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Fünfzehntes Kapitel

Abends bei Tisch war sie in einer seltsamen Stimmung. Sie bestand darauf, Vater Hanrahan über Elfen und Feen und den irischen Volksglauben an überirdische Wesen auszufragen. Je lästiger es ihm wurde, desto unerschöpflicher wurde ihr Wissensdurst. Sie schien die Gereiztheit in seinen kurzen Antworten nicht zu merken. Gelegentlich war er unverhüllt grob, nicht ohne Anlaß dazu zu haben. Aber sie schien außerstande, irgend etwas übelzunehmen. Sie schien unstet und flüchtig, ein Wesen, das sie alle drei nicht fassen und nicht halten konnten. Sie schauspielerte nicht. Sie war irgendwie entrückt, weit weg von ihnen, und ihre Stimme schien nicht die Stimme, sondern nur das Echo einer Jane Carroll, deren rascher, beweglicher Verstand die Kunst beherrschte, durch das, was sie sprach, zu fesseln.

Als Vater Hanrahan sagte: »In den Menschen selbst steckt mehr Übles als in all den Feen und Kobolden, und die Welt wird es erfahren, wenn diese Zeit in Irland endlich vorbei ist.«

Da sah sie ihn wie durch einen Nebel an und antwortete: »Wenn ich Sie wär', ich würde die Geister Irlands nicht ignorieren, mögen es gute oder böse Geister sein. Man kann nicht alles mit der Erbsünde erklären wollen.«

»Sind Sie überhaupt noch Katholikin?« entgegnete er.

»O gewiß, aber nur englische Katholikin. Und das heißt, daß ich nicht dazu veranlagt bin, Ihnen mein Gewissen mit beiden Händen zu übergeben. Ich bin eher geneigt, ein bißchen davon für mich allein zurückzubehalten. Natürlich sind wir in England unfähig, Irland zu verstehen, aber haben Sie je geglaubt, Sie könnten an uns die Neigung verstehen, daß wir unseren Besitz zu bewahren wünschen? Wir haben zwei Hände wie jedermann, aber es ist nicht unsere Art, sie beide zugleich aus der Tasche zu ziehen.«

»Wer wünscht hier verstanden zu werden?« fragte Draper. »Wozu haben wir denn die Zeitungen?«

»Dann würde ich die Geister und Kobolde noch vorziehen«, sagte Jane. »Es erscheint mir schrecklich einseitig, wenn man nur all das Üble kennt, das im Menschen steckt.«

Stephen hatte zur Unterhaltung nichts beizutragen. Er saß da und verzehrte sein Essen. Gelegentlich sah Jane seine Augen beobachtend auf sie gerichtet. Sie wich ihnen aus. Sie wich ihm aus. Diesmal war es keine Stimmung, die kam und vorüberging. Ihr Körper und ihr Geist gingen ihm mit voller Überlegung aus dem Wege. Draper hielt sich von ihr fern. Es schien unvermeidlich, daß sie, wenn man vom Tisch aufstand, zwangsweise auf die Gesellschaft Vater Hanrahans angewiesen war.

Er folgte ihr sogar ins Wohnzimmer hinüber, noch ehe die anderen vom Tische aufgestanden waren. Sie hörte seine Schritte hinter sich in der Diele, sah sich aber nicht um. Als sie sich umdrehte, um die Tür hinter sich zu schließen, stand er bereits im Türrahmen.

»Sie sind doch gewiß nicht mit der Absicht gekommen, mich angenehm zu unterhalten?« fragte sie.

Er schloß wortlos die Tür.

Sie wählte einen Sitz und ließ sich nieder. Es war ein Lächeln in ihren Augen, das gewiß nicht von Heiterkeit eingegeben war. Er stand mit dem Rücken an den Kamin gelehnt. Sie sah eine Bedeutung darin. Diese Unterredung sollte auch äußerlich keinen gemütlichen Anstrich tragen. Aber das Lächeln verharrte um ihren Mund, auch dann noch, als er das Gespräch mit den Worten begann:

»Vor einiger Zeit habe ich Sie davor gewarnt, die Finger in Sachen zu stecken, die Sie nichts angehen.«

»Ich erinnere mich daran«, sagte sie mit liebenswürdigem Entgegenkommen.

»Würden Sie es vielleicht besser verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß es sogar eine gefährliche Sache ist, die Finger hineinzustecken?«

»Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, daß ich es besser verstehen würde«, sagte sie. »Ich weiß längst sehr gut, daß jeder, der an Irland in der Weise Interesse nimmt wie ich, mit dem Feuer spielt. Ich habe schon beim erstenmal recht gut verstanden, was Sie sagen wollten.«

»Es sind zwei Wochen oder mehr seitdem vergangen«, sagte er.

»Sie wollen sagen, daß die Ereignisse nicht stillzustehen pflegen?!«

»Ich meine, nichts steht still. Die Ereignisse nicht, und die Leute nicht.«

»Warum tun Sie so geheimnisvoll? Was wollen Sie eigentlich sagen?«

»Ich meine ...« sagte er.

»Sie meinen die Sache mit den Gewehren«, unterbrach sie ihn. »Warum geben Sie nicht ohne weiteres zu, daß Sie über die ganze Sache unterrichtet sind, statt sich da hinzustellen und so zu tun, als handle es sich um nichts weiter als einen kleinen väterlichen Rat, den Sie mir geben wollen.«

Er rührte sich nicht. Er bewegte weder den Körper noch die Augen. Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte.

»Es gibt schlechtere Ratschläge als die des Priesters,« sagte er langsam, »und es gibt mehr Dinge, die einer verlieren kann, als er mit dem Gewehr in der Hand gewinnen kann.«

Wußte sie nun, was er meinte? Er hatte niemals unheildrohender ausgesehen als jetzt. Dennoch verriet ihr sein Gesicht mit den zusammengepreßten Lippen und den Augen, die unter den dicken Brauen halb verborgen lagen, nicht das geringste. Sie fühlte sich erleichtert, als die Tür aufging und ihr Gespräch durch den Eintritt der anderen unmöglich gemacht wurde. Sie war froh, daß die anderen da waren.

Aber in Wirklichkeit war ihr innerlich so zumute, daß sie niemand in ihrer Nähe wissen wollte. Am Nachmittag, als sie vom Spaziergang mit Draper nach Hause kam, hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, oben zu bleiben und sagen zu lassen, sie fühle sich nicht wohl genug, um zum Essen herunterzukommen. Aber sie wußte, daß daraufhin Stephen unweigerlich bei ihr erschienen wäre, und dies hielt sie davon zurück. Alle drei zugleich sich gegenüber zu haben, war immer noch besser, als mit einem von ihnen allein zusammen zu sein. So hatte sie auch beim Essen lieber die ganze Zeit sich bemüht, Vater Hanrahan zu zwingen, an der Unterhaltung teilzunehmen, als eine Unterhaltung zu führen, die Stephen oder Draper in Berührung mit dem hätte bringen können, was sie innerlich empfand und dachte.

Mit sich allein zu sein, schien ihr noch die einzige Möglichkeit. Allein zu sein, war eine Gefahr, denn es ließ einem zu viel Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, aber alles war besser, als um sich herum diese Stimmen zu hören, die versuchten, Konversation zu machen.

Als die Uhr am Kamin neun schlug, stand sie von ihrem Stuhl auf.

Es war ihr, als müsse sie eine Rolle absolvieren, als sie den drei Männern gute Nacht sagte. Es ähnelte so sehr einem Abgang auf der Bühne. Das wirkliche Leben lag jenseits dieser Kulisse. Es wartete auf sie. Drei Stunden noch bis Mitternacht.

Sie küßte Stephen auf die Stirn. Sie drückte seine Hand. Von allem, was sie tat, ehe sie den Raum verließ, schien dieser Händedruck noch am meisten Wirklichkeit für sie zu besitzen. Sie empfand eine wehe Zärtlichkeit für ihn, die sie nicht zeigen durfte, wenn sie seinen Fragen und seiner Besorgnis aus dem Wege gehen wollte. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, hörte sie sich flüstern: »Das wäre vorbei!« Es klang, als glaube sie, keinen der drei je wiederzusehen. Und es war denkbar, daß sie es glaubte.

In dieser Verfassung Louise um sich herum zu haben, war ganz unmöglich. Schon der Gedanke, daß jemand die Dinge für sie tat, die sie selbst tun konnte, war ihr unerträglich. Je mehr sie selbst tun konnte, um so besser war es. Selbst die trivialsten Dinge waren willkommen, wenn wenigstens ihre Hände beschäftigt waren. Ohne Rücksicht auf Louises zarte Gefühle, trieb sie ihre Zofe aus dem Zimmer. Aber kaum war Louise verschwunden, als Jane, das Echo ihrer eigenen Schroffheit noch im Ohr, Mitleid mit ihr empfand und sie zurückrief.

»Gehen Sie doch ins Bett, wenn Sie schlafen gehen wollen, Louise, um mich brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«

Louise erbot sich, ein Bad zurechtzumachen. Dies bedingte, daß sie erhebliche Mengen heißen Wassers von unten heraufschaffen mußte, aber alles war besser, als sich kurzerhand verabschiedet zu sehen. Sie schien unfähig, sich einer unbeschwerten Nachtruhe zu erfreuen, wenn sie nicht vorher irgend etwas für Jane getan hatte.

»Ich bin närrisch, Louise«, sagte Jane.

»Warum denn, gnädige Frau?«

»Nun, Louise, Sie sind doch einfach unentbehrlich, das wissen Sie ja auch selbst.«

»Ich komme nachher wieder herauf, gnädige Frau, und bürste Ihr Haar.«

Es war sozusagen die Feststellung, daß sie ein Recht darauf hatte, ihren Dienst an Jane auszuüben. Es klang sogar ein wenig rechthaberisch. Jane lachte darüber.

»Ich bin doch nicht ganz und gar Ihre Sklavin, Louise«, und schickte sie von neuem weg.

Langsam fing sie an, sich auszuziehen. Sie stand vor dem Spiegel, der in die Tür des großen Mahagonischrankes eingelassen war. Sie blickte nach oben, dorthin, wo John damals sein Versteck gefunden hatte. Und hier hatten sie nebeneinander gestanden. Wie lebhaft war noch die Erinnerung daran. Hier, auf diesem Fleck des Teppichs. Sie machte einen Schritt und stellte sich genau auf den Platz, wo sie damals gestanden hatte. Warum waren diese Augenblicke gerade in eine Stunde gefallen, wo es Schwäche, Torheit und Häßlichkeit bedeutet hätte, dem Impuls nachzugeben, von dem sie doch so erfüllt waren. Wie pfuscherhaft sprang das Leben gerade mit den Dingen um, die seinen wichtigsten Inhalt ausmachten. Wenn jetzt, jetzt, dieser Impuls in ihr lebte – wie leicht wäre dann alles.

Jetzt dachte sie doch nach, und hatte doch geschworen, es nicht zu tun! Es wäre besser gewesen, unten bei den anderen auszuharren, als sich diesen Betrachtungen auszuliefern. Sie glitt aus ihrem Rock heraus.

»In Anbetracht des Nichtvorhandenseins einer Louise«, sagte sie laut vor sich hin, als sie ihn in den Schrank hängte.

Was würde Louise denken, wenn es schließlich deutlich wurde, daß Jane ein Kind bekommen sollte? Was würden alle anderen denken? Würden sie es glauben, nach soviel Jahren? War es das, was John meinte? Sie dachte an Nelson und Lady Hamilton, die miteinander ein Kind gehabt und es vor der Welt verleugnet hatten. Wie hatten sie es nur zuwege gebracht?

Hatte wirklich John das gewollt?

Die Leute würden darüber reden.

Er hatte von den Dingen gesprochen, die sie heute nacht miteinander zu besprechen hätten. Dies war eines davon.

Sie zog sich aus und ging ins Badezimmer. Louise trieb sich wartend auf dem Flur herum. Jane fragte nach der Zeit. Es war halb zehn. So lange, so unendlich lange war sie auf ihrem Zimmer und jetzt stellte es sich heraus, daß es nur eine halbe Stunde gewesen war. Das Bad – dann das Haarbürsten. Wenn es vorbei war, war es immer erst zehn Uhr. Dann immer noch zwei Stunden.

»Gehen Sie zu Bett, Louise«, sagte sie.

»Ich habe nur gewartet, gnädige Frau, um ...«

»Jawohl, es ist schon gut. Sie brauchen nicht zu warten.«

Louise verschwand in dem Gang, der zu ihrem eigenen Zimmer führte. Wie leicht wäre das Ganze, wenn man mit allen so umspringen könnte wie mit Louise. Jane blieb einen Moment am Geländer stehen und horchte auf die Stimmen unten.

Was für unkomplizierte Wesen waren doch die Männer. Sie hörte einen unten lachen. Was sie dachten. Was sie alles erwarteten. »Er für Gott allein, sie für Gott in ihm.« Wer hatte es gesagt? Oder geschrieben? Nur ein Mann war fähig, so etwas zu schreiben. Sie drehte sich um und ging ins Badezimmer.

Dort hing ein kleiner Spiegel an der Wand. Kein großer. Ersichtlich hatten die Leute, denen dieses Haus früher gehörte, dem nackten menschlichen Körper gegenüber den üblichen konventionellen Ansichten gehuldigt. Sie konnte über solche Dinge höchst frivole Äußerungen tun. Sie konnte Dicky damit zum Lachen bringen. Würde sie nach dieser Nacht jemals wieder versuchen, Dicky zum Lachen zu bringen?

Sie ließ ihren Schlafrock herabgleiten, betrachtete ihren Kopf und die Linien ihrer nackten Schultern in dem Spiegel. War es das, war es das allein, was John an ihr liebte? Wäre es so gewesen, sie wäre jetzt längst schon unwiderruflich die Seine gewesen, das wußte sie. Daß es anders war, das war, was ihn von Draper unterschied. Und wie gewaltig war der Unterschied. Und die anderen? Dicky. Der Priester. Es war überwältigend, daran zu denken, daß es so verschiedene Männer auf der Welt gab. Und daß doch im Grunde sie alle dieselben waren.

Sie hatte Angst davor, heute nacht zu John zu gehen. Aber sie hatte es versprochen.

»Ich habe es versprochen«, sagte sie und zerbrach um sich herum den Spiegel des Wassers mit den Händen. Sie brachte Lärm und Bewegung in das Wasser, um alle Gedanken darin zu ertränken. Sie hantierte wie ein Kind, das in seinem Bad spielt. Ihre Lippen zitterten.

Es war beinah zehn Uhr, als sie in den Stuhl vor ihrem Toilettentisch zurückkehrte und ihre Bürste in die Hand nahm. Die Männer kamen die Treppe herauf, um ins Bett zu gehen. Sie saß da, die Bürste in der halb erhobenen Hand. Sie horchte hinaus.

Würde Dicky hereinkommen? Sie hörte ihn sprechen. Seine Stimme war gedämpft. Er nahm auf ihre Ruhe Rücksicht. Trotzdem mußte er doch wissen, daß sie noch nicht schlief. Wie oft war er hereingekommen, weil der Lichtschimmer unter der Tür ihm verraten hatte, daß sie noch wach war. Wenn er jetzt hereinkam, hätte sie es wie einen Versuch empfunden, ihre Geheimnisse zu erspähen, sie zu belauern. Nicht zu ertragen! Als sie seine Schritte in dem Gang verhallen hörte, der zu seinem Zimmer führte, war es wie ein neuer Beweis seiner Vornehmheit. Sie hob die Hand, die auf halbem Wege gezögert hatte, und fing an, ihr Haar zu bürsten – zu bürsten – zu bürsten.

Sie war im Begriff, ihr Haar in zwei lange Zöpfe zu flechten wie jede Nacht vor dem Zubettgehen, da kam es ihr zu Bewußtsein, daß es heute verlorene Zeit war. Sie mußte ja noch ausgehen. Noch ein und eine halbe Stunde, dann war sie nicht mehr hier im Zimmer. Sie rückte die Kerze näher an den Spiegel und frisierte sich, peinlich sorgfältig. Niemals hatte selbst Louise sie so sorgfältig frisiert. Solange es dauerte, war sie ganz davon in Anspruch genommen. Als sie fertig war, warf sie einen prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild. John hatte dieses Haar geküßt.

Es war der erste friedvolle Gedanke, seit sie in ihr Zimmer heraufgekommen war. Er hatte ihr Haar geküßt. In diesem Augenblick kehrte die Wärme, der Jubel, die Innigkeit wieder in ihr Gedächtnis zurück, mit: der er sie geküßt hatte. Ihr Herz schlug schneller. Wenn er jetzt hier bei ihr wäre! Warum war er nicht hier?

Sie nahm ihr Buch und ging ins Bett. Eine Stunde mußte sie noch mit Lesen herumzubringen suchen, ehe sie wieder aufstand, um sich anzuziehen.

In einer Stunde würde sie bei ihm sein! Sie sah ihn vor sich, wie er wartete, irgendwo auf sie wartete, wie sie hier im Bett saß und wartete. Und nun war es leicht, auch sein Gesicht heraufzubeschwören. Das Haar, das ihm immer in die Stirn fiel, die schwarzen, brennenden Augen und der Zug um seinen Mund, den sie seit dem Tag zu beobachten gelernt hatte, wo er von seinem Hungerstreik im Gefängnis erzählt hatte, und der für ihre Augen nie verschwand. Hatte sie je begriffen, was der Zug bedeutete? Wenn sie es nie vorher begriffen hatte, jetzt begriff sie es. Sie sah ihn so deutlich vor sich. Es war der ungestillte Hunger nach dem Leben. Nicht Brot, nicht Fleisch, nicht Wein war, was ihm not tat, wonach ihn hungerte, sondern sie – und nicht so sehr ihr Körper, sondern ihr ganzes Wesen. Nach dieser Nacht gehörte sie nicht mehr Dicky und nicht mehr sich selbst – nur noch ihm allein. Durfte sie wagen, den Gedanken noch einen Augenblick länger bei sich zu dulden? Sie wußte, wenn sie es zuließ, hatte sie nicht die Kraft, zu gehen. In der Panik, die sie plötzlich überkam, empfand sie das Bedürfnis, irgend etwas zu tun, ihre Hände irgendwie zu beschäftigen. Sie warf die Decke zurück und glitt aus dem Bett. Ihre Uhr lag auf dem Toilettentisch. Es war ein Viertel nach elf. Sie holte die Sachen heraus, die sie anziehen wollte, und legte sie mit umständlicher Sorgfalt, wie Louise es zu tun pflegte, umständlicher noch, auf einem Stuhl zurecht.

»Ich habe es versprochen!« sagte sie und sagte es wieder und wieder, während sie von Schublade zu Schublade ging.

Sie fürchtete, einem Entschluß näherzukommen, der noch ungeformt in ihr schlummerte, und der darauf hinauslief, daß sie nicht gehen würde. Und das war doch nicht wahr! Sie ging. Sie hatte sich ja schon gehen sehen, sie hatte die Stelle in den Klippen schon vor sich gesehen, wo sie sich treffen sollten. Freilich, es gab einen Unterschied: man mußte auch von dort zurückkommen und dieses Zurückkommen hatte sie bisher noch nicht gesehen. Dieses große Zimmer, in dem sie jetzt saß, im grauen Morgenlicht und eine andere Frau – nicht mehr die Frau, die sie jetzt war, als die sie sich jetzt kannte – die sich verstohlen in ihr Bett zurückschlich. Sie atmete tief auf und fuhr mechanisch mit ihrer Beschäftigung fort.

Jedes Stück, das sie anziehen mußte, lag nun bereit. Sie trat an das Fenster und öffnete es ein wenig mehr. Ihre Lippen zitterten von neuem, und wie sie dastand, rollte eine Träne über ihre Wange und zersprang wie ein Quecksilbertropfen auf ihrem bloßen Arm.

Sie hatte es vor sich nicht ausgesprochen. Ihr Inneres hatte den Entschluß zu keinem Wort geformt, aber sie wußte jetzt, wie sie dastand und nach dem Himmel und dem matten Schimmer des Meeres hinaussah, daß sie nicht im Begriff war, zu gehen.

Es war kein bewußtes Wissen, kein klar umrissener Entschluß, denn nachdem sie eine Weile dagestanden hatte, kam sie an den Toilettentisch zurück und sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach halb. Bis sie angezogen war und sich zu dem Platz hingefunden hatte, wo sie sich treffen wollten, mußte es Mitternacht sein.

Sie ergriff das erste Kleidungsstück, das ihr zur Hand lag. Ihr Atem ging ein wenig schwer, aber es kamen keine Tränen. Sie hatte die hübschesten Dinge bereitgelegt, die sie besaß. Eines nach dem anderen legte sie sich an. Und die ganze Zeit, während sie Bänder knüpfte und Träger auf der Schulter zurechtschob, sah sie sich in seinen Armen, obwohl sie ganz genau wußte, daß sie nicht im Begriff war, zu gehen.

Er hatte ihr Haar geküßt. Sie benetzte ihre Finger mit ihrem Lieblingsparfüm und berührte damit die Stelle, die er geküßt hatte. Sie sah in den Spiegel. Ihre Wangen waren schrecklich bleich. Würde er im Mondschein erkennen, wie bleich sie war? Sie wandte sich vom Spiegel weg und blies die Kerzen auf dem Toilettentisch aus. Sie ging zum Bett hinüber und blies die Kerzen auf dem Nachttisch aus. Ein schräger Mondstrahl fiel durch das Fenster und zeichnete silbergraue Flecke auf den Boden. Sie kehrte zu dem offenen Fenster zurück und beugte sich hinaus. Und dann sagte sie es auch:

»Ich gehe nicht!«

Und jetzt wußte sie es auch.

Sie würde nicht gehen. Und sie erklärte ihm warum. Und sie erklärte sich selbst warum. Und sie erklärte es, mit sich selbst sprechend, der ganzen Welt. Zweimal hätte er sie nehmen können. Sie war sein. Damals war sie sein, aber dies jetzt hieße alles zerstören. Sie hatte gespürt, daß sie Angst davor hatte. Sie wußte jetzt, warum sie Angst davor hatte. Sie glaubte aufrichtig, daß sie um seinetwillen diese Angst genau so gut empfand, wie um ihrer selbst willen. Sie glaubte, daß sie auch um Dickys willen Angst empfand.

Und nun gab sie auch die angestaute Flut der Bilder frei, die ihr Wille bis jetzt zurückgedrängt hatte. Sie sah sich und John darum kämpfen, ihre Liebe vor neugierigen Augen zu behüten, das ganze Aufgebot niederziehender trivialer Lügen. Sie sah, wie das Geheimnis dann doch ans Licht kam und sie zur Flucht zwang. Sie sah John aus Irland verbannt und den Haufen Steine, unter denen sein Herz begraben liegen würde, und sie sah, wie er nach Jahren sich zurückstahl – ohne sie. Und so würde es enden. Eine wundervolle Frau – wie weit noch wundervoll dann? – Nach diesen Jahren? Und der einsame Weg. Es war deutlich. Kein Nebel verhüllte es.

Das war die ganze Geschichte dessen, was kommen mußte. Und trotzdem wußte sie, eine Frau, der wirklich großer Mut zu eigen war, die sich dem Schicksal gewachsen fühlte, hätte all das nicht gesehen oder hätte es, selbst wenn sie es gesehen hätte, ohne Besinnen beiseitegeschoben.

Es war bitter, es zu wissen, schien Hohn des Schicksals, es sich sagen zu müssen. All das, was nicht geschehen konnte, jetzt, wo sie allein der Triebkraft ihrer Seele gehorchen konnte, es hätte geschehen können zu einer Zeit, wo sie fähig war, nur der Triebkraft der Leidenschaft zu gehorchen.

Sie lehnte sich an das Fenster und in der langen Zeit, die sie da blieb, folgten ihre Augen immer wieder der Linie der Klippen da hinaus, wo, wie sie wußte, er stand und auf sie wartete.

Würde er sie verstehen? Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß er verstehen würde. Denn damit konnte dies alles nicht enden. Vielleicht kam wieder die Zeit, wo für sie: wiederum nur noch die Leidenschaft Stimme hatte. Sie haschte nach diesem Gedanken, preßte ihn an sich wie ein kostbares Gut. Vielleicht später kam wieder der Augenblick, wo wieder dies Gefühl übermächtig war, daß das Schicksal es so wollte – wo sie beide unfähig waren, dem Rufe des Schicksals Widerstand zu leisten.

Wie oft war, während sie dastand, das Meer gegen die Felsen angelaufen? Es mußte tausendmal gewesen sein.

Sie richtete sich auf und merkte da erst, wie steif und schmerzend vor Müdigkeit ihre Glieder geworden waren.

Sie sah wieder nach ihrer Uhr. Es war fast eins. Fast eine Stunde hatte sie da am Fenster gestanden. Sie zündete die Kerze an ihrem Bett an. Langsam fing sie an, ihre Kleider abzulegen. Das Lächerliche, das unter der Tragödie steckte, griff ihr weh ans Herz. Es war wie die Umkehrung eines Trauerspiels; nicht, was die Helden auf den Brettern litten, erregte das Mitgefühl, sondern wie die Schauspieler mit ihren Rollen kämpften.

Und dann, als sie wieder ihr Nachthemd über die Schultern streifte, fühlte sie, wie plötzlich die Vorhänge hinter ihr bebten und ein eisiger Windstoß über sie hinblies.

Er war in ihr Zimmer eingebrochen und über sie hingefegt. Die Kerze auf ihrem Nachttisch flackerte unruhig. Sie hätte sich einbilden können, sie höre, wie dieser Windstoß körperlich durch das Zimmer ging. Und sie bebte haltlos, noch als er längst vorbei war.


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