklich.

 

8
Karl Wilmont an Mortimer

London.

Ich habe doch hier, bei aller meiner Philosophie manche ungeduldige Stunde, und ich glaube, ich habe so gut wie jeder andre Verliebte ein Recht dazu.

In den ersten Tagen kam es mir so außerordentlich leicht vor, von Emilien entfernt zu sein, daß ich wohl gar im stillen wünschte, man möchte mir eine schwerere Probe auflegen. Es ging mir grade wie dem Kranken, der eine gefährliche Krisis überstanden hat, sich in den ersten Tagen nach dieser schon für genesen hält, und sich nicht genug darüber wundern kann, wie ihn die übrigen Menschen noch bedauern: aber bald fühlt er die Krankheit und Mattigkeit in allen seinen Gliedern von neuem, er wird von neuem ungeduldig und vergißt die schmerzhaften Tage gänzlich, die jetzt hinter ihm liegen. Du wirst mir wenigstens zugeben, daß der Mensch immer bei dieser kuriosen Einrichtung seiner Natur die herrlichsten Ursachen hat, unzufrieden zu sein.

Wie unermeßlich lang kommt mir jetzt oft bei meinen Arbeiten ein Bogen vor, den ich vollschreiben soll, da er mir in den ersten Tagen nur wie ein Spaziergang war. Alle dummen und klugen Streiche laufen in der Welt doch wahrhaftig auf eins hinaus. Du nennst es nun selbst einen vernünftigen Plan, daß ich beim Minister angestellt bin, und wie wenig hab ich daran gedacht, als ich mich anstellen ließ? Wahrlich, ich ließ mich eben mit der phlegmatischen Unbefangenheit zu ihm schleppen, als wäre die Reise nach einem Weinhause gegangen; meine allerdummsten Streiche haben mir weit mehr Kopfbrechens gekostet. Ich glaube, ich könnte der edelste und tugendhafteste Mann von der Welt werden, ohne daß ich ein Wörtchen davon wüßte. Lieber Mortimer, wenn das irgendeinmal der Fall sein sollte, so mache mich doch um des Himmels willen aufmerksam darauf, damit ich nicht so in meiner Dummheit hin außerordentlich edel bin und selbst gar keine Freude daran habe.

Du bist mir zum ersten Male in Deinem Leben mit Deinem neulichen, so überaus ernsthaften Briefe ein wenig närrisch vorgekommen. Seit Du ein Ehemann bist, führst Du einen gewissen altklugen Ton und übst Dich an mir zum künftigen Erzieher Deiner Kinder. Du bist bei weitem nicht mehr so launicht als ehedem, ich wette, daß Du jetzt nie einen Perioden anfängst, ohne zu wissen, wie Du ihn endigen willst; und doch gefiel mir eben das sonst so sehr an Dir, daß Du selbst einen weisen Spruch zuweilen anhubst, ohne zu wissen, wie er schließen solle. Du verlierst vielleicht nach und nach das wahre Leben und wirst am Ende nur eine Ruine vom ehemaligen Mortimer. Wenn ich Dich denn besuche und Du hinter Deinem Tische mit dem ernsthaften Gesichte sitzest; so muß ich in Gedanken alle Deine ehemaligen Vortrefflichkeiten in Dich hineinlegen, um nicht auf die Meinung zu geraten, daß ich den leibhaftigen Grandison vor mir sehe.

Aber laß uns einmal ernsthaft sprechen. – Dein neulicher Brief kann Dir unmöglich ganz Ernst gewesen sein, denn was Du da von den Geschäften und der Elastizität sagst, ist so altfränkisch, so philosophisch und so unwahr, daß ich beinahe Lust hätte, Dir alle meine Geschäfte zu übertragen, damit Du es selber mit Händen griffest, wie sehr Du gelogen hast. Du hast in Deiner ländlichen Ruhe gut sprechen, aber wenn Du nur die langweiligsten, unbedeutendsten Sachen mit einer Emsigkeit und Genauigkeit abschreiben müßtest, als wenn daran die Seligkeit von zehn Märtyrern hinge, wenn Du es nur selber fühltest, wie bei einer solchen Arbeit die Wände umher immer enger zusammenrücken, und das Herz ängstlich klopft und Du nach dem letzten Worte mit der fliegenden Feder hinrennst, als wenn das Haus einfallen wollte, ei, wie anders sprächest Du! Dann holt man Atem, um es von neuem durchzulesen, und kaum ist man eine halbe Stunde ausgegangen, so findest Du schon neue Stöße, die auf Deine Abfertigung warten. Wo da die Elastizität herkommen soll, kann ich gar nicht einsehn. Die Gedanken im Kopfe werden immer dünner, und gehn am Ende gar aus; statt daß ich sonst Stellen aus dem Tristram Shandy auswendig wußte, übe ich meine Memoire jetzt an den mancherlei Titulaturen.

Ich bin mir in manchen Stunden schon ungemein abgeschmackt vorgekommen, daß ich mir so viele edelmütige Bedenklichkeiten ausgedacht und Emilien nicht auf der Stelle geheiratet habe. Glück! ist das nicht das höchste Wort im Leben, unsre erste Pflicht, ein Wort, gegen das jede Delikatesse albern erscheint? Doch ich bin einmal eingespannt, und so werde ich denn auch wohl aushalten müssen.

 

9
Emilie Burton an Amalie

Bondly.

Ich bin auf Ihre Antwort begierig, da Ihr Herz mit dem meinigen immer sympathisiert hat. Ach liebe Freundin, ich kann Ihnen nicht alles so sagen, wie ich es gern möchte, ich spare dies Vertrauen noch für eine andre Zeit auf.

Welch ein Mensch ist jener Unbekannte, von dem ich Ihnen neulich schrieb! Er ist ganz über das kleinliche Leben hinüber, in dem sich die gewöhnlichen Menschen so ängstlich abarbeiten. Sein Geist ist durch und durch geläutert und gereinigt und er gehört nicht mehr der Erde an. Ich kann es nicht unterlassen, ihn zu bewundern, sooft ich ihn sehe oder spreche, er hat eine andre als die gewöhnliche Menschensprache. Wenn ich an ihn denke, geht eine innige Rührung durch meine Brust, ich möchte beständig in seiner Gesellschaft sein, sein tiefes Urteil über das und über jenes hören, und ihm mit meinem Troste den Gram etwas aus seinem düstern Angesichte schmeicheln.

Niemand kennt ihn hier und niemand weiß, daß ich ihn kenne, ich muß Ihnen seinen Namen auch noch verhehlen, weil es sein Wille so ist und weil er gegründete Ursache dazu hat.

Es ist so etwas Wunderbares um ihn her, daß man sich in seiner Gegenwart wie in eine andre Welt entrückt fühlt. Alle, selbst die alltäglichsten Sachen, erhebt er zur höchsten Poesie, so daß er wie ein fremder Geist auf dieser Erde wandelt. Wenn ich dabei an sein Unglück denke, so kann ich nicht müde werden, von ihm zu sprechen; mich freut es, daß er mich seine Freundin nennt, da ihn kein Wesen auf dieser Erde weiter liebt. Denken Sie sich den schrecklichen Gedanken: ich bin das einzige Geschöpf, das sich für ihn interessiert!

Wozu sind die Millionen Menschen auf dieser Erde, da so wenige nur einen finden, der sie liebt! – Ach, sie kömmt mir wüst und entvölkert vor, sie ist nur eine große Masse, voller stummen Leichen, die in und auf ihr sind. Sind sich alle die Armseligen selber genug? Haben Sie kein Bedürfnis nach Liebe und Mitempfindung? Sie sterben alle, ohne gelebt zu haben, sie sind Leichen, die sich bewegen, und denn auch diese Fähigkeit an die Natur abgeben und sich hinlegen und verwesen.

Nennen Sie mich nicht trübsinnig, liebe Amalie, denn es ist so: Der ganze Lebenslauf des Unbekannten enthält nur diese Wahrheit.

 

10
William Lovell an Emilie Burton

Hier sitz ich nun, teureste Emilie, in meinem engen einsamen Zimmer und denke und träume nur Sie. Mein Fenster stößt auf den Gang, in welchem ich schon damals mit Amalien so oft an Ihrer Seite saß. Amalie, die mich vergessen, die mich niemals geliebt hat. Ach, Unglücklicher! und du darfst noch klagen? Hat sich der huldreichste Engel nicht deiner mit einem himmlischen Mitleid angenommen? Kannst du von dieser irdischen Erde noch mehr Glück, noch eine höhere Wonne erwarten?

Ach, Emilie, immer, immer möcht ich bei Ihnen sein und den süßen Ton Ihrer tröstenden Stimme hören, immer den sanften Augen begegnen, die dem Verstoßenen, dem Elenden so kostbare Tränen schenkten. Die ganze Welt verkennt und verläßt mich. Ihr harter Bruder hat mir seine Freundschaft aufgekündigt. – Oh, mag er sie zurücknehmen, wenn ich nur das Herz seiner göttlichen Schwester behalte. – Was kümmern mich die Augen der übrigen Welt, wenn mich nur die Ihrigen bemerken und nicht zürnend auf mich blicken!

Sie kennen, Sie dulden und lieben den Menschen, o das hab ich daran erfahren, daß Sie mich nicht verstießen, als ich die freche Erklärung wagte, als ich Ihnen entdeckte, warum ich verkleidet dieses Haus betreten habe. Was kann ich denn auch für die heißen Empfindungen meines Herzens? Ist es ein Verbrechen, Sie zu lieben? – O ja, so bin ich ein Verbrecher, verachten und hassen Sie mich und mit dem Ende dieses unerträglich schweren Lebens ist meine Sünde abgebüßt. – Aber nein, Sie haben mir verziehen, Sie haben sich meines Elendes mit der Gütigkeit eines Engels erbarmt, Sie wollen mich gegen meine wilde Verzweiflung schützen, Sie haben es mir zugesagt – warum bin ich denn nicht froh und glücklich? – Weil ich immer noch an diesem Glücke zweifle, weil ich in diesem Leben gelernt habe, daß uns alle Hoffnungen hintergehn, weil ich es nur für eine schuldlose Verstellung halte, um mich auf einige Tage zu trösten. O Emilie! bedenken Sie, wie ich denn zu meinem gewöhnlichen Leben wieder erwachen werde!

Warum sollte aber nicht ein Unglücklicher in seinem dürren Lebenslaufe, unter den unzähligen leeren Larven, die ihm begegnen, auch einmal einen Boten des Himmels antreffen, der ihm von oben her Frieden verkündigt? Ach, mein ganzes verschlossenes, verwelktes Herz würde sich wieder wie eine Blume aufrichten, die ein warmer Frühlingsregen trifft. Ein schöner Regenbogen würde den Horizont meines dunklen Daseins umarmen, und Hoffnung, Liebe, Glück und Seligkeit würde aus jedem Sterne der Nacht, wie aus einem goldnen Auge auf mich herniederblicken.

Wenn ich leben soll, so müssen Sie mir diese Hoffnung nicht nehmen; wenn ich lächeln soll, o so müssen Sie sie erfüllen.


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