Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Jane wußte nicht, wann und wie sie in ihr Bett gekommen war. Der Schlaf hatte sich trennend zwischen sie und John gestellt, den ganzen langen Heimweg über. Schlaf schob sich wie eine trennende Scheidewand zwischen sie und das lebendige Bewußtsein seiner Gegenwart wie alles dessen, was er gesagt, und was in diesen Stunden geschehen war.

Mit einer Anwandlung von Humor, die ihre Müdigkeit gequält und schmerzhaft machte, sagte sie zu ihm:

»Kämpfen muß eigentlich ein recht gesunder Sport sein. Nicht, als ob ich mich für sachkundig halten könnte, aber sage: wird man immer so schläfrig davon?«

Die kleine Prahlerei, die darin lag, war ihr irgendwie Bedürfnis. Ihre Erschöpfung war so gewaltig, daß sie etwas brauchte, um sich gegen das allzu Pathetische zu schützen. Es war eine Geste, wie es eine Geste gewesen war, als er sie auf die Arme hob und zum Wagen trug. Als sie zu ihm aufsah, mit einem kleinen Lächeln, das schwach und hilflos in ihrem Blicke flackerte, nahm er ihren schlafschweren Körper erneut in die Arme und preßte sie sanft an sich.

»Morgen nacht sollst du schlafen,« murmelte er, »und ich werde dich wecken, ehe es dämmert.«

Sie nahm seine Hand in ihre Hände und wiederholte es:

»Morgen nacht,« und dann »vierundzwanzig Stunden!« sagte sie, als wären diese vierundzwanzig Stunden ebenso viele Jahre.

Die erste Röte der aufgehenden Sonne war schon in dünnen Farben über den Himmel gehaucht, als sie sich zur Tür wandte. Sein Blick konnte sich nicht von ihr losreißen. Sie war so wunderbar schön, auch in ihrer Müdigkeit. Ihre Augen, als sie dort oben stand und zu ihm herabsah, fielen beinahe zu. Ein schwaches Lächeln huschte wie ein mattes Licht über ihr Gesicht, und dann war sie im Haus verschwunden. Die Tür schloß sich geräuschlos. Er horchte. Er konnte ihre Schritte drin nicht hören und machte sich wieder auf den Weg.

Sie wehrte sich gegen das Aufwachen, als Louise ihr den Tee auf das Zimmer brachte. Es war, als hasse sie das Tageslicht. Es war etwas geschehen, und das erste Gefühl, das sie beim Aufwachen empfand, war eine Scheu davor, sich daran zu erinnern. Sie schickte Louise wieder weg; erklärte, sie wünsche ihr Frühstück erst dann zu haben, wenn sie danach läute.

Jane versuchte, wieder Schlaf zu finden. Aber er war entflohen, wie ein Vogel, der seinem Käfig entflattert ist. Es war keine Möglichkeit, ihn wieder einzufangen. Sie lag mit offenen Augen da und starrte das Rosenspalier der Tapete an. Welch abscheuliches Muster! Es gab anscheinend Leute, die niemals den Wunsch nach Ruhe empfanden.

Was war geschehen? Augenblick um Augenblick stellte sich wieder ein, lebendig, frisch, und wartete, bis ihr Blick auf ihn fiel. Der ferne Lichtschein, der durch die Bäume wanderte. Wie sie mit John die Straße hinunterrannte. Die nicht endenwollende Zeit qualvoller Spannung, bis endlich die ersten Schüsse fielen. Alles, was dann kam, bis zu dem Todesschrei, verschwamm in einer Verworrenheit von Geräuschen und Bildern. John hatte ihr nicht erzählt, was sich bei dem Zusammenstoß ereignet hatte. Auf dem ganzen Nachhausewege hatte er das Thema bewußt gemieden. Und sie hatte keine Fragen gestellt. Jetzt wußte sie, warum sie sich gewehrt hatte, aufzuwachen, warum sie gegen den neuen Tag eine solche innere Scheu empfand. Sie verstand. Nach dieser Nacht in den Klippen würde sie ein Kind von ihm tragen.

Wie er, nahm sie als selbstverständlich an, daß es so kam. Es schien so vorbestimmt, das Ziel, zu dem der Weg des Schicksals führte. Eine großartige Vorstellung, hatte John gesagt. Vorstellung? Es bedeutete so viel mehr. Jetzt, hier, wie sie dalag, das Gesicht in den Kissen vergraben, schien es das zu sein, was allein dem Ablauf der Geschehnisse Bedeutung und Vollendung gab.

Warum erfüllte es sie dann nicht mit Freude? Vielleicht war es doch der Fall. Sie wußte es nicht. Diese unaufhörlichen Rosen auf dem endlosen Spalier. Wie abscheulich sie waren. Sie vergrub ihren Kopf noch tiefer in die Kissen und fand, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie hätte nicht sagen können, warum. Es mochte das Übermaß der Freude sein. Oder war es Entsetzen?

Es klopfte an die Tür. Sie gab keine Antwort. Das Klopfen wurde wiederholt. Sie fragte, wer da sei. Statt einer Antwort öffnete sich die Tür, und Stephen trat herein. Ohne sich nach ihm umzudrehen, wußte sie, wie er jetzt hinter ihr im Türrahmen stand. Die charakteristische Haltung, bei der er das Gewicht seines Körpers nach einer Seite hin verschob, während er mit rätselhafter Geduld nach ihr hinübersah und den Türgriff in der Hand hielt, bis er sicher wußte, ob er willkommen war oder nicht.

»Louise sagt, du würdest nicht zum Frühstück hinunterkommen?«

Ihre Stimme erklärte ihm aus den Kissen heraus, daß sie im Bett frühstücken werde.

»Kann ich nichts für dich tun?«

»Nichts.«

Sie wünschte brennend, daß er ging. Was sie jetzt auch sagte, was sie tat, es schien ihr bestimmt, ihm weh zu tun.

»Kümmere dich nicht um mich, Dicky. Ich bin wohlauf. Ich habe nichts weiter als das Bedürfnis, ein bißchen allein zu sein. Ich werde mir gleich das Frühstück heraufkommen lassen und denke, ich werde zum Lunch schon auf sein.«

Sie wartete darauf, daß die Tür sich endlich schloß. Sie wollte sich nicht umwenden. Noch waren ihre Augen voll von Tränen. Um keinen Preis der Welt wollte sie ihn diese Tränen sehen lassen. Warum schloß er nicht endlich die Tür? Was hatte er nur davon, dort zu stehen und ihren Hinterkopf zu betrachten, der in den Kissen fast begraben war?

Denn er war immer noch nicht gegangen. Das wußte sie ganz genau. Selbst bei Louise, so leise sie verfuhr, war es immerhin hörbar, wenn sie die Tür schloß.

»Warum stehst du da noch, Dicky?« fragte sie aus ihren Kissen heraus.

Er betrachtete ihre Schuhe, die vor dem Bett auf dem Boden lagen. Alle ihre Kleider hatte sie, als sie am Morgen heimkam, sorgfältig weggehängt. Die Schuhe hatte sie vergessen. Einer war umgefallen und lag auf der Seite. Beide waren mit Schmutz bespritzt.

»Nichts, Liebes«, sagte er. »Nur bin ich so besorgt um dich. Ich bin ein bißchen ratlos. Kann ich wirklich gar nichts für dich tun?«

Sie versicherte mit leidenschaftlichem Nachdruck, daß sie nichts brauche, und er zog sich zurück. Wieder schloß sich die Tür, und sie war allein. Jetzt besaß sie die Einsamkeit, die sie so dringend gewünscht hatte, und seit sie sie besaß, hatte sie Angst davor.

Sie empfand plötzlich ihr Bett wie eine Gruft. Es war ihr unerträglich heiß. Sie richtete sich auf und stopfte sich die Kissen als Stütze in den Rücken. Ihre Wangen waren noch naß von Tränen. Sie dachte noch nicht einmal daran, sie wegzuwischen. Sie wollte nicht denken – jetzt nicht. Dazu war immer noch Zeit. Sie rechnete an den Fingern ab. Von diesen vierundzwanzig Stunden waren jetzt sechs vergangen. Noch immer blieben Stunden und Stunden übrig.

Sie hatte versprochen. Sie sagte es sich laut vor.

»Ich habe versprochen!«

Sie tat es nicht, um sich zu überzeugen, sie tat es, weil sie glaubte, sie sei froh darüber. Heute nacht würden sie über alles reden. Was hatte alles Nachdenken für einen Zweck, bis zwischen ihnen alles gesagt war, was gesagt werden mußte. Sie weigerte sich ganz einfach, zu denken.

Ihr Taschentuch lag unter den Kissen. Sie suchte es heraus und trocknete ihre Augen. Es war zehn Uhr. Sie läutete nach ihrem Frühstück. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, einsam hier zu sitzen und die Rosengehänge der Tapete anzustarren. Selbst Vater Hanrahans Gesellschaft war dem vorzuziehen. Aber sie hatte Draper als denjenigen bestimmt, der sie beschäftigen und ablenken sollte. Sein ruhiger Humor, seine treffende Art verhießen ihr in ihrem Zustand willkommene Zerstreuung. Einzig vor Stephen empfand sie Angst. Aber sie wußte, wie sie ihm aus dem Weg gehen konnte. Er hatte niemals Neigung gezeigt, sich aufzudrängen und einzumischen. Mit plötzlicher Gereiztheit ärgerte sie sich darüber, daß ihr erstes Klingelzeichen nicht sofort beantwortet worden war, und läutete wieder. Eine Sekunde später erschien Louise mit ihrem Frühstück.

Es war bezeichnend für Louise, daß sie natürlich gleich die Schuhe entdecken mußte. Lächerlich, daß sie, Jane, diese Kleinigkeit vergessen hatte. Wurden nicht auf diese Art Verbrecher entdeckt? Irgendeine kleine Vergeßlichkeit verriet sie. So? Mit Schmutz bedeckt waren die Schuhe? So, so?!

»Wenn Sie sich ein klein bißchen Mühe gegeben hätten, Louise, hätten Sie diese Schuhe schon gestern abend hier entdecken können«, sagte sie. »Sie lagen da. Ich war gestern abend, vor dem Zubettgehen, noch ein paar Schritte im Garten.«

»Lagen da, gnädige Frau?«

»Jawohl, da – nur daß Sie nicht die Augen aufgemacht haben, Louise.«

»Aber ich habe mich doch im ganzen Zimmer umgesehen, gnädige Frau, ehe ich gestern zu Bett gegangen bin.«

»Sie hatten Ihren Sergeanten im Kopf, Louise.«

Was sie auch sonst im Kopf haben mochte, jedenfalls konzentrierten sich, dank dieser Bemerkung, Louises Gedanken auf ihren Sergeanten, so daß sie die Schuhe vergaß.

Jane gab ihr Weisung, welche Kleider herausgelegt werden sollten. Sie spielte appetitlos mit ihrem Frühstück und erklärte, damit fertig zu sein, ehe noch Louise mit ihrer Arbeit zu Ende gekommen war.

Als sie angezogen war und von ihrem Schlafzimmer herunterkam, war das Wetter bereits wieder herrlich. Der Priester war allein nach Ardmore hinübergegangen.

»Warum allein?« fragte sie, »warum bist du nicht mitgegangen, Dicky?«

»Er sagte, es hätte dort jemand den Wunsch, ihn zu sehen.«

»Den Wunsch, ihn zu sehen? Es gibt doch sonderbare Leute auf der Welt!« sagte sie mit übertrieben scherzhaftem Erstaunen.

Es war, wie sie entdeckte, eine neue Stimmung über sie gekommen. Sie fand sich kampflustig und frivol gelaunt. Sie reichte Stephen die Wangen zum Kuß.

»Es gehört schon ein eigentümlicher Geschmack dazu, um nach unserem Vater Hanrahan besondere Sehnsucht zu empfinden«, sagte sie mit einer leichten Grimasse, in dem Augenblick, wo Stephens Lippen sie berührten. Sie lachte. Draper stand als interessierter Zuschauer daneben.

Weder Stephen noch Draper schienen sie wiederzuerkennen. Sie selbst erkannte sich nicht wieder. Frauen haben eine Gabe, sich in mehrere Persönlichkeiten zu zerspalten, die ihnen automatisch zur Verfügung stehen, und so führte sie ihnen ein Frauenwesen vor, daß sie verblüffte und in Atem hielt.

Dieser Mummenschanz, den ihr der Instinkt eingegeben hatte, setzte sie in den Stand, Stephen aus dem Weg zu gehen, dem Stephen wenigstens, dem zu begegnen sie Angst hatte. Es wurde Mittag, das Lunch ging vorbei, und es war ihr gelungen, nicht einmal daran zu denken, wie die Stunden bis Mitternacht weniger und weniger wurden. Als Draper tastend einen Spaziergang nach Whitingbay hinunter vorschlug, um einen Blick auf die Candida zu werfen, die jetzt im Hafen von Youghal lag, stimmte sie mit einem Eifer zu, der ihn überraschte.


 << zurück weiter >>